Guten Tag,
Sie finden, der Kult um schönes Design wird heute übertrieben? Dann kennen Sie die Shaker nicht. Design war für sie Religion.
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Ende des 18. Jahrhunderts emigrierte eine winzige protestantische Sekte aus England in die USA. Bei ihren Gottesdiensten praktizierten ihre Mitglieder seltsame Schütteltänze, weshalb man sie «die Shaker» nannte. Die Gruppe gründete Siedlungen in mehreren Bundesstaaten der noch jungen USA, wo sie sich von «der Welt» abgrenzte und eigene Gemeinschaften aufbaute. Design war – obwohl es den Begriff noch nicht gab – ein zentrales Credo darin. Gestaltung war gelebter Glaube, Ordnung und Präzision wurden als Abbilder der göttlichen Ordnung auf Erden gesehen. An den Schränken der Shaker hätte Marie Kondo ihre Freude gehabt: für jeden Inhalt eine andere Fachgrösse, eine Ode an die Ordnung. Die runden Aufbewahrungsboxen der Shaker wurden Verkaufsschlager, und ihre Stühle waren langlebig und schlicht perfekt gearbeitet.
Das Gestaltungstalent der Shaker erkannten auch viele Künstler, Designer und Architekten der Moderne, als sie nach Vorbildern suchten. Form follows function? Hatten die Shaker längst vorweggenommen. Less is more? Ebenfalls. Die Shaker wurden zur Legende, zu einem Mythos moderner Gestaltung, und diesem Mythos ist das Buch «Die Shaker. Weltenbauer und Gestalter» gewidmet. Faszinierende Fotos und Essays gehen darin der wechselvollen Geschichte der Shaker nach, die zu ihren besten Zeiten gerade mal 6000 Mitglieder umfassten. Sie zeigen, wie eine winzige religiöse Minderheit eine Ästhetik entwickeln konnte, die Generationen von Kreativen beeinflusste und sich tief ins Selbstverständnis der Vereinigten Staaten einschrieb (bei Barack Obamas Amtseinführung 2009 wurde die Shaker-Hymne «’Tis the gift to be simple» gespielt). Vertieft man sich in die Lektüre dieses Buches, so landet man schlussendlich bei grossen gesellschaftlichen Fragen: Gibt es eine Verbindung von Glauben und Gestaltung? Wie weit ist es von der Utopie zur Weltverbesserung?
Das Interessante sind dabei nicht unbedingt die religiösen Ideale der Shaker, sondern deren Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten (ein Shaker bezeichnete die Gruppe einmal als «kapitalistische Kommunisten»). Leider beruht auch das Verschwinden der Shaker auf einem solchen Widerspruch: Die Gruppe lebte streng zölibatär, konnte sich also nur durch Aufnahme neuer Mitglieder reproduzieren. Ergebnis: Heute gibt es noch drei lebende Shaker. Eines der letzten Mitglieder sagte einmal: «Ich möchte nicht als Stuhl in Erinnerung bleiben.» Na dann – lesen Sie dieses Buch.
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