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Von Kunst und Kommerz

Nischenparfums: Ist das noch Duft oder schon Kunst?

Parfums sind längst mehr als Duftwässerchen. Sie sind eine eigene ­Kunstform mit grossen Ambitionen und grossen Machern.

Weisses Viereck

Kristin Müller

Das Nischenparfum Portrait of a Lady von Frédéric Malle, dem Pionier der Nischenparfüm-Bewegung, erreichte Kultstatus.

Das Nischenparfum Portrait of a Lady von Frédéric Malle, dem Pionier der Nischenparfüm-Bewegung, erreichte Kultstatus.

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Parfum begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden. Schon im alten Ägypten, in Mesopotamien sowie später bei den Griechen und Römern spielten Duftstoffe eine zentrale Rolle – als rituelle Opfergabe, in religiösen Zeremonien oder als Zeichen des sozialen Status. Doch es war die arabisch-islamische Welt, wo die Verarbeitung aromatischer Essenzen verfeinert und zu einer eigenen Wissenschaft erhoben wurde: Der persische Gelehrte Avicenna gilt als einer der Ersten, denen es gelang, die Destillation von Rosenwasser zu perfektionieren – mit einer Technik, die später den Grundstein für die moderne Parfumherstellung legte.

Im 14.  Jahrhundert avancierte Florenz zum Mittelpunkt der europäischen Parfumkultur. Exotische Luxusgüter – Gewürze, Harze und aromatische Öle aus Asien und der arabisch-islamischen Welt – gelangten über die internationalen Handelsrouten auf die florentinischen Märkte und erfreuten sich rasch grosser Beliebtheit. Parfum erfüllte damals nämlich nicht nur ästhetische Zwecke: In Zeiten von Pest und mangelhafter Hygiene glaubte man, wohlriechende Düfte könnten Krankheiten fernhalten. So dienten Duftstoffe zugleich als Schmuck und Schutzschild – ein doppelter Nutzen, der ihre Popularität steigerte.

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Durch Katharina von Medici gelangte die Dufttradition Mitte des 16.  Jahrhunderts von Italien nach Frankreich, und schon bald wurde die im Hinterland der Côte d’Azur gelegene Stadt Grasse das neue Herz der europäischen Parfumkunst. Ursprünglich Zentrum der Leder- und Handschuhproduktion, nutzte man dort die Duftwasser, um gegerbte Lederwaren zu parfümieren. Aus dieser Tradition heraus entwickelte sich im 17. und 18.  Jahrhundert ein florierendes Parfumhandwerk.

Von der Kunst zur Masse

Im 19. Jahrhundert läutete die Entdeckung synthetischer Duftstoffe wie Vanillin und Coumarin die industrielle Ära der Parfumherstellung ein. Düfte konnten nun komplexer und vielfältiger komponiert werden und wurden gleichzeitig für ein immer breiteres Publikum erschwinglich. Im 20.  Jahrhundert etablierte sich Parfum endgültig als Massenprodukt, fest in den Händen globaler Mode- und Luxushäuser wie Dior, Givenchy oder Estée Lauder, welche die Produktion, die Vermarktung und die Distribution kontrollierten. Keine Maison ohne Duft – und keine lifestyleaffine Person, die nicht mindestens einen davon im Badezimmer stehen hatte. Doch kein Trend ohne Gegenbewegung.

Rückbesinnung

Die 1970er- und 1980er-Jahre markierten den Beginn einer Bewegung, die wir heute als Nischenparfümerie kennen – das Gegenstück zu industriell produzierten, massentauglichen Düften grosser Lifestylekonzerne. Hier wird Parfum nicht nur als Konsumgut verstanden, sondern als kultureller Ausdruck, als olfaktorische Kunstform. Im Zentrum stehen hochwertige Rohstoffe, meisterhaftes Handwerk und kreative Freiheit, die sich in mutigen, komplexen und oft bewusst polarisierenden Kompositionen manifestieren.

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Nischenparfums sind nicht für den Massenmarkt gedacht: Sie werden in kleinen Stückzahlen produziert und in ausgewählten Boutiquen oder Concept Stores vertrieben – weniger Marketing, dafür mit Fokus auf Qualität und Originalität. Die eingeschränkte Verfügbarkeit ist Teil der Identität und betont den Anspruch, anders zu sein, genauso wie die Aufwertung des Parfümeurs selber zur sichtbaren Autorfigur. Nischenmarken verstehen Duft nicht als Teil eines grösseren Markenuniversums, sondern als singuläres Kunstwerk – und verkaufen damit nicht nur olfaktorische Erlebnisse, sondern auch kulturelle Zugehörigkeit. Es waren nicht zuletzt sie, welche die Art und Weise verändert haben, wie Menschen Parfum tragen: Statt einem einzigen Signature-Duft treu zu bleiben, pflegen heute viele einen «Duftkleiderschrank» und wählen je nach Outfit, Stimmung oder Anlass das passende Parfum aus ihrer Sammlung.

Als einer der wichtigsten Wegbereiter der Nischenparfum-Bewegung gilt der Franzose Frédéric Malle. Im Jahr 2000 gründete er in Paris sein Unternehmen Editions de Parfums Frédéric Malle. Seine Vision: den Parfümeuren die volle kreative Kontrolle über ihre Kreationen zu gewähren – als Autoren der Düfte, die frei über Komposition, Zutaten und Stil entscheiden dürfen. Malle selbst verstand sich lediglich als eine Art Herausgeber: Er wählte die Künstler aus, kuratierte die Kollektion und stellte die Düfte vor. Über die Jahre hat er so Parfümeur-Ikonen wie Jean-Claude Ellena, Dominique Ropion oder Pierre Bourdon eine Plattform geboten, und Düfte wie Portrait of a Lady oder Carnal Flower erreichten Kultstatus. Im Frühling 2024 erklärte Malle nach fast 25 Jahren Erfolgsgeschichte seinen Rücktritt. Sein Unternehmen – seit 2015 Teil des Estée-Lauder-Konzerns – lebt weiter.

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Portrait of a Lady

<p>Portrait of a lady</p>
<p>Parfum</p>
<p>Die Kampagne und der Duft sind heute Kult.</p>
<p>Frédéric Malle hat mit Editions de Parfums Frédéric Malle Düfte zur Kunst erhoben.</p>
<p>Von Dominique Ropion gibt es 250 grosse Parfums, darunter Portrait of a Lady in der Malle-Kollektion.</p>
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Portrait of a Lady, Editions de Parfum Frédéric Malle.

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Nische versus Masse

Malle hat mit seiner Arbeit massgeblich dazu beigetragen, die Wahrnehmung von Parfum als Kunstform zu etablieren. Ermutigt vom neu entfachten Respekt für das Dufthandwerk, trat in den 2000er-Jahren eine Reihe neuer Duftmaisons an: 2006 lancierten Fabrice Penot und Eddie Roschi in New York Le Labo, und der Schwede Ben Gorham stellte sein Label Byredo vor. Ein Jahr danach folgte Kilian Hennessy mit By Kilian in Paris, 2009 gründete der Franzose Francis Kurkdjian seine Maison Francis Kurkdjian. Unzählige weitere folgten.

Denn was als Nische begann, wurde ganz schnell cool – und wirtschaftlich hochinteressant. Angelockt vom Neuen und Unkonventionellen sowie vom Image von Kunsthandwerk und Authentizität, verfielen mehr und mehr Kundinnen und Kunden dem Reiz der Düfte der noch unbekannten Kunsthandwerker. Die grossen Klassiker der Lifestylegiganten – Chanel No5, Miss Dior, Givenchy L’Interdit – büssten an Beliebtheit ein.

Während mit Marken wie Matiere Premiere des Franzosen Aurélien Guichard, Perfumer  H der Britin Lyn Harris oder Véronique Le Bihans Atelier Materi immer neue Parfümeure den Erfolg mit ihren eigenen Marken suchten, erkannte man in den Grosskonzernen, welche Gefahr, aber auch welche Chancen die Bewegung bot. 2014 übernahm Estée Lauder Le Labo, LVMH kaufte 2017 Maison Francis Kurkdjian. Unter den Dächern der mächtigen Marktriesen waren die finanziellen Mittel plötzlich grenzenlos. Die avantgardistischen Mini-Duftwerkstätten wurden zum weltweiten Phänomen.

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Nischenparfums und ihre Gründer

<p>Fabrice Penot (l.) und Eddie Roschi gründeten 2006 in Manhattan Le Labo, um zu den Ursprüngen der Parfumherstellung zurückzukehren. </p>
<p>Seit 2014 gehört die Marke Estée Lauder.</p>
<p>Ben Gorham gründete 2007 seine nischige Marke und hatte rasch Erfolg.</p>
<p>Die nischige Marke Byredo, gegründet 2007 von Ben Gorham, hatte rasch<br />Erfolg.</p>
<p>Francis Kurkdjian gründete 2009 seine eigene Maison. Er ist zudem Dior-Chefparfümeur.</p>
<p>Seine Maison ­verkaufte er 2017 an LVMH, ohne sie zu verlassen.</p>
<p>Kilian Hennessy, Spross aus der Hennessy-Dynastie, schlug 2007 mit seiner eigenen Parfumfirma einen eigenen Weg ein. </p>
<p>Seine Marke gehört inzwischen Estée Lauder.</p>
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Fabrice Penot (l.) und Eddie Roschi gründeten 2006 in Manhattan Le Labo, um zu den Ursprüngen der Parfumherstellung zurückzukehren. 

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Was als subkulturelle Bewegung begann, hat sich zu einem ernst zu nehmenden Markt entwickelt. Laut Branchenanalysen wächst das Segment der Nischenparfums schneller als dasjenige ihrer klassischen Konkurrenten. Für das laufende Jahr wird der globale Markt für Nischendüfte auf 4,9 Milliarden Franken geschätzt, bis 2034 soll er auf 9,6  Milliarden wachsen – getrieben von der steigenden Zahlungsbereitschaft einer urbanen, kosmopolitischen Kundschaft mit dem Bedürfnis nach Differenzierung in einer Gesellschaft, in der Massenprodukte je länger, desto mehr austauschbar erscheinen.

Über Nacht zum Hype

Denn heute ist Parfum, genauso wie es Kleider sind, Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, ein Mittel der Selbstinszenierung, das Stimmung, Charakter oder individuelle Vorlieben reflektiert. Es dient nicht mehr dazu, anderen zu gefallen – es hilft, sich selbst zu definieren, zu erleben und zu präsentieren. Während im Jahr 2000 noch ein Total von 705 neuen Düften lanciert worden war, waren es 2024 satte 9191, unter ihnen solche wie die des in Genf ansässigen Parfumhauses Amaffi, dessen 50‑ml‑Flakon mehrere Tausend Franken kostet. Die Nische ist Kult geworden – besonders auch in der digitalen Öffentlichkeit.

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Auf Plattformen wie TikTok hat sich über die letzten Jahre ein ganz eigener Duftkult entwickelt: Influencer wie Jeremy Fragrance oder Dimitri James alias The Fragrance Guy erreichen mit ihrem Content Millionen von Followern, sie diskutieren Kompositionen, kombinieren Düfte, kuratieren persönliche Parfumkollektionen und beeinflussen massgeblich die Art, wie speziell die Jungen Düfte wahrnehmen und tragen. Was als Nischenprodukt lanciert wird, kann so über Nacht zum globalen Hype werden – eine Dynamik, die Exklusivität und Handwerkskunst auf die Probe stellt.

Opfer des eigenen Erfolgs

Und genau hier zeigt sich das Spannungsfeld, in dem sich die Nischenparfümerie bewegt: Einerseits lebt sie von der Aura des Besonderen, vom Anspruch, sich von der Masse abzuheben. Anderseits führt der wachsende Erfolg zwangsläufig zu einer grösseren Verbreitung und damit zu einem gewissen Verlust an Exklusivität. Die Nischenparfümerie wird in gewisser Weise Opfer ihres eigenen Erfolgs: Je begehrter sie wird, desto stärker verschwimmen die Grenzen zum Mainstream – und desto schwerer fällt es, zu bestimmen, was noch als Nischenparfum gelten darf. Während einige Marken – Matiere Premiere, Atelier Materi – bewusst kleine Auflagen und handwerkliche Qualität betonen, erreichen andere wie Le Labo oder Byredo durch digitale Reichweite und globale Distribution Massenmärkte. Exklusivität und Individualität verschwimmen mit Popularität – eine Herausforderung, die zeigt, wie dynamisch und wandelbar das Feld der Nischenparfümerie geworden ist.

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Aber wie schlimm ist das? Denn hinter jedem Autorenduft steht die Leidenschaft der Parfümeure, ihr Streben nach künstlerischer Freiheit und die Freude an handwerklicher Perfektion. Wirtschaftlicher Erfolg und globale Bekanntheit müssen dem keinen Abbruch tun.

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