Guten Tag,
Lungenspezialist Karl Klingler über «eines der trübsten Kapitel in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte».
Werbung
Wie gefährlich lebten die Mitarbeiter in der Produktion der Eternit-Gruppe?
Karl Klingler: Sehr gefährlich. Rund ein Drittel der Arbeiter, die dem Asbeststaub ausgesetzt waren, zeigten im Röntgenbild erkennbare Veränderungen des Brustfells. Rund 15 Prozent bekamen Asbestose, das sind Vernarbungen im Lungengewebe. Jeder Sechste von ihnen erkrankte später an Lungenkrebs.
Seit wann sind diese Zusammenhänge bekannt?
Spätestens seit 1972 gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass es zwischen Asbestexposition, Rauchen und Krebs einen klaren kausalen Zusammenhang gibt. Auch das gehäufte Auftreten von bösartigen Lungenfelltumoren (Mesotheliomen) infolge Asbestkontakts ist seit mindestens dreissig Jahren unbestritten.
Trotzdem hat die Eternit-Gruppe ihre Mitarbeiter bis in die Neunzigerjahre hinein mit Asbest weiterarbeiten lassen.
Ja. Sie wurden auf tragische Weise hinters Licht geführt. Jahrzehntelang hat man sich in der Führungsetage der Eternit-Werke viel zu wenig um die Risiken gekümmert. Das Fehlen unternehmerischer Verantwortung in der Asbestproduktion ist eines der trübsten Kapitel in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte.
Die Eternit AG spricht heute von 55 in der Schweiz registrierten Todesfällen. Ist dieser Zahl zu trauen?
Ich traue ihr insofern, als es sich dabei vermutlich genau um diejenigen Eternit-Mitarbeiter handelt, die heute in Niederurnen auf dem Friedhof liegen. All diejenigen, die weggezogen und andernorts verstorben sind, wurden hingegen nicht mitgezählt.
Werbung
Die Suva hat bisher 878 Fälle asbestbedingter Berufskrankheit anerkannt, davon 496 mit bösartigem Tumor des Brustfells (Pleuramesotheliom). Bilden diese Angaben das Ausmass der Problematik adäquat ab?
Die Statistiken der Suva reichen nur bis 1984 zurück. Auf Grund von ausländischen Vergleichswerten muss davon ausgegangen werden, dass die effektive Opferzahl dreimal höher liegt. Eine Grössenordnung von 2000 Fällen erscheint mir für die Schweiz realistisch.
Welche volkswirtschaftlichen Kosten erwachsen im Entschädigungsfall?
Bei 2000 Asbestopfern und einer Integritätsentschädigung, die derzeit pro Kopf bei maximal 97 500 Franken liegt, wären das knapp 200 Millionen Franken. Rechnet man Rentenansprüche von durchschnittlich 400 000 Franken pro Asbestopfer hinzu, beläuft sich die potenzielle Entschädigungssumme auf gegen eine Milliarde Schweizerfranken.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Eternit-Betreiber im Rückblick?
Was es gebraucht hätte, wäre ein Mindestmass an unternehmerischer Verantwortung gewesen. Wenn man feststellt, dass vier von zehn Mitarbeitern krankhafte Veränderungen auf der Lunge zeigen und jedes Jahr einige von ihnen sterben, ist es schlicht fahrlässig, die zu Grunde liegenden Risiken nicht umgehend zu eliminieren.
Werbung
Warum hat der Ausstieg aus dem Asbest ? bei allem Wissen um Risiken ? zwei Jahrzehnte gedauert?
Letztlich bleibt wohl nur eine Interpretation: Es ging den Firmenbesitzern darum, einen profitablen Industriezweig möglichst lange auszuschlachten und den Ausstieg so zu erstrecken, dass ein Konkurs vermieden werden konnte.
Werbung