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Leitartikel zu den Schweiz-EU-Verträgen

Warum ich heute ein Nein einlegen würde

Der Preis einer Annahme der Verträge mit der EU wäre aus einer Gesamtsicht zu hoch.

Markus Diem Meier

<p>Unter dem Strich ist eine Ablehnung der Verträge mit der EU mehr im Interesse der Schweiz als eine Annahme, schreibt Handelszeitung-Chefredaktor Markus Diem Meier.</p>

Unter dem Strich ist eine Ablehnung der Verträge mit der EU mehr im Interesse der Schweiz als eine Annahme, schreibt Handelszeitung-Chefredaktor Markus Diem Meier.

Paul Seewer

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Würde heute über das geplante Abkommen zwischen der Schweiz und der EU abgestimmt, würde ich ein Nein in die Urne legen. Warum, das will ich im Folgenden begründen. Generell ist es wichtig, dass die Debatte auch lange vor der eigentlichen Abstimmung breit geführt wird. Das tun wir auch innerhalb der Redaktion, wo wie im ganzen Land die Meinungen dazu geteilt sind. Der grösste Wert der kommenden Abstimmung über das Abkommen liegt darin, dass sie uns in der Schweiz zwingt, darüber nachzudenken, wer wir sind, was uns ausmacht und wie wir uns in der Welt positionieren wollen. Der Wert eines Abstimmungsresultats liegt vor allem darin, dass es dank diesem Prozess eine sehr viel höhere Legitimation geniesst, als wenn Entscheide weit weg gefällt werden, ob durch ein Parlament weit weg von der Basis oder – noch schlimmer – durch Bürokraten.

Um die Legitimation unseres Systems geht es in den Debatten um die Verträge meist nicht in erster Linie. Eher drehen sie sich um unsere wirtschaftlichen Interessen, um unsere geopolitische Position oder um beides gleichzeitig. Das Narrativ bei beidem ist weniger von Wünschenswertem geprägt, sondern mehr vom Verhindern von schlimmen Folgen: Wenn wir die neuen Verträge mit der EU nicht annehmen, wird es uns schlechter gehen, verlieren wir den Anschluss, werden wir bestraft, verlieren wir Zugang zu Ressourcen und Fachkräften, wird uns die EU piesacken, sind wir in einer auseinanderdriftenden Welt auf uns allein gestellt, verlieren wir Freunde und Sicherheit.

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Dass ein Nein auch Nachteile mit sich bringt, ist unbestritten. Jeder Entscheid hat Opportunitätskosten. Sie bestehen im Wert dessen, was man nicht mehr haben kann, wenn man sich entschieden hat. Opportunitätskosten fallen an, wenn wir das Vertragspaket ablehnen, aber auch wenn wir ihm zustimmen. Das Problem ist aber, dass wir nicht genau beziffern können, worin diese Opportunitätskosten im Fall einer Annahme oder einer Ablehnung konkret bestehen, auch wenn uns einige Studien und Hochrechnungen das Gegenteil vorgaukeln. Doch wir können mögliche Konsequenzen benennen.

Bei einer Ablehnung des Pakets drohen negative Folgen der oben genannten Art bis hin zur Möglichkeit, dass die EU alle bilateralen Verträge auflöst, wodurch die wirtschaftlichen Nachteile für uns potenziell noch grösser zu werden drohen. Die Befürworter gehen bei einer Ablehnung vom Schlimmsten aus. Die Gegner – mich eingeschlossen – halten die Folgen für bewältigbar.

Alle wirtschaftlichen Verbindungen zur Schweiz zu kappen, ist so wenig im Interesse der Europäer wie im Interesse der Schweiz. Die EU ist aussenwirtschaftlich zentral für die Schweiz. Doch Handelsbeziehungen beruhen auf gegenseitigen Interessen, auf einem Gewinn für beide Seiten. Wir stehen immerhin an vierter Stelle der Handelspartner der EU. Anders gesagt, schadet jede Strafmassnahme gegenüber der Schweiz auch Konsumenten, Beschäftigten und Unternehmen in der EU.

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Das ändert nichts daran, dass einzelne Unternehmen oder Personen durch eine Ablehnung der Verträge beziehungsweise durch die potenziellen Folgen trotzdem negativ betroffen sein werden. Die Sorgen und Berichte vonseiten der Unternehmen, ihres Managements und ihrer Beschäftigten muss man ernst nehmen. Auf die ihnen allenfalls entstehenden Nachteile bei einer Ablehnung wird man Antworten suchen müssen.

Eine Annahme hat höhere Kostenfolgen

Weniger unmittelbar sichtbar und berechenbar als die Opportunitätskosten bei einer Ablehnung der Verträge sind jene bei einer Annahme. Ich meine, dass sie die Kosten bei einer Ablehnung der Verträge deutlich übersteigen.

Im Zentrum steht hier zum einen der institutionelle Teil der Verträge, insbesondere die durch sie eingeschränkte direktdemokratische Selbstbestimmung in der Schweiz. Die Verträge sehen konkret vor, dass die Schweiz ihr Recht in den betreffenden Bereichen dynamisch an jenes der EU anpassen soll. Wir müssten es also automatisch übernehmen, ausser wir gehen aktiv dagegen vor. Zudem hat bei Unstimmigkeiten zur Auslegung der Verträge der Europäische Gerichtshof das letzte Wort.

Befürworter argumentieren, dass sich die Schweizer Bevölkerung auch über Volksabstimmungen gegen zu übernehmende gesetzliche Bestimmungen der EU wehren könne, wenn solche auf dem Radar der Politik oder der Öffentlichkeit erscheinen. Ist eine solche Abwehr von EU-Recht in der Schweiz erfolgreich, hat die EU das Recht auf Vergeltungsmassnahmen. Ein Argument der Befürworter dazu lautet, dass wir eh schon jetzt europäisches Recht aus Eigeninteresse übernehmen, weshalb sich am Ende gar nicht viel ändern würde.

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Tatsächlich aber würden wir damit eine fundamentale Wende vollziehen – weg von einem Regime, in dem unsere direktdemokratische Selbstbestimmung das Grundprinzip unseres Handelns bleibt. Neu wäre die Verpflichtung zur Anpassung das neue Grundprinzip, während direktdemokratische Abweichungen erklärungsbedürftig und grundsätzlich problematisch würden, weil immer das Damoklesschwert von Strafmassnahmen darüber schweben würde.

Unser direktdemokratischer Entscheidungsprozess würde mit diesen Regeln eine neue und schlechtere Qualität erhalten. Mit der Forderung nach Abweichungen von automatisch zu übernehmendem EU-Recht läuft man Gefahr, der Schweiz wegen dem Drohpotenzial aus Brüssel Schaden zuzufügen, und unser Bundesgericht müsste sich noch mehr als schon heute an der Rechtssetzung der Europäer ausrichten. Dabei geht es nicht um einige technische, wenig bedeutsame Detailregeln.

Von grösster Bedeutung sind mit gutem Grund die Regeln zur Zuwanderung im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit. Dass wir angesichts des demografischen Wandels und fehlender Fachkräfte im Inland auch von Zuwanderung profitieren, ist unbestritten. Genauso unbestritten sollte auch sein, dass eine unkontrollierte Zuwanderung Probleme mit sich bringt – hierbei geht es beispielsweise um den sogenannten Dichtestress oder um steigende Mieten in den Zentren. Eine überbordende Zuwanderung ist für viele mit einer Entfremdung des gewohnten Umfelds verbunden – oder sie befürchten eine Verwässerung ihrer Rechte als Schweizerin oder Schweizer in Bezug auf die Staatsbürgerschaft oder in Bezug auf Sozialversicherungsansprüche. Ein so hochpolitisches Thema der demokratischen Mitbestimmung zu entziehen, ist keine gute Idee.

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Wertvolle Parallelen zur Franken-Debatte

Das Argument der Befürworter, dass wir auch ohne die Verträge bereits viele Regeln der EU aus Eigeninteresse übernehmen, erinnert an die Debatte um das Verhältnis des Schweizer Frankens zum Euro. Weil sich die Schweizerische Nationalbank in ihrer Geldpolitik immer stark am Wechselkurs zur Gemeinschaftswährung orientiert hat, kam schon früh die Forderung auf, dass es doch einfacher und letztlich billiger wäre, den Franken gleich gänzlich an den Euro anzubinden oder ihn im Tausch für den Euro gänzlich aufzugeben. Dass wir diesen Pfad nie gegangen sind, hat sich als grosser Vorteil für die Schweiz erwiesen – auch mit Blick auf die ungelösten Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung.

Dass der Franken weiter zur Stärke neigt, ist Ausdruck des Vertrauens in unsere Institutionen und macht uns reicher. Auch hier setzt unsere Unabhängigkeit mit der Stärke des Frankens zwar Exportunternehmen im Preiswettbewerb unter Druck. Bisher hat dieser Druck unsere Exportwirtschaft aber unter dem Strich gestählt, da sie andauernd zu besseren Produkten und Effizienzverbesserungen gezwungen war.

Doch nicht nur für den Wert des Frankens hat das Vertrauen in unsere Institutionen grösste Bedeutung, sondern für die Glaubwürdigkeit der Schweiz nach aussen und innen generell. Entscheidend dafür ist die direkte Mitbestimmung der Bevölkerung bei wichtigen Fragen, wie sie kein europäisches Land kennt. Das verschafft unserem System Legitimität und Stabilität. Die direktdemokratische Mitbestimmung ist deshalb nicht nur ein politischer, sondern auch ein wirtschaftlicher Faktor von grösster Bedeutung, wie mit Blick auf das schwindende Vertrauen der Menschen in die Politik in vielen westlichen Ländern eigentlich klar sein müsste.

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Unsere Institutionen waren und sind auch Voraussetzungen für unseren wirtschaftlichen Erfolg. In Anbetracht der erwähnten um sich greifenden institutionellen Krisen ist es kaum Zufall, dass die Wirtschaftsnobelpreise der beiden letzten Jahre für Forschungen vergeben wurden, die auf die Bedeutung von inklusiven, offenen, demokratischen und liberalen Strukturen für die wirtschaftliche Entwicklung hinweisen. Auf Strukturen also, die den Erfolg der Schweiz zu erklären vermögen. Auch die Bedeutung der direkten Demokratie für die Teilhabe der Bevölkerung, für gesunde Staatsfinanzen, für eine hohe Steuermoral und für den Schutz vor staatlichem und bürokratischem Überborden ist gut erforscht.

Zu den zentralen Institutionen des schweizerischen Systems gehört auch das Bemühen darum, dass kleinere und bevölkerungsärmere Kantone nicht von den Mehrheiten in grossen Kantonen erdrückt werden. Deshalb wurde der Ständerat als dem Nationalrat gleichgestellte Vertretung der Kantone und das Ständemehr bei Volksabstimmungen in die Verfassung aufgenommen. Wenn man die Kriege und Spannungen bedenkt, die zwischen den Regionen in der Schweiz historisch bis zur Zeit der Staatsgründung vorgeherrscht haben, dann werden die Bedeutung und die Weitsicht dieser Regelung bewusst und auch ihr Anteil an der Stabilität des Schweizer Staatsgefüges. Dass Befürworter der Verträge mit der EU die Anwendung des Ständemehrs für eine Abstimmung dazu ablehnen, liefert einen weiteren Hinweis für ein Unterschätzen der Bedeutung der Institutionen der Schweiz.

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Kein Votum gegen Europa

Immerhin hat auch innerhalb der EU das Bewusstsein für die eigenen institutionellen Schwächen zugenommen. Die zentralistische institutionelle Architektur ist genauso Thema wie die Folgen eines schwindenden Vertrauens in die Politik und einer überbordenden, politisch kaum mehr kontrollierbaren Bürokratie.

Mit seinem Begriff «Hyperglobalisierung» hat der türkisch-amerikanische Ökonom Dani Rodrick bereits vor mehr als einem Jahrzehnt davor gewarnt, dass im Sinn einer zu weit gehenden supranationalen Integration die demokratische Legitimation der Nationalstaaten leiden wird. Und er hat sich dabei explizit auch auf die EU bezogen. Aus eigenem Interesse sollte Europa mehr von den Schweizer Institutionen übernehmen als wir umgekehrt von den europäischen Institutionen. Dass es dazu kommen wird, ist allerdings vorderhand wenig realistisch – schon allein, weil das Vertrauen in die Urteilskraft in die eigene Bevölkerung und der Sinn für Mitbestimmung und Liberalismus in Europa leider aus historischen Gründen keine starken Wurzeln schlagen konnten.

Die Ablehnung der Verträge bedeutet für die Schweiz weder eine Abkehr von Europa noch eine Abkehr von der Weltoffenheit, in der wir in so vieler Hinsicht herausragen. Das gilt nicht nur für die Einbettung in den Welthandel und die wirtschaftliche Bedeutung und Innovationskraft unseres kleinen Landes, es zeigt sich auch an einem für Europa einmalig hohen Ausländeranteil und einer bisher vergleichsweise sehr guten Integration.

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Natürlich sind mit der Ablehnung der Verträge die besonderen Schweizer Institutionen und unser wirtschaftlicher Erfolg nicht automatisch gesichert. In der unsicher gewordenen Welt müssen wir wieder mehr dafür tun, um unsere Stärken und unsere Freiheit zu bewahren. Doch das ist uns ohne die Verträge mit der EU besser möglich.

Über die Autoren
Markus Diem Meier

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