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Austern

Der Geschmack des Meeres

Die kompromissloseste Delikatesse überhaupt – man liebt oder hasst sie. So schmeckt das Luxusprodukt am besten.

David Schnapp, Senior Editor GaultMillau-Channel

David Schnapp

<p>Glitschig oder göttlich? Hinter der felsenharten Schale verbergen sich ein Geruch und ein Geschmack wie ein Tag am Meer.</p>

Glitschig oder göttlich? Hinter der felsenharten Schale verbergen sich ein Geruch und ein Geschmack wie ein Tag am Meer.

Fabian Haefeli für BILANZ

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Viele Geniesser haben eine launige Anekdote aus ihrer kulinarischen Biografie auf Lager, die eine schlechte Auster und die unangenehmen körperlichen Folgen davon beinhaltet. Oft war es dann auch die letzte Auster für die Betroffenen. Austern polarisieren, man liebt oder hasst sie, dazwischen gibt es nichts. Geruch, Geschmack, Konsistenz sind für die einen wie ein Tag am Meer, andern verschlagen der intensive süss-salzige Geschmack von Jod und die glitschig-geleeartige Konsistenz unmittelbar den Appetit.

Selbst unter Spitzenköchen gibt es beim Thema Austern keine Kompromisse: Der vielseitige Andreas Caminada etwa, der auf seinem mit 19 «GaultMillau»-Punkten und drei «Michelin»-Sternen ausgezeichneten Schloss Schauenstein vorwiegend auf regionale Produkte setzt, mag Austern überhaupt nicht. Die Muscheln mit der felsenharten Schale kommen deshalb bei ihm nicht auf den Tisch. Ganz anders Peter Knogl, der Küchenchef des «Cheval Blanc» in Basel, ebenfalls mit 19 Punkten und drei Sternen ausgezeichnet. Er steht im Fünfsternhotel Les Trois Rois für eine aufs Wesentliche reduzierte klassische Küche mit überragenden Saucen und klassischen Luxusprodukten.

Die Auster hat einen festen Platz im Menü von Peter Knogl, «aber nur in den Monaten mit R – von September bis April. Danach ist das Meer zu warm», sagt der Küchenchef. Knogl gilt in der Auswahl von Produkten, die er in seiner Küche verarbeitet, als geradezu pedantisch. So scheut er sich nicht, auch mal Dutzende Kilogramm Fleisch zurückzuschicken, wenn er von dessen Qualität nicht überzeugt ist. Auch bei Austern hat der gebürtige Bayer klare Vorstellungen: Er bevorzugt Muscheln aus Frankreich und bestellt konsequent Gillardeau No. 2. Diese Austern sind nach Grösse kalibriert, No. 2 ist 90 bis 105 Gramm schwer, No. 1 wiegt etwa 120 Gramm. Um die Echtheit zu garantieren, wird jede Auster mit einer Laser-Gravur – einem stilisierten «G» – versehen.

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<p>Bei Spitzenkoch Peter Knogl vom «Cheval Blanc» in Basel haben ­Austern einen festen Platz im Menü.</p>

Bei Spitzenkoch Peter Knogl vom «Cheval Blanc» in Basel haben Austern einen festen Platz im Menü.

Fabian Haefeli für BILANZ
<p>Bei Spitzenkoch Peter Knogl vom «Cheval Blanc» in Basel haben ­Austern einen festen Platz im Menü.</p>

Bei Spitzenkoch Peter Knogl vom «Cheval Blanc» in Basel haben Austern einen festen Platz im Menü.

Fabian Haefeli für BILANZ

Diese Muscheln werden nach einer speziellen Zuchtmethode in der Region Marennes-Oléron an der französischen Atlantikküste produziert, bei der sie lange Zeit in speziellen Becken veredelt werden. «Die Austern werden abwechslungsweise in Becken mit verschiedenen Wassertemperaturen gegeben, was den Muskel der Muscheln stärkt», erklärt Knogl. Ausserdem würden sie sehr gründlich in sauberem Wasser gespült, um Sand und Schlamm zu entfernen und sie von allfälligen Schadstoffen und Partikeln zu befreien. Austern sind schliesslich eine Art natürliches Filtersystem im Meer.

Delikatesse und Lebender Bio-Filter

In New York, auf der anderen Seite des Atlantiks, gibt es seit vielen Jahren ein Projekt, bei dem Austern als eine Art lebender Bio-Filter gezüchtet werden, um den verschmutzten Hudson River und den Hafen auf ökologische Weise zu reinigen. Diese Austern sind natürlich nicht mehr für den Verzehr gedacht, aber das Projekt «Billion Oyster Project» zeigt die Bedeutung der Auster als entscheidender Teil des maritimen Ökosystems. Biologen gehen davon aus, dass um den New Yorker Hafen einst die Hälfte der Austern-Weltpopulation gelebt hat, bevor die Ausscheidungen der Industrialisierung ihren Lebensraum kontaminiert haben. Die Austern waren gewissermassen fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der Städte an der Ostküste, wie der britische Schriftsteller Charles Dickens (1812–1870) in seinem Reisebericht «American Notes» begeistert schrieb. Zum Unterschied zwischen einem Abendessen in London und Boston merkt er an, dass die Amerikaner «zu jedem Abendessen mindestens zwei riesige Schüsseln mit heissen Austern servieren, in denen jeweils ein halbwüchsiger Herzog von Clarence leicht ersticken könnte». In New York berichtet Dickens von Lokalen, wo «Austern serviert werden, die fast so gross sind wie Käseplatten».

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<p>Austern geniesst man in Monaten mit R – von Mai bis August ist das Meer zu warm.</p>

Austern geniesst man in Monaten mit R – von Mai bis August ist das Meer zu warm.

Fabian Haefeli für BILANZ
<p>Austern geniesst man in Monaten mit R – von Mai bis August ist das Meer zu warm.</p>

Austern geniesst man in Monaten mit R – von Mai bis August ist das Meer zu warm.

Fabian Haefeli für BILANZ

Der amerikanische Journalist Mark Kurlansky beschreibt in seinem Bestseller «The Big Oyster» aus dem Jahr 2007, wie wichtig die Muschel nicht nur für das kulinarische Leben der Stadt, sondern auch für ihre Geschäfte und sogar ihre Gebäude war. Kurlansky weist darauf hin, dass die Trinity Church in Lower Manhattan mit Austernschalenmörtel gebaut wurde und die nahe gelegene Pearl Street, die ursprünglich am Wasser lag, ihren Namen von einem «Midden» erhielt, einem Berg aus weggeworfenen Muscheln, der sich offenbar in ihrer Nähe befand.

Erste Gourmandise der Menschheit

Die Auster ist nicht nur eine polarisierende Delikatesse und ein besonderes Wasserwesen, sie hat auch einen aussergewöhnlichen Bezug zum Menschen. Sie ist ein seltenes Beispiel für ein Tier, das im Allgemeinen roh und als Ganzes gegessen wird. Anthropologen glauben, die Auster sei das erste Tier überhaupt gewesen, das die Menschen kultiviert haben. Prähistorische Abfallhaufen lassen diesen Schluss zu. Unsere Vorfahren sammelten Austern in den Gezeitenzonen und brachten die Schalen später dorthin zurück, damit sich die nächste Generation an etwas Hartem festhalten konnte. Gemäss dem kulinarischen Standardwerk «Larousse Gastronomique» galten Austern schon bei den Kelten und Römern als Delikatesse, aber die Ersten, die sich in der systematischen Aufzucht versucht haben, waren die Griechen. Ihren Ruf als Aphrodisiakum wiederum verdankt die Auster Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798). Der venezianische Dichter und Frauenheld soll Unmengen der Muscheln gegessen haben.

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Auch bei der Frage, wie man Austern essen soll – roh, pochiert oder gar überbacken –, scheiden sich die kochenden Geister. Der französische Meisterkoch Auguste Escoffier (1846–1935), der auch «König der Köche» genannt wird, schrieb in seinem stilprägenden Grundlagenbuch «Le guide culinaire» über Austern: «Wenn es auch die eigentliche Bestimmung dieses vorzüglichen Muscheltieres ist, roh verspeist zu werden, so hat die kulinarische Praxis dennoch zahlreiche andere Zubereitungsarten erfunden.» Auch Peter Knogl hat auf die Frage, wie Austern am besten serviert werden, eine klare Antwort: «Gratinierte Austern sind Geschmackssache.» Servieren würde er sie selbst nicht, da der Eigengeschmack unter der Panade leide. Ausserdem sei diese Art der Zubereitung, die bei Escoffier «Huîtres au Gratin» oder «Huîtres Wladimir» (mit eingekochter Geflügelrahmsauce, Parmesan und Paniermehl glasiert) heisst, «etwas vorbei».

Roh oder im eigenen Saft gegart

Im «Cheval Blanc» gibt es Austern entweder als kalte Vorspeise oder als warmen Zwischengang. Für die erste Zubereitungsart wird die Muschel ausgelöst – und zwar immer erst kurz vor dem Servieren. Dafür nimmt Peter Knogl ein Austernmesser mit der typischen kurzen, kräftigen Klinge und führt es, während die Muschel mit der flachen Seite nach oben auf einer rutschfesten Unterlage liegt, im hinteren spitzen Teil zwischen die beiden Schalenhälften. Dort sitzt das Gelenk, das zuerst durchtrennt wird. Danach fährt der Koch mit der Klinge rundherum, bis der Widerstand im Wortsinn gebrochen ist.

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<p>Selbst die Frage, wie man Austern essen soll – roh, pochiert oder gar überbacken –, polarisiert.</p>

Selbst die Frage, wie man Austern essen soll – roh, pochiert oder gar überbacken –, polarisiert.

Fabian Haefeli für BILANZ
<p>Selbst die Frage, wie man Austern essen soll – roh, pochiert oder gar überbacken –, polarisiert.</p>

Selbst die Frage, wie man Austern essen soll – roh, pochiert oder gar überbacken –, polarisiert.

Fabian Haefeli für BILANZ

Befindet sich ausreichend Austernsaft in der Schale, ist das ein gutes Zeichen für die Frische der Muschel. Die Flüssigkeit wird aufgefangen und später für das Abschmecken von Saucen verwendet. Mit einer Schere trennt Knogl jetzt den sogenannten Bart und den Darm ab, sodass nur der Muskel übrig bleibt. Für den rohen Genuss wird dieser noch einige Minuten in Wasser gespült, «damit die Auster nicht zu salzig ist». Vor dem Servieren wird er zurück in eine besonders vorzeigbare, gesäuberte Schalenhälfte gelegt. Mit einem Gelee aus Ponzu und Yuzu und der feinen, säuerlich-mandarinenartigen Zitrusnote von Sudachi wird daraus ein subtiler, frischer und zart-jodiger Bissen.

Eine lohnende Alternative zu dieser eher feinsinnigen Zubereitungsmethode ist, die Austern in ihrer eigenen Schale sanft zu garen. «Wir dämpfen die Muschel während fünf Minuten bei 70  Grad im Steamer», erklärt Knogl. Dadurch wird sie fester und bleibt sehr zart, ausserdem wird sie pasteurisiert. Durch das Garen im eigenen Saft intensiviert sich der Geschmack der Auster. Für das warme Gericht sei das wichtig, sagt Knogl. Der Koch möchte den Jodgeschmack der Muscheln hervorheben, deshalb brauche es eine Sauce mit ausreichend Säure. Ein Knogl-Klassiker ist die Beurre blanc mit exquisitem Château-Chalon-Wein aus dem Jura. Dazu gibt es einige zu Miniatur-Rhomben geschnittene grüne Lauchstücke. «Zwiebelgewächse passen ausgezeichnet zu Austern», sagt Knogl. Und schliesslich kommt etwas Amur-Kaviar Imperial dazu, um das Bild eines klassischen luxuriösen Gerichts zu vervollständigen. «Besondere Produkte wie Austern sollte man nicht verfälschen – zwei bis drei Zutaten reichen», erklärt Peter Knogl seine Idee dieses Gerichts.

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<p>Etwas Amur-Kaviar Imperial vervollständigt das Bild eines klassischen luxuriösen Gerichts.</p>

Etwas Amur-Kaviar Imperial vervollständigt das Bild eines klassischen luxuriösen Gerichts.

Fabian Haefeli für BILANZ
<p>Etwas Amur-Kaviar Imperial vervollständigt das Bild eines klassischen luxuriösen Gerichts.</p>

Etwas Amur-Kaviar Imperial vervollständigt das Bild eines klassischen luxuriösen Gerichts.

Fabian Haefeli für BILANZ

Im Gourmettempel oder an der Austernbar

Dazu wird natürlich ein Glas Champagner serviert. Dafür ist Christoph Kokemoor zuständig, seit fast zwei Jahrzehnten Sommelier im «Cheval Blanc» und mit dem «World’s Best Sommelier Les Grandes Tables du Monde Award 2022» ausgezeichnet. Zur rohen Auster empfiehlt er einen mineralischen Blanc de Blancs wie den Agrapart & Fils 7 Crus Extra Brut. «Dieser reine Chardonnay hat keine Bitternoten und passt perfekt zur Auster», sagt Kokemoor. Weil das warme Gericht aber auch Kaviar enthält, wählt er dazu einen Laurent-Perrier 2012 – eine Cuvée aus Chardonnay und Pinot noir. «Die Reife des Champagners verbindet sich mit den erdigen Noten des Gerichts und unterstützt die Struktur und die Cremigkeit der Sauce», sagt er. Wer anstelle des klassischen französischen Luxus-Duos Austern und Champagner lieber Weisswein zur Muschel trinkt, dem rät der erfahrene Sommelier zu einem «ganz leichten, säurebetonten Weisswein wie einem weissen Bordeaux oder Meursault».

Im «Cheval Blanc» in Basel zeigt sich die geschmacksintensive Muschel beispielhaft als fester Bestandteil des Speisekanons der gehobenen Küche. Aber das kontrastreiche Meeresprodukt hat – durchaus passend zu seinem polarisierenden Ruf – auch eine ganz andere, bodenständige Seite. Gerade im Winter stellt mancher Gastronom gern eine Austernbar vor sein Lokal, wo die Muscheln auf Eis liegen und im Dutzend mit etwas Zitronensaft oder Schalotten-Vinaigrette gegessen oder geschlürft werden. Ob als Gourmetzutat oder als schnelles Vergnügen zwischendurch: Kenner raten in jedem Fall dazu, Austern nicht bloss zu schlucken, sondern zu kauen. Nur so entfaltet sich der volle mineralische Jodgeschmack des Meeres. Und darum geht es ja – jedenfalls bei den Liebhabern dieser aussergewöhnlichen Delikatesse.

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Die besten Austern

<p>Food and drink pairing, Fresh raw European flat oysters grown in Brittany in Belon river, France, close up and scotch single malt whisky from Islay island, Scotland</p>
barmalini
<p>Food and drink pairing, Fresh raw European flat oysters grown in Brittany in Belon river, France, close up and scotch single malt whisky from Islay island, Scotland</p>
barmalini

Weltweit gibt es rund 120 Austernarten, in Europa wird mehrheitlich die Pazifische Felsenauster gezüchtet. Die Fines-de-Claire-Austern beispielsweise kommen aus der Bretagne und der Normandie und gelten als europäischer Bestseller. Durch eine nur rund einmonatige Verweildauer in mineral- und nährstoffreichen Becken werden sie gereinigt und nachgereift. Spéciales de Claire ist die Bezeichnung für besonders edle Austern, die einen Monat länger in den «Claires» (natürliche Klärbecken und Kanalsysteme) verweilen und zusätzliche Nahrung bekommen.


Eine Besonderheit sind die seltenen, langsam wachsenden – und entsprechend teuren – Bélon-Austern, die ihren Namen von dem französischen Fluss an der Atlantikküste haben. Da sie zwischen Süss- und Salzwasser leben, haben diese Rundaustern einen nussigeren und feineren Geschmack.


Seit 1986 wird im Wattenmeer vor der Insel Sylt die einzige Auster made in Germany gezüchtet. Die Sylter Royal wird auf nachhaltige Art in Handarbeit geerntet, geprüft und sortiert.


Die Familie Gillardeau züchtet seit 1898 Austern, die nach einem speziellen Verfahren während bis zu drei Jahren in Verfeinerungsbecken nachgereift und gereinigt werden. So entsteht ein ausbalancierter Geschmack zwischen Mineralität und Süsse. Die Gillardeau-Austern werden unter anderem in den Elysée-Palast des französischen Präsidenten geliefert.


In der niederländischen Provinz Zeeland an der Nordseeküste werden die bekannten Zeeuwse Platte (Europäische Auster) und Zeeuwse Creuse (Pazifische Auster) gezüchtet. Die Austernfischerei findet ausschliesslich in der Oosterschelde und im Grevelingenmeer statt.

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