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Mit diesen Innovationen trumpft die Uhrenbranche

Technisch betrachtet sind mechanische Uhren so überholt wie die Dampflokomotive. Und doch quietsch­lebendig – dank ruhelosen Köpfen mit ­Antennen zum Zeitgeist.

Timm Delfs

Zenith

Neue Farbenwelt: Zenith Defy Extreme Felipe Pantone dank der Positive Coating SA.

PD

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Nachdem ihre Physik eingehend erforscht worden ist, ist die mechanische Uhr ein voll ausgereiftes Produkt, von dem keine grossen Überraschungen mehr zu erwarten sind», schrieb Lucien Trueb im Buch «Die Zeit der Uhren», erschienen 1999.

Trueb war einer der renommiertesten Autoren zu Uhren und ihrer Technologie. Doch nicht einmal er konnte damals offenbar kommen sehen, zu welchen Innovationsschüben die Uhrenindustrie fähig sein würde, um die mechanischen Zeitmesser so zu stärken und zu positionieren, dass nicht einmal die multifunktionalen Hightech-Smartwatches zur Gefahr geworden sind. Im Gegenteil: Mechanische Uhren sind total en vogue.

Nur zwei Jahre nach Erscheinen von Truebs Fachbuch entdeckten findige Uhrmacher das Silizium für sich. Dieser Halbleiter aus der Computertechnik besitzt exzellente Eigenschaften für bestimmte Elemente in einem mechanischen Uhrwerk, namentlich für die Hemmung. Diese ist in jeder mechanischen Uhr absolut essenziell, verbindet das Räderwerk und den Gangregler und bestimmt den Takt, in dem sich die Zeiger bewegen.

Hier sind Materialien gefordert, die leicht, hart, elastisch und zugleich amagnetisch sind – alles Eigenschaften von Silizium. Der Einsatz dieses Materials wurde zu einer Schlüsseltechnologie für nicht magnetisierbare Unruhspiralen. Die Errungenschaft ist bahnbrechend in einer Zeit omnipräsenter Magnetfelder – und von einer Handvoll Uhrenmarken noch patentrechtlich geschützt.
 

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Streben nach Präzision

Omega ist eine davon. Der Bieler Uhrenhersteller hat jüngst in Sachen Ganggenauigkeit eine Innovation präsentiert, die für die mechanische Uhr einen bedeutenden Schritt darstellt, da damit ein Uhrwerk noch genauer eingestellt werden kann als zuvor, und mit der ein mechanisches Räderwerk schon sehr nahe an die in ihrer Präzision nach wie vor unerreichte Genauigkeit einer Quarzuhr herankommt: Das System heisst «Spirate» und beruht auf einer Unruhspiralfeder aus Silizium.

 

Es dient dem Finetuning des Schwingsystems. Die Tickfrequenz jedes Werks kann damit aufs Genaueste reguliert werden – ähnlich wie ein Klavierstimmer einen Flügel stimmt. Mit dem «Spirate»-System kann der Gang der Uhr in Schritten von 0,1  Sekunden auf 24 Stunden eingestellt werden. Und Omega kann bei Kalibern mit diesem System eine Garantie auf eine maximale Abweichung von 0 bis +2 Sekunden pro Tag gewähren.

So komplex eine fertige Uhr mit ihren Hunderten von Bestandteilen ist, so komplex ist auch die Industrie, der sie entspringt. Die Werbung gaukelt gern vor, dass es Uhrenmarken gebe, die von A bis Z alles selber herstellten. Stimmt nicht: An der Entstehung sind zahllose mittlere, kleine, winzige Unternehmen beteiligt, die nie öffentlich in Erscheinung treten.

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Sie fertigen Federn, Zahnräder, Unruhen, Schrauben, Zifferblätter, Zeiger, Gehäuse, Armbänder, Saphirgläser und vieles mehr. Sie sind hoch spezialisiert und meistens nicht nur Zulieferer der Marken, sondern auch an Innovationsprozessen beteiligt. Der Bogen dafür ist weit, er spannt sich von der noch rationelleren oder präziseren Herstellung einer Komponente bis hin zur Realisation einer verrückten Idee.

Im Effekt heisst das, Zulieferer wie Uhrenmarken entwickeln sich miteinander ständig weiter, befruchten sich gegenseitig. Daher ist es oft gar nicht so einfach, den Ursprung einer Innovation zuzuordnen.
 

Faible für den Zeitgeist

Die 1980 gegründete Firma Biwi aus Glovelier beispielsweise war ursprünglich ein Hersteller von Gummidichtungen für Uhrengehäuse. Heute ist sie absolute Spezialistin für alles, was mit Kautschuk und Kunststoffen zu tun hat, und stellt sogar Gehäuse für Uhren aus den exotischsten synthetischen Materialien her.

Die jüngste Entwicklung ist ein ultraleichtes, 25-teiliges Gehäuse aus einem Karbonmix – den Biwi sogar in Farbe liefern kann – für das Modell Wild One von Norqain, einer jungen Schweizer Uhrenmarke. Ein Gummistossdämpfer im Gehäuse schützt das mechanische Werk in dieser Outdoor-Uhr wirksam vor Erschütterungen.

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Farbe hat nicht nur bei Gehäusen aus modernen Materialien Konjunktur, sondern auch auf Zifferblättern, insbesondere wenn es dunkel wird. Davon versteht weltweit niemand mehr als die Firma RC Tritec im appenzellischen Teufen. Im Familienbetrieb unter der Leitung von Albert Zeller wird der berühmte Leuchtstoff Super-LumiNova hergestellt.

Den gab es lange Zeit nur in Grün und Weiss. Inzwischen haben Zeller und sein Team eine riesige Farbpalette im Sortiment. Einzelne der Leuchtstoffe, die für gewöhnlich auf Zeiger und Indizes aufgetragen werden, leuchten nachts in einer anderen Farbe als derjenigen, in der sie tagsüber erscheinen. Und neu bietet Zeller dreidimensionale Indizes an, die aus dem nachleuchtenden Material bestehen. Zusammen mit Biwi hat Tritec Super-BiwiNova entwickelt: Damit lässt sich auch in Gehäusen, Uhrwerksteilen und auf Armbändern mit Leuchtstoffen spielen.

Und wenn wir schon bei den Farben sind: Uhrwerke werden dank dem Trend zu skelettierten Zifferblättern und Saphirglasböden immer mehr zu einem Teil des Uhrendesigns – und das Thema Farbe gewinnt an Bedeutung. Das Unternehmen Positive Coating SA in La Chaux-de-Fonds hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich Metalloberflächen in allen Farben des Spektrums beschichten lassen – auf Wunsch auch gleich mit allen zusammen. Was dabei herauskommen kann, ist am Zenith-Modell Defy Extreme Felipe Pantone zu sehen.
 

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Fokus Nachhaltigkeit

Auch Umweltschutz und Nachhaltigkeit werden in der Uhrenindustrie hochgespielt – unbesehen der Tatsache, dass eine mechanische Uhr per se ja schon maximal nachhaltig ist: Ein Tröpflein Öl von Zeit zu Zeit – und sie läuft ewig. Aber item: Einer, der das Anliegen der Nachhaltigkeit auf die Spitze treibt, ist Nicolas Freudiger. Er hat 2020 mittels Crowdfunding die Marke ID Genève gegründet.

Seine Idee: eine neuwertige Uhr aus recycelten Materialien herzustellen und dabei möglichst wenig Abfall zu produzieren. Herausgekommen ist die Circular 1. Ihr Gehäuse besteht zu 98 Prozent aus wiederverwertetem Stahl aus der Uhrenindustrie. Die Kaliber sind Secondhand-Werke, die komplett überholt worden sind. Die Armbänder werden aus Grünabfällen hergestellt, und die Verpackung aus Seegras ist kompostierbar.

Ganz auf die Community setzt die 2016 gestartete Marke Code41, die von der Crowd nicht nur Geld einsammelte, sondern sie auch in den Herstellungsprozess einbezogen hat. So hiess das vom Initiator und Uhrendesigner Claudio D’Amore ins Leben gerufene Projekt ursprünglich Goldgena und wurde in Abstimmung mit den Followers schliesslich zu Code41.

Die Crowd hat auch über die Frage «Swiss made oder nicht?» abgestimmt und beim Design mitgewirkt. Im November 2017 wurden die ersten Code41-Uhren ausgeliefert – demnächst kommt eine Version mit Tourbillon. Um die Preise tief zu halten, verzichtet die Marke auf ein Händlernetz. Stattdessen wird jeder Käufer zum Markenbotschafter, der Bestellungen von Bekannten aufnehmen kann. Im Gegenzug erhält er für jede über ihn verkaufte Uhr zehn Prozent Provision.

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Ganz ähnlich tickt die Marke mit dem unaussprechlichen Namen Ba111od aus Neuenburg. Firmengründer Thomas Baillod, auf den der Markenname anspielt, kommt selbst aus der Uhrenindustrie und stiess sich schon länger an der Tatsache, dass rund 65 Prozent des Verkaufspreises einer Uhr in das Marketing und den Vertrieb versickern, während die Produktionskosten den geringsten Anteil ausmachen. Er entwickelte deshalb sein eigenes Modell des «Affluendors», einer Mischung aus Ambassador, Influencer und Vendor.

Ein Affluendor wirbt für das Produkt, verkauft es und wird am Gewinn beteiligt. Baillod präsentierte diese Idee bestehenden Uhrenherstellern, stiess aber nur auf taube Ohren. Deshalb gründete er seine eigene Marke, um zu zeigen, dass seine Vision funktioniert. Seine erste Uhr, ein wertiger, aber nicht aufwendig in China produzierter mechanischer Zeitmesser mit auffälligem Design, kostet 360 Franken – und verkauft sich im Testmarkt Schweiz gemäss Baillod hervorragend. Unterdessen ist seine Marke den Kinderschuhen entwachsen und bietet neu eine Uhr mit Tourbillon zum sensationellen Preis von rund 5500 Franken an.

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