Guten Tag,
Die Schweiz profitiert von der KI-Welle, muss aber den Fokus auf realwirtschaftliche Wertschöpfung und tiefere Technologieentwicklung legen.

Max Meister
Die Kolumne «MeisterMacher» von Max Meister, General Partner von Koyo Capital, beleuchtet internationale Entwicklungen in der VC-/Start-up-Szene und deren Auswirkungen auf die Schweiz.
Daniel KarrerWerbung
In unserem Podcast «Burn Rate», in dem wir einmal wöchentlich das Geschehen im Venture-Capital-Bereich der Schweiz und weltweit kommentieren, meinte mein Co-Host Guy Giuffredi kürzlich: «Eine Blase platzt, wenn Überangebot auf Nachfrageschwäche trifft. Davon sind wir weit entfernt.»
Nun, sind wir das wirklich?
Was man, wie ich glaube, klar feststellen muss: Künstliche Intelligenz ist die grösste technologische Entwicklung unserer Zeit. Der Boom darum ist Fortschritt, Hoffnung, Kapitalmagnet und geopolitisches Werkzeug zugleich. Aber er ist auch Projektionsfläche für eine wachsende Diskrepanz zwischen dem, was technisch möglich ist, und dem, was ökonomisch realistisch bleibt. Wer heute die Schlagzeilen liest, bekommt das Gefühl, dass die Zukunft bereits entschieden sei: Rechenzentren im Wert von mehreren Billionen Dollar, Fabriken für Chips, die ganze Energienetze sprengen werden, und Start-ups, die in drei Monaten Bewertungen erreichen, für die man früher eine Dekade brauchte. Doch unter der Oberfläche wächst die Unsicherheit. Und die Frage, die sich immer drängender stellt, lautet: Ist KI gerade eine Revolution – oder eine perfekt getarnte Illusion? Genau hier verortet auch Alex Stöckl, Partner beim Schweizer VC Founderful, den fundamentalen Wandel: «Mit den technischen Fortschritten der vergangenen Jahre sind KI-Systeme nun komplex genug geworden, um ganze Wertschöpfungsketten weitgehend zu automatisieren, von Enterprise-Workflows bis hin zur Robotiksteuerung.»
Max Meister ist General Partner von Koyo Capital mit Sitz in Baar ZG.
Technologiezyklen waren schon immer geprägt durch Übertreibungen. Die Dotcom-Blase hat die Logik des Internets nicht zerstört, sondern beschleunigt. Die Smartphone-Ära begann mit gigantischen Hoffnungen und endete in der Konsolidierung weniger Gewinner. Aber bei KI ist etwas anders: Die Geschwindigkeit der Kapitalakkumulation hat sich von jeglichen Fundamentaldaten gelöst. Die «Financial Times» spricht von einem «$1tn valuation boost» für KI-Grossunternehmen in nur zwölf Monaten. Dieses Kapital hat die Branche nicht organisch erzeugt, es wurde spekulativ vorgezogen. Und es fliesst in Infrastruktur, die auf einem einzigen impliziten Versprechen beruhen: dass die Nachfrage nach Rechenleistung exponentiell wachse und die Monetarisierung garantiert sei. Doch genau dieses Versprechen beginnt zu bröckeln.
Noch nie wurden weltweit so viele Datenzentren geplant wie heute. Allein die angekündigten Investitionen von OpenAI – über 1,4 Billionen Dollar an langfristigen Infrastrukturverträgen – übersteigen alles, was der Technologiesektor je gesehen hat. Doch wie Experten mehrfach betonen: Die meisten dieser Anlagen stehen nur auf dem Papier. Das Problem ist nicht nur der Kapitalbedarf. Es ist die Energie. Die europäischen Energienetze stossen bereits heute an ihre Grenzen. In Zürich, Frankfurt oder Paris kann kaum noch ein Rechenzentrum angeschlossen werden, ohne dass neue Leitungen, Umspannwerke oder Gaskraftwerke gebaut werden müssen. Die Energiefrage ist kein Detail, sie ist das Nadelöhr der gesamten KI-Erzählung.
Werbung
Gleichzeitig steigen die Bewertungen von KI-Unternehmen in Bereiche, die sich nicht mehr mit klassischen Bewertungslogiken erklären lassen. Manche Firmen schreiben Milliardenverluste und sind trotzdem wertvoller als global profitable Industriekonzerne. Die Bubble-Theoretiker warnen deshalb vor einem doppelten Risiko: einer Überproduktion von Infrastruktur, gepaart mit einer Überbewertung an den Kapitalmärkten. Es wäre nicht die erste Tech-Euphorie, die weniger an Nachfrage, sondern an ihren eigenen Versprechen scheitert.
Wie Hemant Taneja, CEO von General Catalyst, formuliert: «We are at peak ambiguity.» Gemeint ist damit ein historischer Moment, in dem sich technologische Euphorie und ökonomische Ungewissheit überlagern wie selten zuvor. KI ist zweifellos ein epochaler Durchbruch, doch gleichzeitig gibt es kaum Klarheit darüber, welche Geschäftsmodelle tragfähig, welche Infrastruktur nachhaltig und welche Gewinner tatsächlich dauerhaft bestehen werden. Tanejas Begriff beschreibt einen Zustand, in dem sich Kapitalströme, politische Erwartungen und wissenschaftliche Fortschritte gegenseitig beschleunigen, ohne dass die Fundamentaldaten schon sichtbar wären. Für Investoren bedeutet «peak ambiguity»: Wir befinden uns an einem Punkt maximaler Möglichkeiten und maximaler Fehlanreize. Für Start-ups heisst es: Die besten Unternehmen entstehen oft in Phasen grossen technischen Wandels, aber nur jene überleben, die echte Substanz besitzen und nicht auf die nächste Bewertungsrunde spekulieren. Genau in dieser Spannung zwischen Vision und Realität entscheidet sich, wer in der KI-Welt bleibt und wer nur ein kurzlebiges Produkt des Hypes war. Stöckl sieht eine Zeitenwende: «Der Wendepunkt liegt nun darin, dass Software und Robotik – wie auch im grösseren Sinne industrielle Automation – nicht länger getrennte Welten sind.»
Werbung
Europa steht in diesem neuen KI-Zyklus an einem altbekannten Kreuzweg. Die aktuelle Ausgabe des Reports «State of European Tech» von Atomico zeichnet ein Bild, das zugleich Hoffnung und Warnung ist. Einerseits erlebt das Ökosystem seine grösste Stimmungsaufhellung seit dem Boomjahr 2021: Genau die Hälfte aller befragten Gründer, VCs und Operators ist optimistischer als noch vor zwölf Monaten. Ein Wert, der fast symbolisch für die Rückkehr des europäischen Selbstbewusstseins steht. Kapital fliesst wieder, nicht überschäumend, aber solide: Rund 44 Milliarden Dollar werden europäische Start-ups laut Atomico 2025 aufnehmen, mehr als in den beiden Vorjahren und bemerkenswert in einer Phase, in der die Kapitalkosten gestiegen sind und globale Unsicherheit herrscht. Vor allem Deep Tech erlebt eine Renaissance: 36 Prozent aller europäischen VC-Dollars flossen 2025 in tieftechnologische Modelle, fast doppelt so viel wie 2021. Mistral oder Helsing markieren nicht nur hohe Einzelrunden, sondern stehen für eine strukturelle Veränderung hin zu Bereichen, in denen Europa traditionell stark ist, wie Physik, Engineering oder Security.
Doch wie so oft in Europa schwingt in den positiven Signalen ein leises Déjà-vu mit. Die letzten beiden grossen Technologiewellen – Cloud und Smartphones – wurden nicht in Europa geprägt. Während im Silicon Valley Plattformen entstanden, hat Europa zugeschaut. Jetzt steht erneut die Frage im Raum, ob der alte Kontinent die Energie dieses Moments wirklich nutzen kann. Die McKinsey-Prognose, wonach Deep-Tech-Start-ups bis 2030 eine Billion Dollar an Unternehmenswert schaffen und bis zu eine Million neue Jobs generieren könnten, ist beeindruckend, aber sie ist lediglich eine Möglichkeit, kein Versprechen. Denn dafür bräuchte es Geschwindigkeit, Kapital und vor allem eine klare strategische Priorisierung, die Europa in der Vergangenheit selten gezeigt hat.
Werbung
Der Report von Atomico zeigt in aller Deutlichkeit, wo die Bremsklötze sind. Obwohl die Stimmung gut ist, kämpfen europäische Start-ups weiterhin mit einem zentralen Handicap: der Skalierung. 57 Prozent der Gründer, die einen Standortwechsel erwogen oder vollzogen haben, zieht es in die USA. Nicht, weil das Talent dort zwingend besser wäre, sondern weil Kunden schneller entscheiden, Budgets grösser sind und Pilotprojekte mutiger umgesetzt werden. Zugleich bleibt der Mangel an Exits die grösste systemische Schwäche Europas. 43 Prozent aller befragten Investoren nennen die fehlenden M&A-Routen als Hauptgrund, warum sie nicht mehr Kapital einsetzen. Europa hat ein gutes Gründungs-Ökosystem, aber aktuell ein miserables Exit-Ökosystem. Solange das so ist, bleibt der Kontinent im Innovationszyklus die Region der Entwickler, aber selten der Vollender.
Hinzu kommt ein weiterer struktureller Engpass: Europäische Pensionskassen investieren praktisch nicht in Venture Capital. 0,01 Prozent ihrer Assets under Management gingen 2024 in VC, ein Wert, der statistisch kaum relevant ist. Würde Europa auch nur annähernd das Niveau der USA erreichen, flössen über die nächsten zehn Jahre rund 210 Milliarden Dollar zusätzlich ins europäische Innovationssystem. Damit liesse sich ein vollständiger, unabhängiger KI-Infrastrukturpfad aufbauen, anstelle der heutigen Abhängigkeit von US-Hyperscalern.
Werbung
Die Schweiz profitiert derzeit enorm von der KI-Welle: ETH-Ökosystem, robuste Corporate-Kunden, starke IP-Tradition. Doch auch hier zeigt sich die Diskrepanz. Peter Stähli, Gründer des Swiss Economic Forum und Initiator des Wachstumsprogramms UpScaler der Swiss Entrepreneurs Foundation, bringt es auf den Punkt: «KI ist nicht nur eine Schlüsseltechnologie der Zukunft, sondern auch der wichtigste Erfolgsfaktor im Bereich der Effizienzsteigerung. Die Schweizer Tech-Scale-ups haben dank bester Rahmenbedingungen und hervorragend ausgebildeter Teams von weltweit führenden Schweizer Hochschulen eine grosse Chance, vorne mitzumischen.» Und er ergänzt vielsagend: «In China gibt es bereits über 5000 Firmen, die sich nur mit KI beschäftigen. Das Rennen ist also voll im Gang.» Auch aus Investorensicht ist klar, dass sich der Wettbewerb nun radikal verschärft. Alex Stöckl formuliert es so: «Die nächste Generation von KI-Unternehmen wird integrierte Systeme entwickeln, die reale Probleme ihrer Kunden lösen.» Und er ist sich sicher: «Die entscheidenden Jahre für das Schweizer Ökosystem beginnen jetzt, denn nun entscheidet sich, ob aus exzellenter Forschung auch globale Technologiefirmen entstehen.»
Werbung
Für Schweizer Start-ups bedeutet das zweierlei: Erstens muss der Fokus auf realwirtschaftliche Wertschöpfung schärfer werden. Unternehmen, die Firmenkunden echte Einsparungen oder Umsatzsteigerung liefern, überstehen jeden Zyklus. Zweitens muss die Entwicklungstiefe steigen. Die Zeit des «KI-Features» ist vorbei. Nur wer proprietäre Daten, eigene Modelle oder vertikale Integrationen entwickelt, wird langfristig bestehen. Genau das zeigt sich auch in unserer täglichen Arbeit im Venture-Bereich: Die Gewinner bauen nachhaltige Geschäftsmodelle, keine Marketingstorys.
Werbung