Guten Tag,
Gilbert Probst, Professor für Organisation und Management an der Universität Genf, über den Absturz erfolgreicher Unternehmen und die dahinter steckenden Ursachen.
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BILANZ: Sie haben die hundert grössten Unternehmenskrisen der letzten fünf Jahre analysiert. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
Gilbert Probst: Unsere Untersuchung bezieht nicht nur die grössten Firmenkonkurse, sondern auch die gravierendsten Fälle von Kapitalvernichtung mit ein. Dabei hat sich ergeben, dass praktisch alle Krisen hausgemacht, das heisst letztlich selbst verschuldet, waren.
Gibt es demnach eine einheitliche Logik des Scheiterns?
Wir sind auf zwei Grundmuster gestossen, die auf über neunzig Prozent der untersuchten Fälle zutreffen. Diese Muster zeigen, dass in vier Bereichen etwas schief gelaufen sein muss – beim Wachstum, bei der Anpassungsfähigkeit, im Führungsverhalten und in der Unternehmenskultur.
Dieselben Punkte – Wachstum, Wandel, Leadership und Kultur – werden in der modernen Managementliteratur häufig als kritische Erfolgsfaktoren genannt. Ein Zufall?
Nein, das ist ja gerade das Interessante an unserer Studie: Was auf 70 Prozent der untersuchten Wertvernichter zutrifft, beschreibt eine Situation, in der es von den betreffenden Erfolgsfaktoren zu viel hatte. Wir vergleichen es mit einem Burn-out.
Das müssen Sie uns näher erklären.
Firmen, die unter dem Burn-out-Syndrom leiden, sind über die letzten fünf Jahre durchschnittlich um 30 Prozent gewachsen. Nach Massgabe ihrer Finanzkraft hätten sie jedoch im Schnitt nur um sieben bis acht Prozent pro Jahr expandieren dürfen. Folglich liegt das Problem in mehr als zwei Dritteln der untersuchten Fälle in einem unkontrollierten Überschiessen.
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Meinen Sie einen Überschuss an Dynamik?
Genau. Die meisten Firmen, bei denen es zwischen 1998 und 2003 zum Kollaps kam, wiesen in den Jahren zuvor exzessive Wachstumsraten auf, litten unter andauernden Reorganisationen und einer selbstherrlichen Führung und waren von einer ausgeprägten Leistungskultur geprägt.
Können Sie uns ein paar konkrete Beispiele nennen?
Der Energieriese Enron wuchs zwischen 1997 und 2001 um sage und schreibe 2000 Prozent, während der Elektonikkonzern Tyco in dieser Phase pro Jahr rund 200 Konkurrenten übernahm. Auch der schwedisch-schweizerische Maschinenbaukonzern ABB schluckte auf dem Höhepunkt der Akquisitionseuphorie im Verlauf zweier Jahre 60 andere Firmen.
Bei der zweiten Kategorie von vermeintlich soliden Firmen, die massiv unter die Räder gekommen sind oder gar Konkurs anmelden mussten, sprechen Sie von «Premature-Aging-Syndrom». Was verstehen Sie darunter?
Der Niedergang von Unternehmen aus dieser Gruppe ist im Wesentlichen auf ein starres Festhalten an einer überholten Erfolgsformel zurückzuführen. Im Unterschied zum Burn-out-Syndrom sind die Führungspositionen hier relativ schwach besetzt, und die Unternehmenskultur weist kaum leistungsfördernde Anreize auf.
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Der Versuch, durch Wachstumsverzicht ein Überschiessen zu vermeiden, kann folglich ins Auge gehen?
Alle Extreme sind schädlich. Dies gilt genauso für exzessives Wachstum wie für Situationen, in denen zu wenig Dynamik herrscht. Jedes erfolgreiche Unternehmen ist auf Wachstum, Wandel und eine geeignete Führungskultur angewiesen. Und jedes Unternehmen braucht motivierte, erfolgsorientierte Mitarbeiter – aber dies alles innerhalb einer bestimmten Bandbreite.
Es gibt Ökonomen, die davon ausgehen, dass auch Firmen, wie jedes Produkt, einem Lebenszyklus unterliegen. Unter dieser Annahme erscheint der Niedergang von Unternehmen nur natürlich.
Gemäss unserer Studie sind die Gründe, warum ehemals florierende Unternehmen in eine existenzielle Krise geraten, ausnahmslos hausgemacht. Auch wenn Konjunkturzyklen und strukturelle Phänomene die Probleme verschärfen können, wäre es verfehlt, ihren Niedergang einfach einer ungünstigen Marktverfassung oder anderen externen Faktoren anzulasten.
Bleibt als Erklärung das Versagen der Manager, was auf einen Mangel an Corporate Governance schliessen lässt. Können Sie dieser Sichtweise zustimmen?
Absolut. Die Spitznamen gewisser Unternehmensführer sind wohl kein Zufall. Daimler-Boss Jürgen Schrempp wurde als «Rambo» bezeichnet, Vivendi-Chef Jean-Marie Messier als «Genie». Topmanager, die von den Medien hochgejubelt werden, neigen dazu, sich nur noch mit Kopfnickern zu umgeben und sich dadurch erst recht vom Rest der Belegschaft zu isolieren.
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Gibt es Indikatoren, die ein Kontrolldefizit verlässlich anzeigen?
Ämterkumulation an der Konzernspitze, überrissene Kompensationspakete und hohe Akquisitionsprämien sind klare Indizien einer autokratisch gefärbten, zu wenig ausbalancierten Firmenkultur.
Wie finden Manager den goldenen Mittelweg zwischen Exzess und Askese?
Dazu gilt es, die natürliche Bandbreite im Auge zu behalten, innerhalb deren sich ein Unternehmen langfristig gesund entwickeln kann. Leider wird bisher in den wenigsten Verwaltungsräten oder Konzernvorständen über dieses Thema geredet.
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