Abo

Uncle Sam auf dünnem Eis

Im forcierten Optimismus der Amerikaner liegt eine latente Bedrohung für die Weltwirtschaft. Kommt es an der Wall Street zu einem überraschenden Kurssturz oder verlieren unerwartet viele Arbeitnehmer ihre Stelle, droht mit der privaten Konsumnachfrage auch noch die letzte Konjunkturstütze wegzubrechen.

Werbung

Man kann den Amerikanern vieles vorwerfen – Schwarzmalerei ist ihre Sache nicht. Übertriebener Negativismus gehört zwischen Pittsburgh und San Diego nicht eben zu den verbreitetsten Lastern. Auch stehen die Yankees nicht im Ruf, unter krankhafter Selbstreflexion oder falscher Bescheidenheit zu leiden. Im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten herrscht vielmehr eine Kultur der permanenten Zuversicht. Nicht einmal Schreckensereignisse wie diejenigen vom letzten September vermögen in einem solchen Umfeld anhaltende Zukunftsängste oder Zweifel an der Nachhaltigkeit des herrschenden Wirtschaftsklimas auszulösen.

Die Amerikaner sind unverbesserliche Optimisten und derart imprägniert gegen Griesgram, Kulturpessimismus und Krittelei, dass zuweilen eher die Gefahr einseitig positiver Überzeichnung droht. In der ökonomischen Zunft jedenfalls mehren sich derzeit die Stimmen, die vor einer Perpetuierung des amerikanischen Hoffungsprinzips warnen. Könnte es sein, dass uns der rosa Schimmer am Konjunkturhorizont insofern in die Irre führt, als es sich dabei nicht etwa um die herbeigesehnte Morgenröte handelt, sondern bloss um ein temporäres Wetterleuchten vor dem nächsten Gewittersturm?

Die Gefahr, dass die zweite Möglichkeit eintritt und sich die Hoffnung auf einen raschen und kräftigen Wiederaufschwung als Illusion entpuppt, ist nicht von der Hand zu weisen. Die in den Neunzigerjahren mit Abstand zugkräftigste Ökonomie der Welt weist gegenwärtig eine Reihe von bedrohlichen Spannungszonen auf, Ungleichgewichten, die sich auf lange Sicht unmöglich halten lassen. Dazu gehören etwa die sich akzentuierende Schieflage im Staatshaushalt und ein Loch in der US-Leistungsbilanz, das – bei tendenziell rückläufigen Kapitalimporten – einen Nettozufluss aus dem Ausland von derzeit rund 1,3 Milliarden Dollar pro Tag bedingt. Da zu befürchten steht, dass die Amerikaner nicht im Stande sein werden, ihren Appetit auf ausländische Produkte und Dienstleistungen aus eigenem Antrieb zu zügeln, bleibt zur Beseitigung der schwelenden Diskrepanz letztlich nur der Ausweg einer drastischen Dollarabwertung. Schwer zu glauben, aber wahr: In diesem Punkt unterscheidet sich die globale Leitökonomie in keiner Weise von einem krisengeschüttelten Land wie Argentinien.

Wie die Argentinier leben auch die Amis auf Pump, mit dem einzigen Unterschied, dass Letztere weltweit noch immer als aussergewöhnlich kreditwürdig gelten. Nimmt man zum Beispiel die ungebrochen hohen Konsumausgaben der US-Haushalte zum Gradmesser, so scheinen viele der amerikanischen Neuwagenfahrer und Häuslebauer tatsächlich noch immer an eine Rückkehr auf den Wachstumspfad der Neunzigerjahre zu glauben. Mit durchschnittlich 14 Prozent notiert die Schuldendienstquote der US-Haushalte (Zins- und Tilgungszahlungen im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen) gegenwärtig nur wenig unterhalb des Höchststandes von Mitte der Achtzigerjahre.

Dass die hohe und weiter steigende Schuldenlast der amerikanischen Privathaushalte wie ein Damoklesschwert über der Weltkonjunktur hängt, macht die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt deutlich. Unerwartet rasant ist die US-Arbeitslosenquote im April auf sechs Prozent emporgeschnellt, was der alles dominierenden Frage nach der Robustheit der privaten Konsumnachfrage zusätzliche Brisanz verschafft. Was, fragen sich heute die Portfoliomanager von London über Dubai bis Tokio, wenn es an der nach wie vor (zu) hoch bewerteten Wall Street in den kommenden Monaten zu deutlichen Wertkorrekturen kommen und sich die Geldillusion vieler Mittelstandshaushalte über Nacht in Luft auflösen sollte?

Dass der vielstimmig herbeigeredete Wiederaufschwung auf tönernen Füssen steht, wird offenkundig, wenn man auf Vorlaufindikatoren wie den Index der amerikanischen Einkaufsmanager abstützt. Verglichen mit dem Vormonat, haben die befragten Chefeinkäufer ihre Erwartungen im April wieder etwas zurückgeschraubt. Auch die amerikanischen Konsumenten haben ihren sprichwörtlichen Optimismus relativiert, womit sich die Diskrepanz zwischen Wunschdenken und Realität auch hier leicht verringert hat. Trotz Schönwetterprognosen schätzen sie ihre wirtschaftliche Zukunft neuerdings zumindest eine Spur weniger rosarot ein, ganz nach dem Motto «Vertrauen ist gut, Gewissheit ist besser».

Auch interessant

Werbung