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Supertanker in der Krise 

Nestlé flüchtet sich in die Zukunft

2024 Finanzkrise, 2025 Führungskrise: In Vevey herrscht Alarmstufe Rot. Schafft die neue Crew mit Philipp Navratil und Pablo Isla die Wende?

Stefan Barmettler HZSeraina Gross Handelszeitung

<p>Coffee-Guy Philipp Navratil: Der neue Nestlé-CEO ist ein Lehrling auf dem Chefsessel.</p>
Philipp Navratil: Vom Kaffeekönig zum Konzernchef. Der Youngster machte das Rennen, nun muss er liefern. William Gammuto

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Mehr Schmach geht nicht. Vor exakt einem Jahr, da kürte Paul Bulcke seinen Kollegen Laurent Freixe zum Nestlé-Konzernchef; nun, gerade mal zwölf Monate später, stellte er ihn fristlos vor die Tür. Ein bitteres Ende für Freixe und ein grober Nackenschlag für den Nestlé-Präsidenten. Bulcke und Freixe, bis vor wenigen Tagen das Spitzenduo beim grössten Schweizer Konzern, verbindet viel: Insgesamt 85 Jahre verbrachten sie beim selben Arbeitgeber. Beim Rausschmiss seines alten Kumpels brachte Bulcke nur noch ein paar knappe Worte des Dankes über die Lippen. Freixe – ein Kapitel, das man schnell abhaken will.

Eine Liebesbeziehung mit einer untergebenen Kaderfrau, die er leugnete, kostete den CEO die Karriere; die Geliebte, die er protegierte und beförderte, schmiss er selber Mitte Juni raus, der US-Chef, der den Big Boss offen kritisierte, ging schon früher. Es bleiben nur Verlierer. Zu ihnen gehört auch Bulcke. Gerne wäre er bis 2027 auf dem prestigeträchtigen Präsidentenstuhl geblieben. Im Verwaltungsrat fand er in den letzten Monaten immer weniger Zuspruch, auch die Investoren zweifelten: Das Resultat seiner Wiederwahl war 84,8 Prozent, weniger als mau. Nun geht er 2026, einen vorzeitigen Rücktritt zieht er offenbar auch nach dem Fiasko mit Freixe nicht in Betracht.

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Schon beim Abgang von Freixe-Vorgänger Mark Schneider agierte der Präsident wenig überzeugend: Fast im Alleingang entschied er sich damals für eine sofortige Trennung; das Verwaltungsratsgremium – eigentlich zuständig für die Wahl und Abwahl von Konzernchefs – war kaum involviert. Für eine geordnete Übergabe oder einen professionellen Auswahlprozess fehlte offenbar die Zeit.

Bulcke und Schneider zoften sich

Es war das Ende einer Mesalliance, Bulcke und sein damaliger Konzernchef lieferten sich harte Diskussionen, mal über Firmenverkäufe, mal über Zukäufe. Gegen aussen drang nichts, innen prallten zwei Welten aufeinander: hier Bulcke, der Nostalgiker, der sich schwertat, alte Zöpfe abzuschneiden – ein klassischer Nestlé-Manager, der zwar jeden Markt von Chile bis Australien kennt, dem aber hier die strategische Vista abgeht. Und dort der Modernisierer Schneider, von 1001 Ideen getrieben und bestrebt, den Nahrungsmittelriesen nicht nur entlang der Blockbuster Maggi, Kitkat oder Nescafé aufzustellen. Da hat er sich zuweilen auch verrannt und die Investoren am Schluss nicht mehr überzeugt.

Nach der hektischen Trennung von Schneider vor einem Jahr nun das Drama um Nachfolger Freixe. Der hatte zwar die drängende Revitalisierung des Firmenriesen zur Kernaufgabe erkoren, doch seine Roadmap zu neuer Glorie war alles andere als prickelnd. Zuoberst stand «Forward to basics» und «Less is more», wohl als Absage an den Innovationseifer seines Vorgängers gedacht. Ein beherzter Aufbruch war die Besinnung auf die Vergangenheit allerdings nicht.

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Die Wende zum finanziell Guten blieb bisher aus

Ernüchternd war die Präsentation des Halbjahresergebnisses am 24. Juli. Freixe wusste damals längst, dass eine interne Untersuchung wegen der verheimlichten Protektion einer Kadermitarbeiterin gegen ihn am Laufen war, und wirkte angespannt. Vor den Analysten erklärte er: Die Performance habe sich verbessert. Und: «Das Momentum ist zurück.»

Indes: Der Optimismus aus der Chefetage liess manchen ratlos, zumal das Momentum nach zwölf Monaten noch immer auf sich warten lässt. Die Rendite (Underlying Operating Profit, Utop) sinkt gegen die 16-Prozent-Marke, das interne Realwachstum (RIG), eine wichtige Wachstumsgrösse, tendiert gegen null. Das riesige China-Geschäft ist eine Grossbaustelle, die Konsumlaune des Milliardenmarkts schwächelt. Auch Investoren hatten ihre Zweifel und drückten die Verkaufstaste. Die Folge: Der Aktienkurs rauschte am Tag von Freixes Präsentation 7 Prozent südwärts. Das Publikum, so die wachsende Einsicht, glaubt nicht an einen raschen Turnaround.

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Intern, sagt einer, habe dieser Tagesverlust einen veritablen Schock ausgelöst. Einige fühlten sich darin bestätigt, dass die Rückbesinnung auf die Wurzeln etwas ambitionslos sei. Bereits ab Januar soll der Verwaltungsrat mögliche alternative Kandidaten für die Konzernspitze diskutiert haben. Dies wohl auch wegen der Verärgerung im Gremium, das sich nach der Schneider-Erfahrung stärker in die Nachfolgeplanung einbringen wollte. Namen, die damals im Verwaltungsrat kursierten, waren jener von Europa-Chef Guillaume Le Cunff, einem Franzosen, und von Nespresso-Chef Philipp Navratil, dem Schweizer, der dann überraschend das Rennen machte.


Die Wende zum Guten ist aus den Zahlenkränzen bislang nicht wirklich abzulesen. Der Aktienkurs brach in der kurzen Ära Freixe um 17 Prozent ein, derweilen andere SMI-Titel wie die UBS im gleichen Zeitraum um 33 Prozent zulegten. 2025 wird für Nestlé zum Übergangsjahr – neue Crew, neues Machtgefüge. Entsprechend sind die neuen Führungskräfte gefordert; neben Navratil ist es der designierte Präsident Pablo Isla, der Bulcke im nächsten Frühling ablösen wird.

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Ihnen bläst ein eisiger Wind entgegen, viele Märkte schwächeln. Eine Kernfrage für das neue Führungsduo Isla/Navratil wird sein: Setzen sie weiter auf das Nestlé-Narrativ der «operativen Exzellenz», oder gehen sie über die Bücher und schrauben bei der Strategie? Letzteres könnte dem Aktienkurs neues Leben einhauchen. Die Firma sei finanziell zwar solide, aber für Investoren zu langweilig, was auf den Börsenkurs drücke, sagt Stefan Michel, Professor für Strategie und Marketing am IMD in Lausanne, wo regelmässig Nestlé-Kadermitglieder an ihrer Laufbahn feilen.

Doch neue Strategien sind Langschüsse, solche lassen sich nicht von heute auf morgen aus dem Hut zaubern, zumal Pablo Isla erst im April übernimmt. Akuteren Handlungsbedarf sehen die Analysten von J. P. Morgan: Sie bezweifeln, dass die Freixe-Pläne, die formell noch immer gelten, die Firma innert nützlicher Frist beflügeln. «Wir sind enttäuscht, dass der neue CEO derzeit gezwungen ist, die Strategie seines Vorgängers fortzusetzen, obwohl der Markt angesichts der historisch niedrigen Aktienbewertung am Erfolg dieser Strategie zweifelt.» Klar ist: Das neue Spitzenduo ist gefordert.

Die Konkurrenz zieht davon

Dies auch, weil sich rundherum viel tut. Zu denken geben muss der neuen Führung insbesondere das Beispiel Danone und jenes von Unilever. Beide haben aufs Tempo gedrückt, restrukturiert, devestiert und Kosten gesenkt, bei ansprechendem Ergebnis: Die Aktienkurse legten zu – bei Danone innert zwölf Monaten um 15 Prozent –, während die Schweizer Konkurrenz auf historischem Tiefstand dümpelt. Die grosse Restrukturierung wird es auch unter Navratil/Isla kaum geben, aber etwas müssen sie den Aktionären bieten – und zwar bald. Denn es wird nicht einfacher: Die Rohstoffpreise spielen verrückt, beim Kaffee gehts nur nach oben. Das Zollchaos von US-Präsident Donald Trump wird sich durch die Lieferketten fressen und Preisgefüge ins Wanken bringen.

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Gerade beim Kaffee mit den Megamarken Nespresso und Nescafé, dem hoch rentablen Kerngeschäft, steigt der Druck. Der Zusammenschluss von Keuring und Dr. Pepper kreiert einen Giganten, der den Kaffeebrauern aus Vevey VD gefährlich nahe kommt. Vor allem in den USA wird es ungemütlich. Für Nestlé spricht, dass es bei Nespresso für die amerikanischen Langtrinker das Vertuo-System im Schaufenster hat, für das es bei den Kapseln noch keine Konkurrenz gibt; das sichert in der Königsklasse des Kaffeegeschäfts Marktanteile und hilft der Marge. Gleichwohl wird die neue Nummer zwei beim Kaffee den Schweizer Baristas das Leben schwer machen.

Das Marketing wollte Freixe auf 9 Prozent vom Umsatz leicht erhöhen. Doch ob dies genügt, ist fraglich: Der Nachholbedarf aus der Ära Schneider ist gross. Dass die Marken unter dem Turbodealer Schneider vernachlässigt wurden und nun leiden, sagt nicht nur Paul Bulcke. Was es beim Marketing braucht, weiss Pablo Isla bestens, der mit Inditex in der Modebranche vorgemacht hat, wie Marketing und Wachstum gehen. In seiner 15-jährigen Regentenschaft versiebenfachte er den Umsatz der Textilgruppe mit Marken wie Zara, Massimo Dutti und Bershka. Ob er auch Schokoriegel, Cold Brew oder Mineralwasser kann, wird sich bald zeigen.

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Mineralwasser: Mark Schneider hat vorgelegt

Auch das Portfolio mit über zweitausend Marken könnte bald neuerlich zur Debatte stehen, indem renditeschwache Produkte mit wenig Zukunftsperspektive ausgelistet werden. Da wäre das breitflächige Mineralwassergeschäft, das unter günstigen Eigenmarken des Detailhandels leidet. Einen Ausweg hat Schneider 2021 vorgemacht: Er stiess in den USA schwach rentable, regionale Mineralwassermarken wie Poland Spring, Deer Park und Arrowhead an Finanzinvestoren ab und löste 4,3 Milliarden Dollar. Seit letztem November sucht Nestlé einen nächsten Exit beim Wassergeschäft, das immer wieder für Negativschlagzeilen sorgt, zuletzt in Frankreich. Diesmal sei man an einer Partnerschaft mit Finanzinvestoren interessiert, wurde unlängst berichtet.

Eine Begradigung ist auch beim Mainstream-Vitamingeschäft mit Marken wie Puritan’s Pride oder Osteo Bi-Flex angedacht. Gelingen auch diese Devestitionen, würde dies das Kleingeld für Investitionen in Zukunftsmarken einspielen. Das kann dem neuen CEO Philipp Navratil nur willkommen sein.

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Über die Autoren
Stefan Barmettler HZ

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