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So leiden Büroklatsch und Gerüchteküche unter der Pandemie

Was auf den ersten Blick wie eine heilsame Nebenwirkung der Pandemie wirkt, wäre ein Verlust. Warum Klatsch und Tratsch im Büro wichtig sind.

Jenny Niederstadt

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Leise Stimmen, grosse Wirkung: Klatsch und Tratsch haben keinen guten Ruf, sind aber bedeutsamer für die Firmenkultur als gemeinhin angenommen.

iStock

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Das Buschtelefon vermeldete es, offenbar lange bevor die breite Öffentlichkeit davon Wind bekam. Das neue Modell wirke wie «von Clowns entworfen, die von Affen beaufsichtigt wurden», lästerten Mitarbeiter des Flugzeugbauers Boeing in Gesprächen über die Maschine vom Typ 737 Max. «Würdest du deine Familie in ein Flugzeug setzen, dessen Pilot an einem Max-Simulator geschult wurde? Ich nicht», fragte bereits Anfang 2018 ein Angestellter seinen Kollegen. «Nein», antwortete der.

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Wenig später stürzte eine erste 737 Max ab, im Jahr darauf eine weitere. Insgesamt verloren 346 Menschen ihr Leben. Heute wissen wir: Technische Probleme und mangelnde Schulungen haben zu den Katastrophen geführt. Die Abstürze wären vermeidbar gewesen – hätte die Boeing-Führung auf die Warnungen von Experten gehört. Oder auf die Gerüchte im eigenen Haus.

Denn es waren offenbar nicht bloss vage Vermutungen, die da kursierten: Schliesslich wurden die inzwischen bekannt gewordenen Äusserungen schriftlich per Mail ausgetauscht – also wahrscheinlich lange nachdem sie als Andeutungen in der Büroküche erstmals kursiert hatten.

Lästerei als Blitzableiter

Der Fall ist ein drastisches Beispiel dafür, wie bedeutsam mitunter die Neuigkeiten sind, die in Unternehmen über informelle Wege ausgetauscht werden. Es gibt Probleme mit einem Produkt? Eine unbequeme Managerin soll entlassen werden? Der Grosskunde führt Gespräche mit der Konkurrenz? Über solche Neuigkeiten wissen Mitarbeiter oft schneller Bescheid, als der Unternehmensführung lieb ist.

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Bei Gerüchten schlagen die Gespräche auf den Fluren aus wie Seismografen: Über neue Mitarbeiter wird dort genauso getratscht wie über das langweilige Meeting am Morgen oder die flapsigen Mails vom Chef. 90  Prozent aller Unterhaltungen im Büro seien solcher Klatsch und Tratsch, ergab eine Erhebung der Universität Amsterdam. Einem Trugschluss sollte man deshalb nicht aufsitzen: dass also nur 10 Prozent relevant sind.

««Oft zeigt das Gerede über abwesende Dritte ja gerade, dass einer Person interessant ist.»»

Tim Hagemann, Arbeits- und Organisationspsychologe

Das Verhältnis des Büromenschen zu Lästereien ist seit je gespalten. Einerseits giert er nach Gerüchten aller Art, saugt auch ohne jeden Beleg die Erzählungen über angebliche Affären, bevorstehende Abgänge und menschliche Schweinereien auf. Anderseits plagt ihn das schlechte Gewissen. Jeder zweite deutsche Angestellte erklärte bei einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov, im Job sei das Lästern über Kollegen für ihn tabu.

Glaubwürdig ist dies nicht: Kommunikationsforscher betonen, dass fast jeder Mensch tratscht, Männer genauso häufig wie Frauen, jüngere Menschen etwas mehr als ältere. Rund 52 Minuten verbringen wir damit täglich, wie eine Studie der University of California in Riverside ergab. Und Psychologen erklären, dass wir das Lästern brauchen – als Blitzableiter, Warnsignal und Freundschaftsdienst.

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Internet stellt Hürde dar

Rein technisch gesehen, lässt sich die Gerüchteküche zwar problemlos ins Internet übertragen. Doch viele Mitarbeiter nutzen Kanäle wie Teams, Skype oder Slack nur zögerlich für privaten Austausch, beobachtet Christiane Stempel, Arbeitspsychologin an der Fernuniversität Hagen in Deutschland: «Manche fürchten, dass ihre Äusserungen dort aufgezeichnet und gegen sie verwendet werden könnten, andere empfinden die Technik an sich als Barriere.»

Online ist es zudem viel schwieriger, die beim Lästern so wichtigen Zwischentöne herauszuhören, etwa ob das Gegenüber ernsthaft empört oder eher belustigt ist. So stellt sich nach bald einem Jahr im Corona-bedingten Ausnahmezustand die Frage, ob es irgendwann Folgen haben wird, dass mit der Verbannung ins Homeoffice viele Kanäle für den informellen Austausch verloren gegangen sind. Und wenn ja, was dann schwerer ins Gewicht fällt: der erfreuliche Rückgang der ausgetauschten Bösartigkeiten – oder der Verlust an sozialem Kitt, der Motivation und Arbeitseifer erst ermöglicht?

Die Einschätzungen der aktuellen Forschung unterscheiden sich dabei in zweierlei Hinsicht von der landläufigen Meinung. Zum einen fassen sie den Begriff des Lästerns (im Englischen: Gossip) deutlich weiter, sowohl positive als auch negative Äusserungen über abwesende Dritte zählen dazu. Und: Entgegen seinem negativen Image sehen Forscher Klatsch meist positiv. «Wir tratschen nicht in erster Linie, weil wir anderen schaden wollen, sondern weil wir soziale Wesen sind und als solche interessiert an anderen Menschen», erläutert Tim Hagemann, Arbeits- und Organisationspsychologe an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. «Bei dem Gerede am Kaffeeautomaten oder in der Kantine wollen wir mehr über unsere Arbeitskollegen erfahren, damit wir sie besser einschätzen können.»

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Urteile mit Kolleginnen abgleichen

Dabei gleichen wir auch eigene Urteile ab: Hast du mit dem Kunden am Telefon auch immer solche Probleme? Die Müller aus dem Vertrieb würde gut in unser Team passen, oder? Warum hat der Chef so genervt geschaut, als ich nach dem neuen Projekt gefragt habe? Dieser kontinuierliche Austausch sei wichtig für Gruppen, betont Brigitte Weingart von der Universität der Künste Berlin.

Die Medienwissenschaftlerin und Autorin des Buchs «Die Kommunikation der Gerüchte» erforscht die Regeln des informellen Austauschs in sozialen Gruppen wie Unternehmen. Über Lästereien und Gerüchte fliessen ihrer Einschätzung nach nicht nur wichtige Informationen, Teammitglieder bauen untereinander auch Vertrauen auf: Sie berichten einander von intriganten Kollegen, weisen auf interessante Geschäftspartner oder frei werdende Stellen hin.

Der britische Evolutionspsychologe Robin Dunbar vergleicht das Lästern deshalb mit dem gegenseitigen Lausen, wie es Menschenaffen praktizieren: Die Fellpflege der Tiere ist hygienisch unnötig, aber sozial höchst bedeutsam. Die Herdenmitglieder schmieden dabei Allianzen, besänftigen Konkurrenten oder beenden Fehden. Ganz ähnlich funktioniere das Lästern.

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Ersatz fürs Lausen

Der Brite vermutet sogar, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Tätigkeiten geben könnte: Als die Gruppen der Frühmenschen immer grösser wurden, wurde die Beziehungspflege per Lausen zu aufwendig. Als Ersatz für die Fellpflege entstand der Klatsch – und damit die Sprache.

Fast so alt wie das Lästern selbst ist dabei wohl die menschliche Sorge, selbst Gegenstand solcher Gespräche zu werden. Zu Unrecht, so Forscher Hagemann: «Oft zeigt das Gerede ja gerade, dass eine Person interessant ist.» Viele der Gespräche würden echtes Interesse ausdrücken – oder auch Anteilnahme, so der Experte. Etwa wenn wir erfahren, dass eine Kollegin deshalb so oft zu spät ins Büro kommt, weil sie zu Hause ihre kranke Mutter pflegt. Hier kann der informelle Austausch verhindern, dass sie sich immer wieder neu erklären muss.

90 Prozent aller Unterhaltungen im Büro sind Klatsch und Tratsch, wie eine Erhebung der Universität Amsterdam ergab. Daraus zu schliessen, dass nur 10 Prozent relevant sind, wäre aber ein grosser Fehler.

Zudem zeigen Studien, dass Menschen in ihren als lästerlich empfundenen Gesprächen weniger bösartig sind, als sie selbst annehmen. Drei Viertel der Inhalte von Klatschgesprächen seien neutral und nur 15  Prozent negativ, so die Analyse der Forscher der University of California in Riverside.

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Gefahr und Chance

Trotz aller Vorzüge sind auch die negativen Folgen von Gerüchten unbestritten. Sie können Betroffene tief verletzen und dafür sorgen, dass sie sich ausgeschlossen fühlen oder sich aus der gemeinsamen Arbeit zurückziehen – was nicht nur ihre eigene Leistung, sondern auch die des gesamten Teams belasten kann. Gerade gehässige Kommentare über Privates, etwa das Aussehen oder die sexuelle Orientierung, lassen in Firmen schnell eine giftige Atmosphäre entstehen.

Bezieht sich der Tratsch aber auf die Arbeit, kann er Gruppen helfen, harmonischer zusammenzuarbeiten, etwa indem sich Mitarbeiter gegenseitig vor egoistischen oder faulen Kollegen warnen. So lenkt Gossip unser Verhalten: Weil wir den Klatsch der Kollegen fürchten und einen Ruf zu verlieren haben, handeln wir häufiger im Sinne der Gemeinschaft. Das belegt eindrucksvoll eine Studie eines Teams des Sozialpsychologen Matthew Feinberg von der Stanford University, bei der Versuchsteilnehmer über mehrere Runden um geringe Geldbeträge spielen sollten.

Nach jeder Runde konnten sie entscheiden, ob sie ihren Gewinn behalten oder einen Teil in einen gemeinsamen Einsatz des Teams investieren – womit sich die Chance erhöhte, dass alle gemeinsam einen höheren Betrag dazugewinnen. Die Teams wurden dabei immer wieder neu zusammengesetzt und erhielten die Chance, zwischen den Runden kurz Notizen auszutauschen. In diesen Nachrichten warnten sie einander vor egoistischen Spielern. Einige Versuchsteilnehmer waren so erbost über eigennützige Spieler, dass sie sogar bereit waren, ihr persönliches Spielgeld für die Chance auszugeben, einen anderen Kandidaten vorzuwarnen – sie lästerten also zum Wohle der Gemeinschaft.

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Vor jeder Spielrunde durften die neu zusammengestellten Teams ausserdem einzelne Teilnehmer ausschliessen. Dieses Los traf die egoistischen Spieler erwartungsgemäss besonders oft. Solche Ächtung durch Lästern zeigte Wirkung: Probanden, die zuvor nur am eigenen Vorteil interessiert waren, passten ihre Spielweise an und handelten kooperativer – ihre Geldeinsätze für die Gruppe stiegen um mehr als das Doppelte.

Schon Fünfjährige lästern

Dass schon Vorschulkinder diese Schutzmechanismen nutzen, konnte der Psychologe Jan Engelmann herausfinden, der an der Universität Berkeley forscht: Er liess Fünfjährige mit zwei von Erwachsenen gelenkten Handpuppen spielen. Die Figuren und das Kind tauschten Steine miteinander, eine Puppe gab weniger Steine aus als vereinbart. Kam nun ein weiteres Kind dazu und sollte entscheiden, mit welcher Figur es spielen wolle, plauderte das geprellte Kind die Tricks der Puppe aus.

Kaffee_Buero_Klatsch_Tratsch

Profitcenter Büroküche: In den Pausen tauschen sich Mitarbeiter rege untereinander aus – meist zum Wohle der Firma.

DEEPOL by plainpicture
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Profitcenter Büroküche: In den Pausen tauschen sich Mitarbeiter rege untereinander aus – meist zum Wohle der Firma.

DEEPOL by plainpicture

Diese Versuche deuten an, dass das Bedürfnis, zu lästern, tief im Menschen verankert ist. So zeigen EKG-Untersuchungen, dass sich der Pulsschlag bei Menschen erhöht, sobald sie eine Ungerechtigkeit beobachten. Die Frequenz steigt auch dann, wenn sie als Unbeteiligte von der unfairen Handlung gar nicht direkt betroffen sind. Erst wenn diese Probanden die Möglichkeit haben, ihr Wissen zu teilen und Dritten von dem Geschehen zu berichten, also zu tratschen, normalisiert sich ihr Puls wieder.

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Für die kleinen Ärgernisse im Alltag scheint das Lästern ein wirksames Ventil zu sein. «Wer nach einem anstrengenden Telefonat mit dem Vorgesetzten bei Kollegen kurz einmal Dampf ablassen kann, geht danach gelassener wieder an die Arbeit», so Psychologe Hagemann. Dieser positive Effekt des Lästerns lässt sich sogar nachweisen: Forscher der City University in London untersuchten vor einigen Jahren die Leistung von 100 Krankenpflegerinnen. Dabei zeigte sich, dass Mitarbeiterinnen produktiver waren, wenn sie in ihrem Job zwischendurch die Zeit fanden, mit Kolleginnen über ihren Stress und über negative Gefühle zu sprechen.

Toxische gerüchte

Darum sei auch in der digitalen Kommunikationswelt Platz für Plaudereien wichtig. «In Videokonferenzen sollten Teams hin und wieder Zeit einplanen für den privaten Austausch, oder Kollegen verabreden sich zur Kaffeepause per Videochat», rät Psychologin Christiane Stempel. So komme der Informationsfluss nicht ganz zum Erliegen.

Das ist vor allem von Bedeutung, weil sonst eine ungute Veränderung des Gossip drohe, warnt Eva Rothermund vom Universitätsklinikum Ulm: Während bestärkender Klatsch wegfällt, setzt sich fieser Spott in der digitalen Welt unverändert fort. Als Fachärztin für Psychotherapie hat sie regelmässig mit Mobbingopfern zu tun. Die mussten auch schon vor der Pandemie miterleben, wie aus harmlosen Neckereien unter Kollegen bald gemeine Gerüchte wurden, die sich dann zu persönlichen Angriffen und Rufmordkampagnen steigerten.

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Laut Rothermund sind die Grenzen zwischen Tratsch und übler Nachrede fliessend. «Zum Mobbing artet Lästern dann aus, wenn Kollegen es strategisch einsetzen und versuchen, einzelne Personen gezielt und kontinuierlich schlechtzumachen.» Wird Tratsch persönlich verletzend oder kursieren Falschinformationen, sollten Vorgesetzte sofort einschreiten, rät Psychologin Stempel. Denn dann kann Klatsch schnell toxisch werden – für einzelne Personen, Teams oder gar ein ganzes Unternehmen.

So wie bei Boeing. Die im Januar publizierten E-Mails des Flugzeugbauers belegen, wie weit sich unter den Mitarbeitern Frust und Misstrauen bereits ausgebreitet hatten. Mit harschen Worten lästerten sie über zu enge Zeitpläne und den gefährlichen Kostendruck, über unfähige Chefs und die zu laschen Sicherheitsbehörden. In Hunderten von E-Mails fanden sich solche Einschätzungen, Angestellte bezeichneten das neue Flugzeugmodell und die Trainingseinheiten dafür als «Dreck», «lächerlich» und «sinkendes Boot». Es fehlte nur an der Führungskraft, die auf diese Gerüchte auch gehört hätte.

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