Guten Tag,
Die kleinste Schadensversicherung der Schweiz ist der Beweis, dass im Versicherungsgeschäft Grösse allein nicht alles ist.
Roman Kunz, Geschäftsleiter der Appenzeller Versicherungen, setzt auf den persönlichen Kontakt mit den Versicherten statt auf anonyme Formulare.
Kim NiederhauserWerbung
Grösse ist in der Assekuranz ein Vorteil: Die Risiken können besser gestreut und die Fixkosten auf viele Prämien verteilt werden. Kein Wunder, schliessen sich immer mehr Versicherungen zusammen – die Fusion der Helvetia mit der Baloise ist das jüngste Beispiel für diesen Trend. Doch es geht auch anders: Das beweisen die Appenzeller Versicherungen (AV). Sie sind mit einem Prämienvolumen von knapp 4 Millionen Franken und vier Angestellten die kleinste Versicherung der Schweiz. «Zusammen kommen wir auf 320 Stellenprozent», präzisiert Roman Kunz. Er ist seit 2015 Geschäftsführer der Genossenschaft, die vor über 150 Jahren als Feuerversicherungsgesellschaft gegründet wurde.
Big is beautiful. Der Satz gilt in der Wirtschaft im Allgemeinen: Grosse, wirtschaftlich potente Staaten können kleineren Ländern ihren Willen aufzwingen, wie die Schweiz in diesen Tagen leidvoll erfahren musste. Und auch bei Unternehmen gilt die Formel «gross = gut». Etwa bei Banken und Versicherungen. Wenn die Firmen hier eine gewisse Grösse haben, gerne verbunden mit Geschäften im Ausland, können sie ihre Risiken besser und breiter diversifizieren – zum Beispiel im Kreditgeschäft. Und Versicherer können Verluste in einem Land – etwa wegen einer Naturkatastrophe – mit Gewinnen aus einer anderen Region ausgleichen.
Wer gross ist, hat zudem Vorteile beim Einkauf und profitiert von Skaleneffekten. Ein Paradebeispiel dafür ist die Strombranche, vor allem Anbieter mit einer eigenen Produktion. Hohe Fixkosten, beispielsweise für eigene Kraftwerke oder die Netzsteuerung, verlangen nach einer grossen Kundenbasis. Und erst recht gilt «Gross ist gut» im Bahnverkehr. Denn der Schienenstrang behauptet sich gar als natürliches Monopol – was bedeutet: Es ist für einen Anbieter nicht sinnvoll, neben den Schienen des Konkurrenten sein eigenes Bahnnetz zu bauen.
Und doch gibt es gerade in den oben genannten Branchen Firmen, die diesen ökonomischen Grundsätzen trotzen, und das mit Erfolg. Die Handelszeitung hat sich für diese Serie auf die Suche gemacht und die kleinste Bank, den kleinsten Versicherer, den kleinsten Stromanbieter mit vollem Angebot aus eigener Hand sowie jenen Bahnbetreiber, der über das kürzeste eigene Netz verfügt, ausfindig gemacht. Diese Unternehmen gibt es teilweise schon seit über hundert Jahren, und sie halten sich erfolgreich in einem Markt, der sonst eigentlich Grösse belohnt.
Wie schaffen sie das? Warum gibt es diese Firmen überhaupt noch? Wie funktioniert ihr Geschäftsmodell? Und womit haben sie zu kämpfen? Die Recherche zeigt: Selbst in Branchen mit Grössenvorteilen kann es zuweilen ein Pluspunkt sein, klein und flexibel zu sein.
Bei so wenig Personal kann es schon mal vorkommen, dass man ihn allein im geräumigen Büro in Appenzell antrifft. So wie an diesem verregneten Morgen in der Sommerferienzeit. «Aber einer von uns, mein Stellvertreter oder ich, ist immer hier», versichert Kunz. Denn die Nähe zu den Kunden ist es, was die Miniversicherung ausmacht und letztlich auch deren Existenz erklärt.
Roman Kunz ist Geschäftsführer, Head of IT, Anlagechef und Schadensbearbeiter in Personalunion. Hier im Gespräch mit der Handelszeitung über die Vor- und Nachteile der Kleinheit im Versicherungsgeschäft.
Kim NiederhauserRoman Kunz ist Geschäftsführer, Head of IT, Anlagechef und Schadensbearbeiter in Personalunion. Hier im Gespräch mit der Handelszeitung über die Vor- und Nachteile der Kleinheit im Versicherungsgeschäft.
Kim NiederhauserZur Kundennähe gehört, dass immer jemand erreichbar ist. «Über das Wochenende wird das Telefon auf mindestens einen unserer Privatanschlüsse umgeleitet, und wir fahren dann bei Bedarf auch zum Schadensort hin.» Weit ist es in der Regel nicht. Erst seit 2001 wird auch Kundschaft von ausserhalb des Halbkantons angenommen. Typische Versicherte sind Eigenheimbesitzende, die eine Hausratversicherung brauchen – oder eine Gebäudeversicherung, da es in Appenzell Innerrhoden weder eine allgemeine kantonale Gebäudeversicherung noch ein Obligatorium dafür gibt. Über Klumpenrisiken macht sich Kunz keine Sorgen. Denn er kalkuliert langfristig und vertraut auf die Kapitalstärke. Es könne zwar vorkommen, dass in einem Jahr die Schäden einzelner Sparten dessen Prämien übersteigen, aber über längere Zeit gleiche sich das aus.
Was an diesem wolkenverhangenen Regentag nicht sofort erkennbar ist: Gleich hinter dem Dorf beginnt der Alpstein. Innerrhoden ist ein Bergkanton, wo Felsen abbrechen, Hänge rutschen und Niederschläge den Pegel der Sitter im Nu anschwellen lassen. Doch Versicherungsmann Kunz muss sich über diese Risiken nicht den Kopf zerbrechen. Denn gegen diese sogenannten Elementarschäden wie auch gegen Feuer- und Diebstahlschaden ist die Kleinversicherung durch Rückversicherungsverträge abgesichert. Für die Erfolgsrechnung entscheidend sind vor allem jene Schadensfälle, die nicht rückversichert sind. Zu den häufigsten gehören laut Kunz Wasserschäden und Glasschäden, zudem seien auch Kaskofälle zunehmend ein grosses Thema.
Werbung
Die Gründung der OeBB war die Folge einer Pleite. Heute verbindet das Bahnunternehmen vier Orte mit dem kürzesten Schienennetz.
«Das grösste Risiko sind ich und mein Stellvertreter», sagt er. «Denn es lastet sehr viel auf unseren Schultern.» So ist Kunz auch für die Informatik zuständig, Kollege Sepp Rusch verantwortet die Schadenbearbeitung seit fast 25 Jahren. Würden sie beide verunfallen, wäre die Versicherung nicht mehr funktionsfähig. Deshalb seien gemeinsame Ausflüge tabu, sagt Kunz, der in seiner Freizeit gerne aufs Mountainbike steigt.
Die Kleinheit bringt weitere Nachteile, etwa bei den Kosten: «Wir sind wahrscheinlich einer der Versicherer mit den höchsten Betriebskosten», sagt er und verweist auf die regulatorischen Vorschriften. «Auch wir müssen einen Aktuar bezahlen, auch wir brauchen ein von der Finma zugelassenes Revisionsbüro.» Zum Glück aber sei man im Kleinversicherungsregime der Finma, das gebe etwas Erleichterung. So sei das Unternehmen zum Beispiel vom jährlichen Risiko- und Solvenz-Assessment (ORSA) befreit. Dennoch entsteht ein Aufwand, den man ebenso gut auf das Doppelte an Prämien verteilen könnte.
Werbung
Adrian Wenger stellt mit einem Teilzeitpensum Netzbetrieb und Stromversorgung in Brienzwiler BE sicher.
Wenn aber die Kosten in der Regel ein Nachteil sind, dann muss das Erfolgsrezept der Appenzeller Versicherungen bei tiefen Schadenzahlungen liegen. Wird womöglich weniger geschummelt, wenn man sich kennt? Behalten die Versicherten gewisse Fauxpas und Schäden lieber für sich? Für Kunz ist eher entscheidend, dass «die Leute hier dem Material mehr Sorge tragen». Und es komme auch immer wieder vor, dass Geschädigte erstaunt feststellen, was ihre Police alles versichert.
Genau wie die Grossen müssen auch die kleinen Versicherungen ihr Kapital so anlegen, dass sie jederzeit ihren Verpflichtungen nachkommen können. Bei der AV ist die Finanzplanung ebenfalls Chefsache. Unterstützung bekommt Kunz dabei von der Bank und einem Verwaltungsratsmitglied. Der grösste Teil des Kapitals sei in Kassenobligationen angelegt. Es dient als Schutz für die Kundschaft, damit im Konkursfall die bestehenden Forderungen wie Schäden gedeckt sind und zu viel bezahlte Prämien erstattet werden können.
Werbung
Knappe zwei Vollzeitstellen und 79 Millionen Franken auf der Bilanz: Bei der Ersparniskasse Speicher ist alles etwas überschaubarer.
Dass es so weit kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Stolz verweist Kunz auf die Solvenzquote, die im Durchschnitt zwischen 700 und 800 Prozent liegt. Die Kennzahl misst, ob genug Eigenmittel da sind, um auch unter extremen Bedingungen die Leistungen erfüllen zu können. Bei den Grossen beträgt die Quote zwischen 200 und 250 Prozent. Liegt sie deutlich höher, werden schnell Klagen über ineffiziente Kapitalbewirtschaftung laut.
So mag die kleine AV zwar nicht die profitabelste Versicherung sein, sie ist dafür aber sicher, trotz ihrer Kleinheit. Und die Rechnung scheint für alle aufzugehen: für die Versicherung und ihre Kunden, die auch Genossenschafter sind.
An dieser Stelle findest du einen ergänzenden externen Inhalt. Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Werbung