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Zwischen Hammer und Amboss

Dass tiefe Inflationsraten Stabilität garantieren, entspricht einem Vexierbild der Notenbanker. Das Gegenteil ist der Fall.

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Wer vor Jahresfrist einen «Giacometti» in die Küchenschublade verramscht und seither dort liegen gelassen hat, darf sich bei dessen Wiederauffinden doppelt freuen. Der blaue Schein hat innerhalb von zwölf Monaten nur marginal, das heisst 60 Rappen, an Wert eingebüsst. Welcher Investor konnte sein Finanzportefeuille im Vergleichszeitraum stabiler erhalten? Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik (BfS) ist die Jahresteuerung in der Schweiz im Jahr 2002 mit durchschnittlich 0,6 Prozent auf den tiefsten Stand seit vier Jahren gesunken. Auch wenn sich über die Erhebungsmethode des Konsumentenpreisindex streiten lässt, weist das Teuerungsbarometer doch in eine nicht ungefährliche Richtung: Zwischen Rorschach und Genf herrscht heute nahezu Preisstabilität. In einem solchen Umfeld über Inflationsgefahren zu lamentieren, hiesse Eulen in den Wald tragen. Was uns in steigendem Mass beschäftigen muss, ist die reale Gefahr einer Minusteuerung, das heisst ein Rückgang der Preise auf breiter Front. Es scheint fast so, als hätten sich die entfesselten globalen Finanz- und Gütermärkte gegen die Notenbanken der westlichen Hemisphäre verschworen. Zwölfmal in Folge hat die US-Zentralbank die Dollarleitzinsen seit dem Platzen der New-Economy-Blase bereits reduziert, von 6,5 auf aktuell 1,25 Prozent. Mit anderen Worten: Die amerikanische Wirtschaft schwimmt heute gewissermassen im Geld. Und trotzdem haben sich die relevanten Teuerungsindizes über die letzten zwölf Monate hinweg nur um bescheidene 0,8 Prozent erhöht. Während die amerikanischen Haushalte für gewisse Dienstleistungen derzeit etwas tiefer in die Tasche greifen müssen als vor Jahresfrist, sind zahlreiche Verbrauchsgüter zwischenzeitlich billiger geworden. In der Schweiz sieht es nicht viel anders aus: In exzessiver Manier hat die Nationalbank die Geldschleusen vor zwei Jahren geöffnet und die Zinsen seither immerhin sechsmal um insgesamt 2,75 Prozentpunkte nach unten gedrückt (das Zielband der SNB liegt momentan zwischen 0,25 und 1,25 Prozent). Zwar ist es manch helvetischem Anbieter dank administrierten Preisen und kartellistischen Absprachen noch immer möglich, höhere Tarife zu überwälzen. Bei wichtigen Gütergruppen wie zum Beispiel Nahrungsmitteln, Kleidern, Wohnungseinrichtungen, Elektronikartikeln und PC-Ausrüstungen sowie Zubehör bilden sich die marktfähigen Preise derweil auch hier zu Lande kontinuierlich zurück. Perplex müssen die Währungshüter realisieren, dass ihre während Jahrzehnten gültige Gleichung «geringe Teuerung gleich Stabilität» zusehends ins Wanken gerät. Angesichts einer erheblichen Volatilitätszunahme bei Aktien, Bonds und anderen Vermögenswerten liegt heute vielmehr der Umkehrschluss nahe: Geringe Inflationsraten bürgen nicht für Stabilität an den Finanz- und Immobilienmärkten. Im Gegenteil. Solange die Inflationsraten niedrig und die Wachstumskräfte bescheiden sind, neigen die Währungshüter dazu, Ausmass und Tempo der Kreditexpansion zu ignorieren. Früher sorgten explizite Geldmengenziele immerhin dafür, dass sich die umlaufende Liquidität langfristig in einem plausiblen Rahmen bewegte. Seit die Finanzströme jedoch weltweit liberalisiert wurden und die westlichen Zentralbanken die Geldmengensteuerung zu Gunsten kurzfristiger Inflationsziele aufgegeben haben, scheinen die Dämme der Liquiditätsschöpfung endgültig gebrochen. Fatal wirkt sich die Fixierung der Notenbanker auf die kurzfristige Preisstabilität insofern aus, als dies leicht dazu führen kann, dass Warnsignale für andernorts drohende Instabilitäten zu wenig ernst genommen oder schlicht übersehen werden. Symptomatisch hierfür sind der so genannte «irrationale Überschwang» an der Börse oder die Möglichkeit einer ähnlichen, noch bevorstehenden Entwicklung im Immobiliensektor. Von der Geldpolitik ist in einer solchen Situation nicht mehr viel zu erwarten. Da die Zentralbanken ihr Hauptaugenmerk auf kurzfristige Inflationsrisiken richten und ihr Geldangebot in den letzten Jahren entsprechend grosszügig war, bleibt in einer rezessiven Phase wenig Raum für weitere Lockerungsmassnahmen. Bezogen auf die Möglichkeit, dass sich der gegenwärtig zu beobachtende Boom im amerikanischen Immobiliensektor als Blase entpuppt, hiesse das: Je tiefer die Inflationsraten notieren, desto stärker müssen die absoluten Hauspreise dereinst fallen, um den Markt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Besonders ungemütlich wird die Situation, wenn ein flüchtiger Aufwärtstrend im Vermögensbereich mit einem markanten Anstieg des Verschuldungsniveaus einhergeht. Nicht auszumalen, was in einem solchen, im Drehbuch der US-Wirtschaftspolitik offenbar nicht vorgesehenen Fall mit Heerscharen von naiven Kreditnehmern passiert. Kollabiert die Börse oder unterliegen die Preise auf dem Häusermarkt einer scharfen Korrektur, geraten sie zwischen Hammer und Amboss.

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