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Schweiz im Konjunkturglück

Alle Zeichen weisen darauf hin, dass die Schweiz die derzeitigen Konjunkturtäler Europas und der USA ohne Schaden überwindet. Die Konsumentenstimmung ist nach wie vor im Hoch, und die Arbeitslosenzahlen sinken. Nur die Reallöhne steigen kaum, während die Teuerungsrate und die Ausgaben für Sozialversicherungen überdurchschnittlich wachsen.

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Die Schweizer Konjunktur gibt sich einmal mehr amerikanisch, nicht europäisch. Wie in den USA kaufen die Konsumenten stetig ein, wandern laufend neue Arbeitskräfte zu, sinken die Arbeitslosenzahlen, sinken die Zinsen und senkt der Staat die Steuern. Aus den Statistiken und Kennzahlen droht zwar auch der Schweiz ein leichter Abschwung, doch die reale Wirtschaft schert sich nicht darum. Im übrigen Europa dagegen stockt das Wachstum bei den nur allzu greifbaren Fakten: weniger produzierte Autos, wieder mehr Arbeitslose, und die Preise nehmen den Lift.

Die Konsumentenstimmung in der Schweiz hält sich unverbrüchlich auf höchstem Niveau. Der Laie fragt sich zwar, wie man diese Seelenlage ausmisst. Die Statistiker des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) peilen diese knifflige Frage unter fünf Aspekten an. 1000 Haushalte werden vierteljährlich am Telefon gefragt, ob sie die Arbeitsplätze als sicher einstufen, ob sie höhere Preise erwarten, ob sie die Wirtschaftslage als gut ansehen, ob sie gegenwärtig sparen können oder Schulden machen und ob sie grössere Anschaffungen planen. So einfach ist das – und der Saldo aller Teilfragen ergibt die Kurve der «Konsumentenstimmung». In einigen Punkten dient sie als vorauslaufender Indikator, sie lässt ahnen, was die Konsumenten später tun wollen. Allerdings laufen in den USA Absicht und Ausführung ziemlich schizophren auseinander – glücklicherweise, denn seit Monaten sind die Konsumenten zwar skeptisch, geben jedoch weiterhin ihr Geld gerne aus.

Denn die reale Lage der Haushalte in den Monaten nach einer Umfrage wirkt stark auf ihr tatsächliches Verhalten ein: die Jobsicherheit, das Einkommen an erster Stelle. Diesbezüglich dürfte in der Schweiz die Ausgabenwelle weiterlaufen. In den ersten Monaten stiegen die Umsätze im Detailhandel real um 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nur bei neuen Wagen bockten die Konsumenten. Aber die Autokäufe betreffen das Ausland und bremsen die hiesige Konjunktur nicht.

Die Sicherheit der Arbeitsplätze ist in der Schweiz von den Konsumenten zu Recht so hoch wie nie seit zehn Jahren eingestuft worden. Denn innert Jahresfrist sind 60 000 neue Arbeitsplätze entstanden, und die Arbeitslosenquote fiel auf 1,6 Prozent. Das Reservoir an Arbeitskräften wird bereits wieder durch viele Ausländer ergänzt. Im Jahre 2000 nahmen die ausländischen Erwerbstätigen um 30 000 Personen zu. Dabei wurden auch noch 28 700 Ausländer eingebürgert, sodass insgesamt mehr als die gezählten 30 000 Zuzüger in den schweizerischen Arbeitsmarkt eintraten. Für den laufenden Sommer erhöhte der Bundesrat die Kontingente noch einmal: Plus 5000 neue Jahresaufenthalter und plus 6000 Kurzaufenthalter lässt er zu. In Bundesbern ist dabei die Rede von «Forschern, Kadermitarbeitern und Spezialisten», welche die schweizerische Wirtschaft brauche. Im Lande draussen werden aber eifrig Landarbeiter, Hilfsarbeiter und Ersatzkräfte für die früheren Saisonniers verlangt und angestellt. Diese Rufe wurden derart penetrant, dass der Arbeitgeberverband, nicht die Gewerkschaft, dieses Frühjahr schrieb, der Mangel billiger Arbeitskräfte sei «kein Mengen-, sondern ein Preisproblem». Bessere Löhne, so der Klartext, könnten Arbeitskräfte mobilisieren, auch aus dem Inland.

Die Löhne bilden tatsächlich die zweite Stütze der Konsumentenpsyche, und sie sind dieses Jahr stärker als viele Jahre zuvor angestiegen, nämlich um 2,9 Prozent. Diese Schätzung muss allerdings um die stark anschwellende Teuerung reduziert werden, sodass real noch etwas über ein Prozent Lohnwachstum übrig bleibt. Letztes Jahr ist der Reallohn sogar nochmals leicht gesunken. Allerdings weisen diese Raten die Veränderung der individuellen Löhne aus. Die Lohnsumme aller Arbeitenden im Lande zusammen aber nahm stärker zu, weil die erwähnten 60 000 neuen Beschäftigten ebenfalls Lohntüten nach Hause tragen. So dürfte gegenwärtig das verfügbare reale Einkommen der Volkswirtschaft um gegen zwei Prozent zunehmen, schätzen die Prognostiker. Damit ist das Wachstum solide unterlegt – die Nachfrage nach Gütern und Diensten, aber auch nach Wohnraum erhöht sich stetig.

Beim Wohnen leidet jedoch auch die Schweizer Konjunkturseele an Schizophrenie. Die steigenden Einkommen und die dank der Einwanderung zahlreicheren Einwohner sollten die Nachfrage im Wohnungsbau anheizen. Doch ging im ersten Quartal 2001 nicht nur die laufende Wohnungsproduktion um drei Prozent zurück, sondern es wurden auch ganze acht Prozent weniger Wohnungsbauten bewilligt. Diese Projekte fehlen diesen Sommer, weshalb die Bauwirtschaft vernehmlich klagt. Die zunehmende Kaufkraft der Konsumenten treibt daher gegenwärtig nicht den Bau hoch, sondern die Mietpreise. Die Mieten nahmen diesen Frühsommer gegenüber dem Vorjahr um 3,2 Prozent zu. Diese Teuerungsrate beim Wohnen hat die Schweiz schon lange nicht mehr gesehen, und zusammen mit den Öl- und Benzinpreisen stieg die Teuerungsrate auf hohe 1,8 Prozent. Eines Tages werden die verbesserten Renditen den Wohnungsbau wieder anheben, doch im Moment scheinen noch viele Investoren die Wunden aus dem Immobiliencrash der Neunzigerjahre zu lecken und abzuwarten, ob das schöne Konsumwetter anhält.

Eine andere, auch nicht verwöhnte Branche erfreut sich dagegen bester Nachfrage, der Tourismus. Schon im Frühjahr, ausser im verregneten März, strömten die Ausländer in Massen herbei, nämlich 4,5 Prozent mehr als letztes Jahr. Die Binnentouristen brachten nur wenig mehr Begeisterung fürs Skifahren oder Wandern auf: ein kleines Plus von 0,3 Prozent. Die starken angelsächsischen Währungen und die bis vor kurzem noch wachsende europäische Wirtschaft besorgten den Schweizer Hotels diese Kundenscharen – im April schon fast ein Zehntel mehr als im Schnitt der letzten fünf Jahre.

Wie geht dieser Traum weiter? Der Tourismus und die Exporte hängen am hohen Dollar und am Einkommenswachstum der Europäer; der Bau im Inland braucht das Zutrauen der Investoren in die längerfristige Konjunktur; der Detailhandel hängt am Einkommensfluss und am Jobvertrauen der Inländer. Die Zeichen aus der Statistik warnen – das Barometer der Konjunkturforschungsstelle der ETH fällt seit dem Frühsommer 2000, die Manpower-Kurve der Stelleninserate seit Januar. Aber sie sinken auf hohem Niveau. Falls sich die USA und Europa gegen Ende Jahr wieder fangen, hat die langsamer reagierende Schweizer Wirtschaft deren Konjunkturtal schwebend überquert. Geht es länger, wird auch hier zu Lande erst die Seele zagen, dann der Geldfluss stocken.

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