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KI Kompakt

KI-Algorithmen als wissenschaftliche Mitarbeiter

Forscher setzen auf KI zur schnelleren und kostengünstigeren Medikamentenentwicklung. Die Schweiz könnte als Forschungsstandort profitieren.

Benjamin Bargetzi

Benjamin Bargetzi

<p>Die Kolumne «KI Kompakt» von Benjamin Bargetzi beleuchtet die Folgen der KI-Revolution auf Wirtschaft und Gesellschaft.</p>

Die Kolumne «KI Kompakt» von Benjamin Bargetzi beleuchtet die Folgen der KI-Revolution auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Daniel Karrer

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Während die Öffentlichkeit sich derzeit vor allem auf KI-Consumer-Apps wie ChatGPT oder DeepSeek fokussiert, erwarten die meisten KI-Experten den baldigen Beginn einer «zweiten Renaissance». Der Zeitgeist der historischen Renaissance war geprägt durch den neu erwachten Glauben an die individuelle Entfaltung des Menschen in Kunst, Wissenschaft und Denken und die Rückkehr zu antiken Idealen. 

So erwarten viele Experten auch heute wieder den Anbruch eines neuen Zeitalters der Menschheit, in dem künstliche Intelligenz (KI) als horizontale Integration der wissenschaftlichen Forschung gemeinsam mit dem Menschen neue Produkte, Technologien, mathematische Modelle und Erfindungen generieren wird, welche die Zivilisation der Welt um 100 Jahre in die Zukunft befördern. Gleichzeitig soll das Interesse der Bevölkerung an philosophischen Fragen zu Sinn und Ethik wieder zunehmen, wie damals bei den antiken Griechen und Römern. 

Eine kühne Vision: Maschinen, die Medikamente gegen Krebs oder Demenz mitentwickeln und in Physik, Chemie und Biologie mitforschen, als wären sie echte Wissenschaftler. Heute wird diese Vision Schritt für Schritt Realität. In den Biotech-Labors im Silicon Valley und auch den Pharmabüros der Schweiz wird KI zum Co-Forscher in der Arzneimittel- und Wissenschaftsentwicklung.

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Geschwindigkeit und drastische Kostensenkungen

Gerade die Pharmaindustrie galt bisher als einer der teuersten und langwierigsten Forschungsbereiche. Im Schnitt dauert es 10 bis 15 Jahre, bis ein neues Medikament auf den Markt kommt; die Kosten liegen im Schnitt bei über zwei Milliarden Dollar pro Wirkstoff. Neun von zehn Versuchen scheitern. Ganze Laborteams testen über Jahre hinweg Moleküle, nur um am Ende feststellen zu müssen, dass der Wirkstoff doch nicht wirksam oder sicher genug ist.

Benjamin Bargetzi zählt zu Europas meistgefragten Vordenkern im Bereich Künstliche Intelligenz und Neuroforschung. Er berät globale Grössen wie Klaus Schwab zu Zukunftstechnologien und arbeitete für Google, Amazon und das WEF.

Die KI verspricht, dieses System radikal zu verändern. «Ein Algorithmus kann sehr schnell lernen, wie ein gesunder und wie ein kranker Mensch aussieht», so Mary Rozenman, Chief Business & Finance Officer der amerikanischen Biotech-Firma Insitro. «Diese Unterschiede werden dann von der KI bis auf die neuronale und zelluläre Ebene herunter analysiert, woraufhin sie experimentell neue Lösungen und Vorschläge erstellt, um Patienten zu heilen.» Mit maschinellem Lernen will die Branche nicht nur schneller forschen, sondern den gesamten Medikamentenprozess neu denken. «Von der Generierung neuer Ideen und Forschungshypothesen über die biochemische Zusammensetzung von neuen Molekülen bis hin zum Manufacturing der Stoffe in der Fabrik: KI kann in jedem Schritt des Prozesses und der pharmazeutischen Lieferkette fundamental mithelfen», so Rozenman.

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Und weiter: «Bald schon wird die KI in der Lage sein, aus gewaltigen Sets von Bild-, Zell- und Genetikdaten kausale Simulationen über den Erfolg von Medikamenten zu erstellen, die den kostspieligen Try-and-Error-Prozess der heutigen Industrie um Jahre verkürzt», verspricht sie. Das Ziel sei es, eine Krankheit dank KI und Daten derart tiefgehend zu verstehen, dass man die erfolgreiche medizinische Bewilligung eines Medikaments von Anfang an mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen kann, bevor man mit den eigentlichen Tests beginnt. Dennoch warnt Rozenman: «Die Pharmaindustrie muss vorsichtig sein, in dieser neuen Geschwindigkeit keine Schritte der tiefgehenden medizinischen Prüfung zu überspringen. Wir wollen dank KI bessere Medikamente herstellen für Menschen in Not. Doch der Tag, an dem wir Geschwindigkeit über sorgfältige Evidenz stellen, ist der Tag, an dem unsere Industrie zugrunde geht.» 

Die Schweizer Konzerne Roche und Novartis gaben keine Auskunft zum jetzigen Stand ihrer KI-Forschungsgrundlagen.

Generative KI für Moleküle: Milliardenkombinationen in Sekunden

Ein weiteres Beispiel für diesen Paradigmenwechsel liefert das AI Institute IDSIA USI-SUPSI im Tessin mit 150 Angestellten. Dort arbeitet man zusammen mit der ETH und der EPFL an einem chemischen Sprachmodell. «Statt Wörtern generieren wir Moleküle», erklärt Professor Andrea Emilio Rizzoli, Direktor des IDSIA USI-SUPSI. Die KI analysiere nicht Texte, sondern den Raum aller möglichen chemischen Kombinationen. Das ist eine Zahl mit 80 Nullen. Ziel ist es, dank KI neue potenzielle Medikamente zu erfinden, die sich der Mensch alleine bisher nicht vorstellen konnte.

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Wirtschaftlich attraktiv: Das System kann gezielt Substanzen finden, die noch nicht patentiert sind. Anwendungsfelder gibt es viele. Etwa in der Krebsmedizin, bei neurodegenerativen Krankheiten oder in der Ernährungstechnologie. Auch in der Materialforschung entstehen neue Anwendungen: Von Arzneien über Kleidung bis hin zu Kunststoffen forscht die KI mit.

Doch auch hier droht ein bekanntes Problem aus der KI-Welt: das Halluzinieren. «Wie unterscheiden wir eine echte medizinische Innovation von algorithmischem Unsinn?», fragt Rizzoli. Hier beginnt die nächste Herausforderung: die regulatorische Prüfung. Denn selbst wenn ein Molekül am Computer perfekt aussieht, steht der Beweis im Labor erst noch aus. Dennoch bleibt Rizzoli optimistisch: «Die KI-gestützte Arzneientwicklung wird die Kosten eines neuen Medikaments um bis zu 50 Prozent senken.» Weiter führt er aus: «Während beim Menschen rund 90 Prozent der entwickelten Medikamente in der klinischen Entwicklung scheitern, verdoppelt die KI die Erfolgswahrscheinlichkeit heute schon um den Faktor 2. Und wir stehen erst ganz am Anfang der Revolution.»

Die US-Zulassungsbehörde FDA, die europäische EMA und Swissmedic sind vorsichtig. Nicht alle haben Vertrauen in Medikamente, die aus dem Rechner kommen. «Die Menschen haben irrationalerweise mehr Angst davor, KI-generierte Arzneien zu schlucken als menschlich erfundene. Dabei arbeitet die KI schon heute präziser als der Durchschnittsforscher», so Rizzoli.

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Auch die rechtlichen Fragen sind ungelöst. Muss es auf der Packung stehen, wenn ein Medikament von einer KI entwickelt wurde? Und wem gehört das geistige Eigentum? Den Forschern, den Firmen – oder dem Algorithmus selbst?

Longevity statt Luxus: Der Wandel der globalen Elite als Turbo für KI-Pharma

Die Nachfrage nach KI-Pharma kommt nicht nur aus den Labors. Sie kommt auch aus der Oberschicht der Gesellschaft. Der Julius-Bär-Report zeigt: Die globale Wealth-Elite verschiebt ihre Prioritäten. Statt Luxusuhren und Yachten steht immer häufiger die eigene Lebensverlängerung auf der Agenda. Zwischen 87 Prozent der High-Net-Worth Individuals (HNWI) in Nordamerika und 100 Prozent in Asien geben an, aktiv Massnahmen für ein längeres Leben zu ergreifen, von genetischer Therapie bis zu experimentellen Medikamenten.

Dr. Siham Ceballos, Genforscherin und Biotech-Unternehmerin aus Zug, forscht seit über 20 Jahren daran, wie man das Leben von Menschen verlängern kann. «Es steht ausser Frage, dass künstliche Intelligenz in der Genforschung Lösungen produzieren wird, die unsere Lebensspanne signifikant verlängern», so die Expertin. «Doch solche datenbasierte Prävention ist heute wohlhabenden und technikaffinen Menschen vorbehalten», relativiert sie. Doch: «Durch die proaktive Integration von KI-gestützten Gesundheitsprogrammen in die Krankenkassen könnten sich Langlebigkeit und die Vermeidung von chronischen Krankheiten vom Luxusgut zum gesellschaftlichen Standard wandeln.» Ungefähr 45 Prozent der heutigen Reichen leben in Nordamerika, 25 Prozent in Europa, 20 Prozent in Asien und 10 Prozent in der restlichen Welt.

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Pascal Kaufmann, Gründer der KI-Firma Starmind, sieht in der KI-Revolution einen strategischen Vorteil für den Forschungsstandort Schweiz. «Wenn wir es schaffen, Vertrauen in akademische KI-Anwendungen zu etablieren, wird die Schweiz mit ihren hohen Forschungsstandards eine globale Vorreiterrolle einnehmen. In Sachen Datenschutz, Rigorosität, Transparenz und ethischer Standards ist die Schweiz weltweit die Nummer 1.»

Weitere Rankings (1, 2, 3) zeigen: Die Schweiz wird nicht mehr nur als Banken-, sondern zunehmend auch als Gesundheits- und Biotech-Standort wahrgenommen. Der Luxus der Zukunft ist Gesundheit.

Blütezeit von Wissenschaft und Kultur?

Künstliche Intelligenz als Co-Autorin der Wissenschaft, schneller, präziser – und vielleicht sogar kreativer als der Mensch. Die Vorstellung einer Gesellschaft, in der Wissenschaftler dank KI-Simulationen in neuen Dimensionen von Kreativität, Vorstellungsvermögen und Innovation jenseits der heutigen Grenzen forschen, ähnlich so, wie es die Künstler und Denker der Renaissance einst jenseits des dogmatischen Mittelalters taten, wird realistischer denn je. 

Die KI-Revolution verspricht nicht nur eine Veränderung der Pharma- und Lifesciences-Industrie, sondern der wissenschaftlichen Prozesse selbst: KI-Lösungen werden integraler Bestandteil forschender Teams, fördern Produktivität und ersetzen mühselige Prozesse wie Routinetätigkeiten und Datenauswertung, was die Forschungsprozesse weltweit rapide beschleunigt. Der Mensch konzentriert sich auf das, was Maschinen noch nicht können: Freude, Neugier, Sinn.

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Gleichzeitig werden medikamentöse Fortschritte für die Bekämpfung von Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Demenz wahrscheinlicher dank der hyperschnellen Analysen der Maschinen. Und auch exotische Experimente wie die Verlängerung eines menschlichen Lebens dank neuer Medikamente und Gen-/Zelltherapien um bis zu 40 bis 50 Jahre werden gemäss Harvard-Professor David Sinclair denkbar. Jedenfalls für die Reichsten unter uns.

Wenn wir es schaffen, KI als humanitäres Forschungsinstrument zu begreifen und nicht als reines Consumer-Tool, als eine Erweiterung unseres tief menschlichen, kollektiven Erkenntnisdrangs, dann könnten wir tatsächlich an der Schwelle zu einer Ära stehen, in der Wissenschaft nicht länger von Ethik und Sinn getrennt wird, sondern gerade durch diese getragen ist. In der längere Lebenszeit kein Luxus mehr ist, sondern ein geteiltes Menschenrecht. In der die Grausamkeit von Tierversuchen vermieden wird, indem pharmazeutische Wirkstofftests virtuell simuliert und toxische Substanzen schon vorab erkannt werden. Eine Welt, in der Technologie nicht zu Entfremdung führt, sondern zu freudigem Fortschritt ins nächste Kapitel der Menschheitszivilisation.

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