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2025 war ein schlechtes Jahr für Gleichstellung, meint Nina Bieli, Gründerin des Gislerprotokolls. Sie hat in der Werbebranche viel erreicht.
Nina Bieli gehört zu den bekanntesten Gesichtern der Schweizer Werbebranche.
Mirjam KlukaWerbung
Wie gleichgestellt sind die Geschlechter in der Schweiz – und auf der ganzen Welt? Eine Frage, die 2025 aktueller blieb denn je. Der Global Gender Gap Report vom Weltwirtschaftsforum (WEF) kommt für das ablaufende Jahr zum Schluss: 68,8 Prozent der Gleichstellung ist weltweit erreicht worden. Gehts im aktuellen Tempo so weiter, würde es noch 134 Jahre dauern, bis Mann und Frau weltweit wirklich 100 Prozent gleichgestellt sind. 2025 war in der Gleichstellungsfrage sowieso nicht ohne Stolpersteine und Rückschläge – so machte vor allem die neue Regierung in den USA einigen Sorgen.
Kaum eine andere Person in der Schweiz verfolgt diese Entwicklungen so eng wie Nina Bieli (37). Seit mehreren Jahren setzt sie sich mit der von ihr gegründeten Initiative Gislerprotokoll für mehr Diversität in der Schweizer Werbung ein. Die Initiative erhebt Daten, vernetzt Gleichgesinnte, berät Unternehmen und versucht so, Verbesserungen zu erzielen. 2026 wird das Gislerprotokoll fünfjährig – und hat sich in wenigen Jahren zu einem relevanten Label in der Schweizer Werbebranche entwickelt. Mittlerweile haben sich bereits über 230 Unternehmen und Agenturen Bielis Gislerprotokoll angeschlossen.
Frau Bieli, war 2025 ein gutes Jahr für die Gleichstellung?
Nina Bieli: Global gesehen leider gar nicht. Die Trump-Administration hat im Frühjahr dieses Jahres ein deutliches Signal gesendet: DEI (Diversity, Equity & Inclusion) gehöre nicht mehr auf die Agenda. Durch mehrere Dekrete wurden DEI-Themen in Behörden und in der Privatwirtschaft als illegal eingestuft, worauf vielerorts DEI-Programme eingestellt wurden. Unter anderem auch bei Schweizer Grossunternehmen wie Roche, Novartis und UBS. Das gab Stimmen Rückenwind, die schon lange fanden, dass dieses «Diversity-Zeug» schon immer Blödsinn gewesen sei. Trotzdem muss ich sagen: Eigentlich läge in der ganzen Situation ja auch etwas Gutes...
Wie denn das? Sie zeichnen ein ziemlich düsteres Bild.
Weil eine solche Gegenbewegung auch eine gesunde Debatte auslösen könnte: Was ist sinnvoll? Was war vielleicht reine Symbolpolitik? Eine Feinjustierung finde ich legitim. Aber leider ist die Diskussion gerade extrem polarisiert. Viele Dinge werden stark vereinfacht und ideologisiert – und das ist nie hilfreich für eine gesunde Debattenkultur.
Donald Trump vereinfacht die komplexen Dinge gerne. Wie gross ist sein Einfluss auf die Gleichstellungsdebatte hier in der Schweiz?
Er und seine Administration haben vor allem einen Anstoss gegeben und gewisse Haltungen legitimiert. Viele dieser kritischen Stimmen waren auch in der Schweiz schon vorher da – in Medien, in Parteiprogrammen, in Abstimmungen. Aber plötzlich hatte man das Gefühl: Wenn das jetzt die US-Regierung und grosse Konzerne so machen, dann darf ich das auch offen sagen.
Gemäss dem Global Gender Gap Report dauert es noch 134 Jahre, bis wir eine weltweit vollständige Gleichstellung erreicht haben.
134 Jahre sind absurd lang. Wenn man mit dem Herzen hinschaut, denkt man: Das muss doch schneller gehen. Mit der rationalen Brille sieht man: Unsere Systeme sind zwar stabil, aber auch extrem träge. Demokratien und Institutionen basieren auf Strukturen, die nicht für eine Welt gebaut wurden, in der Minderheiten gleich stark mitreden. Jede Weiche, die man neu stellt, bewegt sich nur Millimeter pro Jahr.
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Kommt da die Aktivistin bei Ihnen durch?
Klar, ich bin Feministin. Und gleichzeitig pragmatisch. Diese Energie fliesst auch ins Gislerprotokoll ein: Wir glauben an eine Veränderung, sehen aber auch das System, von dem wir Teil sind und versuchen darum, innerhalb dieses Systems zu arbeiten: Wir wollen Veränderungen anschieben, ohne ständig im maximalen Konfrontationsmodus zu sein. Das ist unser Ansatz: Brücken bauen, statt dauerhaft gegen Mauern anzurennen. Dass andere lauter und radikaler Veränderungen fordern, finde ich aber sehr wichtig.
Das Gislerprotokoll wird 2026 fünf Jahre alt. Was ist der Kern Ihres Anliegens?
Wir setzen uns dafür ein, dass die Gesellschaft in der Werbung facettenreicher repräsentiert wird – mit diversen Rollenbildern, Lebensentwürfen und Körpern. Wir sind mit dem Thema Gender gestartet, weil wir gesehen haben, wie hartnäckig nicht mehr zeitgemässe Stereotype weiterleben. Und wir haben von Anfang an auch auf inklusive Sprache gesetzt, ohne dogmatisch vorzuschreiben, wie genau das zu erfolgen hat.
Und wie hat sich die Schweizer Werbung seit 2021 verändert?
Erfreulich. Unsere Stereotypen-Analyse zeigt: Bis 2023 war etwa die Hälfte der Spots stereotyp. 2024 ist der Anteil klischeehafter Spots zum ersten Mal deutlich gesunken – und die Art der Stereotypen hat sich verändert. Früher war der «Experte» in 90 Prozent der Fälle ein Mann. 2024 sehen wir deutlich häufiger Expertinnen oder gemischte Duos. Und ein für mich symbolischer Befund: Erstmals kamen die kümmernden Väter in der Werbung häufiger vor als die kümmernden Mütter.
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Und wo sehen Sie den grössten Nachholbedarf in der Schweizer Werbung?
Ich vermisse lustige Frauen. Humorvolle Hauptrollen sind nach wie vor extrem männlich besetzt. Werbespots lieben Humor – aber souveränen, selbstironischen Humor traut man fast nur Männern zu. Das ist nicht repräsentativ. Ein anderes Thema sind Menschen mit Behinderungen. Sie kommen in der Werbung praktisch nur vor, wenn es explizit um Behinderung geht. In der Alltagskommunikation grosser Konsum- und Finanzmarken tauchen sie aber so gut wie nie auf. Dabei brauchen auch sie ein Konto oder müssen zur Post gehen.
Was war für Sie 2025 die beste Nachricht in Sachen Gleichstellung?
Ich hatte mehrere Momente, in denen ich in meinem Alltag in der Werbebranche realisierte: Wir sind einen Schritt weiter! Es ist für viele plötzlich Standard, nicht immer den weissen Mann und die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie zu zeigen. Man gönnt sich mehr kreative Freiheit – und merkt, dass das auch Spass macht.
Welche Rolle hat die Frauenfussball-EM im Sommer gespielt?
Mich hat sehr gefreut, dass Frauenfussball plötzlich auf ehrliches Interesse gestossen ist – auch bei Leuten, die sich vorher kaum dafür interessiert haben. Dieses Momentum kann langfristig viel verändern: bei Investitionen, Sponsoring, Sichtbarkeit, Werbedeals.
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