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Handlungsbedarf

Nestlés neue Stossrichtung: Schluss mit den Experimenten!

Der Riesenkonzern schwächelt an der Börse. Mit welchen Rezepten CEO Schneider und Chairman Bulcke die Krise bekämpfen.

Dirk Ruschmann

Dirk Ruschmann

Nestlé-CEO Mark Schneider (l.) und Chairman Paul Bulcke wollen ihrer Aktie wieder Auftrieb geben.

Nestlé-CEO Mark Schneider (l.) und Chairman Paul Bulcke wollen ihrer Aktie wieder Auftrieb geben.

Markus Bertschi für BILANZ, Keystone, PD, Montage: BILANZ

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Hier schreibt der Chef noch selber. Im vergangenen Sommer nutzte Nestlé-Chef Mark Schneider seine Freizeit für einen Brief an die «dear colleagues» – die obersten, gut 200 Führungskräfte des Konzerns. Es entstand ein programmatischer Achtseiter, den er «Letter from the Lake» nannte.

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Und noch vor den strategischen Überlegungen zum Megatrend Gesundheit und wie er vermehrt in Schokoladen, Snacks, Getränken oder Milchprodukten eingebaut werden sollte, noch vor der Ermahnung, dass die Pipeline an neu entwickelten Produkten zwar voll ist, aber an verspäteten Lancierungen oder komplett beerdigten Projekten krankt («inakzeptabel»), und auch vor der geopolitischen Analyse, wonach die aktuellen Konflikte den freien Verkehr von Waren, Daten, Geld und Menschen gefährden und die Führungskräfte daher auf die letzten zehn Prozent Effizienz lieber verzichten sollen zugunsten höherer Flexibilität – noch vor all diesen Überlegungen platzierte Schneider seine zentrale Vorgabe: Wachstum! Als nächsten «Meilenstein» ruft Schneider 125 Milliarden Franken Umsatz aus. Nicht als offizielles Finanzziel für Investoren, aber als internen Marschbefehl; bis Ende des Jahrzehnts soll die Marke erreicht sein. Denn «growth matters, size matters», so steht es ganz vorn in Schneiders «Letter». Und Volumen soll in Skaleneffekte und letztlich schicke Gewinnmargen münden. 

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CEO Schneider will bei Nestlé die Lancierung neuer Produkte immer weiter beschleunigen.

CEO Schneider will bei Nestlé die Lancierung neuer Produkte immer weiter beschleunigen.

Markus Bertschi für BILANZ
CEO Schneider will bei Nestlé die Lancierung neuer Produkte immer weiter beschleunigen.

CEO Schneider will bei Nestlé die Lancierung neuer Produkte immer weiter beschleunigen.

Markus Bertschi für BILANZ

Mark Schneider hat was vor. Seit gut sechs Jahren leitet er den Nahrungsmittel-Supertanker aus dem malerischen Vevey am Genfersee. Und was war das für ein Antritt damals: ein CEO von extern, der erste seit fast einem Jahrhundert, der als vormaliger Chef der deutschen Fresenius, die Medizintechnik anbietet und Kliniken betreibt, zukunftsträchtiges Gesundheits-Know-how mitbrachte; der damals scheidende Konzernpräsident Peter Brabeck hatte Ausflüge Richtung Medizin forciert.

Aufräumen im Portfolio

Nicht nur kursierten seit den Nullerjahren Kunstbegriffe wie «Nutraceuticals» und «Nutricosmetics», also produktwerdende Hoffnungen, mit Nahrungsergänzungsmitteln Gesundheit und Schönheit aufzuhelfen; die Nestlé-Tochter Galderma bot sogar Salben und Injektionsbehandlungen an. Doch der vermeintliche Medizinal-Apostel Schneider räumte solche Portfolio-Auswüchse schnell und unsentimental ab, und gemeinsam mit seinem Vorgänger Paul Bulcke, der als Präsident nachgerückt war, konzentrierte er Nestlé auf das frühere Kernland Food & Beverage – alles, was man herstellt, lässt sich oral konsumieren.

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Seine Fokussierung auf die «Wachstumspfeiler» Kaffee, Tiernahrung und Nutrition, also Nahrungsergänzung, kurbelte Absatzvolumen und damit das organische Wachstum wieder an, die entscheidende Kennzahl im Nahrungsmittelgeschäft. Standen die drei Bereiche 2010 für 44 Prozent des Nestlé-Umsatzes, kletterte dieser Anteil bis 2022 auf 63 Prozent, inklusiveder margenstarken Felder Milchprodukte und Maggi sogar über 80 Prozent. Das Thema Gesundheit verfolgt Schneider gleichwohl – doch als Zusatzfunktion, enthalten in Nahrungsmitteln oder Getränken. Es gibt sogar Kaffee mit Vitamin B12 oder Kaffeeweisser mit Kollagen, und da soll viel mehr kommen.

Dem trägen Prozess zwischen Produktentwicklung bis Marktstart verpasste Schneider, gemeinsam mit Forschungschef Stefan Palzer, einen Koffein-Schub: Konnte es zuvor drei Jahre dauern, bis ein neuer Snack im Supermarkt auflag, «können wir heute in sechs bis neun Monaten so weit sein», sagt ein Manager. Der Aktienkurs, bei Schneiders Antritt gut 70 Franken, kratzte bisweilen an 130 Franken.

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Doch der Höhenflug ist Geschichte. Seit Monaten schaut sich die Aktie die 100er-Marke von unten an. Dass der US-Milliardär Daniel Loeb, der nach seinem Einstieg 2017 Forderungskataloge ans Nestlé-Management geschickt und zur medialen Begleitung praktischerweise veröffentlicht hatte, bisher keinen weiteren Liebesbrief publiziert, dürfte schlicht daran liegen, dass Loeb in aller Stille sein Paket verkauft hat – und zwar, ausweislich des Geschäftsberichts seines Hedgefonds Third Point, bereits im Lauf des Jahres 2020. Ihre Höchststände erreichte die Nestlé-Aktie zwar erst Ende 2021, aber Loeb befand schon zuvor die «value-creating story largely complete».

Zweite Phase

Mit der Covid-Pandemie begann eine zweite Phase in Schneiders Amtszeit, geprägt von täglichem Navigieren auf Sicht – zwischen gerissenen Lieferketten, Reisebeschränkungen und steigenden Kosten für Energie und Rohstoffe. Immerhin schossen während der Covid-Monate die Absatzmengen und damit die Umsätze nach oben. Schneider lobte seine Leute in seinem «Letter» in höchsten Tönen für hervorragende Arbeit während dieser Zeit.

Nun wäre es an der Zeit für eine dritte Phase, in der strategische Arbeit am Portfolio wieder in den Vordergrund rückt. Doch die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen sorgten für eine Verstetigung der Unsicherheiten. Weltweit halten sich Konsumenten beim Konsumieren zurück, weil sie zwei Jahre lang teils heftige Preissteigerungen aushalten mussten; darunter leidet Nestlé. Aber «auch andere Nahrungsmittelkonzerne», betont Nestlé-Experte Patrik Schwendimann von der Zürcher Kantonalbank (ZKB), haben in dieser Zeit «eine enttäuschende Kursentwicklung aufgewiesen». Die ewigen Konkurrenten Unilever und Danone sind nach wie vor niedriger bewertet als Nestlé; Unilever hat bereits die Zahlen für 2023 vorgelegt, verzeichnete vor allem im Non-Food-Geschäft mit Reinigungs- und Pflegeprodukten Zunahmen. Danone robbt sich aus einem langen Tal der Leiden, inklusive enttäuschter Anleger, allmählich aufwärts und will sich via Konzernumbau vom Image des Joghurtbarons emanzipieren. «Die Mitbewerber machen derzeit nicht mehr so viele Fehler wie damals», urteilt Konsumgüter-Experte Andreas von Arx von der Bank Baader Helvea – mit «damals» sind die ersten Schneider-Jahre gemeint, als Nestlé alle Wettbewerber nur im Rückspiegel zu sehen bekam.

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Speziell bei Nestlé kommt hinzu: Die grundsätzlich äusserst stabile Aktie mit rund drei Prozent jährlicher Dividendenrendite hat ihren Status als Ersatzanlage für Anleihen eingebüsst, weil diese dank der Zinserhöhungen der Notenbanken wieder an Attraktivität gewannen. Dass Nestlé in Schweizer Franken bilanziert, hilft auch nicht: Die Währungen der grossen Absatzmärkte USA China und Euroraum verloren kräftig an Boden gegen den Franken, «die stärkste Währung der Welt», sagt Schwendimann, die den Konzern nach seiner Schätzung derzeit «rund 13 Prozent des Umsatzes» kostet. Zusätzlichen Gegenwind bescherte der Boom der Abnehmspritzen, Stichwort GLP-1. Den Befürchtungen der Anleger, ganze Volksstämme würden künftig keinen Hunger mehr verspüren, wurde zwar schnell von Analysten widersprochen, weil sie die Effekte auf das Nestlé-Portfolio als gering taxieren – dennoch verlor die Aktie weiter an Substanz. Schneider sagt dazu, an der Börse gebe es manchmal einen «Flavor of the day, der für einige Wochen sämtliche Diskussionen dominiert und dann auch zu Kursbewegungen führt», aber er kann dieser Debatte auch Positives abgewinnen: Erstens sei damit das Thema «Gewichtskontrolle und Diäten wieder salonfähig geworden», das könnte der nicht gerade kraftstrotzenden Nestlé-Tiefkühlmarke «Lean Cuisine», die vor allem in Nordamerika vorkommt, zu neuem Schwung verhelfen. Und zweitens müssten schliesslich auch Abnehmspritzen-Anwender ihren Vitaminbedarf stillen, «daran sind wir am Arbeiten und verfügen bereits über ein Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln».

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An Arbeitsmoral mangelt es bei Schneider nicht. Morgens startet er noch zu halbwegs zivilen Zeiten, zwischen halb acht und acht, arbeitet dann bis halb sechs am Nachmittag, und nach einem laut Insidern «ziemlich puritanischen» Dinner im Büro macht er bis neun oder zehn Uhr abends weiter. Und Sonntag ist «für mich persönlich ein Arbeitstag», da könne er die neue Woche vorbereiten und die abgelaufene aufarbeiten, schliesslich «muss man die Versprechen, die man während der Woche in Sitzungen gegeben hat, dann auch einlösen». Samstage hält er möglichst für die Familie frei, aber auch das gelingt nicht immer.

Was ihm dringend gelingen muss: die hausgemachten Baustellen zu beseitigen, die auf der Aktie lasten. Denn natürlich ist die Kurs-Misere nicht nur anhand externer Faktoren zu erklären. Zwei wesentliche Probleme entstanden bei der Gesundheitstochter Nestlé Health Science (NHS): So kam es bei der IT-Integration diverser kleinerer Vitaminhersteller zu unerwarteten Fehlleistungen, mitten in der anziehenden Nachfrage von Apotheken verzögerte sich die Produktion; Nestlé konnte die Kunden nicht beliefern. Interne berichten, die Führung von Health Science habe die Anforderungen schlicht unterschätzt. Zum Jahreswechsel hat Schneider den NHS-CEO Greg Behar mit eher kühlen Worten verabschiedet und installierte die Amerikanerin Anna Mohl als Nachfolgerin.

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Das zweite Problem erregte weit mehr Aufsehen: Die 2020 übernommene Aimmune, mit der aus Vevey heraus ein «weltweit führender» Anbieter zur Behandlung von Lebensmittelallergien entstehen sollte, im Zentrum das Medikament Palforzia gegen Erdnuss-Allergie, wuchs sich zum Milliarden-Missgriff aus. «Was wir falsch eingeschätzt haben: dass viele Eltern nicht bereit sind, für diese medizinisch hervorragende Therapie zahlreiche Arztbesuche in Kauf zu nehmen», bekennt Schneider. Es folgte 2022 eine Wertberichtigung von fast zwei Milliarden Franken, inzwischen therapiert Palforzia im Eigentum von Biotech-Milliardär Ernesto Bertarelli. Schneider gab sich an Investorenkonferenzen sehr selbstkritisch, nahm die Schuld auf sich, «wir hätten das Thema auch kleinreden oder stillschweigend am Rand mitlaufen lassen können», sagt er, aber so etwas schaffe eben bei scharfen Beobachtern kein Vertrauen.

Es gibt allerdings auch Nahestehende, die vermuten, dass Aimmune nie ein Lieblingsprojekt von Schneider oder Paul Bulcke war, sondern ein Relikt früherer Strategien – mit Arztbesuchen verbunden, statt oral einzunehmen, weder Food noch Beverage. Dafür spricht auch, dass Nestlé die erste Beteiligung an Aimmune noch vor der CEO-Werdung Schneiders erworben hatte, in den letzten Zügen von Peter Brabecks Präsidentschaft.

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Zuletzt kam nun auch noch ein «Mineralwasser-Skandal» hinzu: Wasser mit dieser Bezeichnung dürfen nicht mit künstlichen Mitteln gereinigt werden, sollten rein natürlich sein. Doch Nestlé in Frankreich und weitere dortige Hersteller, wie auch die heimische Nestlé-Tochter Henniez, nutzten Aktivkohle zum Filtern. Wie heisst es so schön: When it rains, it pours.

Neue Windrichtungen

Infolge all dieser unschönen Faktoren habe «der Wind der Wahrnehmung deutlich gedreht», sagt ZKB-Analyst Schwendimann. Zwar sei «mehr als die Hälfte des Kurseinbruchs» externen Einflüssen zuzurechnen, und auch Kollege von Arx hält die Kritik an Nestlé für «etwas überzogen». Aber es gebe, sagt Schwendimann, nun mal «kumulative Faktoren an der Börse, wenn eine Aktie schlecht läuft». Mark Schneider würde sagen, einen «Flavor of the day».

Dank seiner US-Staatsbürgerschaft hat Schneider das Recht, Flavor ohne «u» zu schreiben. Und zugleich seinen privaten Tesla zu verteidigen: als CEO einer Branche, wo sich kleine Fehltritte zu Lebensmittelskandalen auswachsen können, ist der pannenanfällige Stromer keine naheliegende Wahl. Doch der sei «extrem intelligent gebaut», lobt Schneider, der abseits seines Managerjobs mit einem feinen Sinn für Humor ausgestattet ist: Seinen ersten Tesla taufte er «Kirk», den aktuellen, ein Model Y, «Son of Kirk» – und mit dem, beteuert der Captain gleich zweier Kirks, «hatte ich noch nie eine Panne». Alles traut er seinem Stromer aber auch nicht zu – «fahre ich mit dem Autopiloten? Natürlich nicht», sagt Schneider: «You need to know what you trust in.»

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Zum Aktienkurs als solchem liefert er keine Kommentare; so was tut man bekanntlich nicht. In Vevey lassen allerdings einige durchblicken, dass man logischerweise «not amused» und «unzufrieden» sei und Schneider jetzt Gas geben wolle, dass aber andererseits das Murren vor allem aus der Schweiz stamme; die meisten anderen Anleger könnten sich immerhin an geschmackvollen Währungsgewinnen mit der in Franken gehandelten Nestlé-Aktie aufmuntern.

Die Geschäftsergebnisse des Jahres 2023, zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht bekannt, dürften erst einmal wenig Rückenwind liefern – die meisten Beobachter rechnen erst für 2024 mit anziehenden Absatzvolumina, denen bessere Margen folgen.

Foto: Markus Bertschi für BILANZ

Back to the Future

Wie es operativ aufwärtsgehen soll, dafür hat Schneider einen Plan, der sich an den «Learnings» aus dem milliardenteuren Aimmune-Abenteuer ablesen lässt: Bei Nestlé Health Science «gehen wir keine grossen wissenschaftlichen Wetten ein, sondern fokussieren auf zwei bewährte Bereiche: medizinische Ernährung und Nahrungsergänzungsprodukte»; in beiden Feldern zählt Nestlé zu den Weltmarktführern. Soll heissen: Schluss mit Experimenten – dafür mehr Geschäft in jenen Feldern, die man bereits beherrscht.

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Das darf man getrost als Blaupause für die konzernweite Strategie lesen. Schneider und Bulcke betonen unisono, dass der Eintritt in neue Kategorien derzeit kein Thema sei, «darin sehe ich unsere Zukunft nicht», sagt Schneider, «im Gegenteil, wir haben über die vergangenen Jahre eher die Anzahl unserer Tätigkeitsfelder reduziert». Zwar haben die beiden die Umbauten im Business, bei Nestlé ein Dauerthema, sogar «etwas beschleunigt, «dafür war auch Mark ein Katalysator», lobt Bulcke, sodass sich in den zurückliegenden Jahren rund ein Fünftel des Portfolios geändert hat, «die Deals hatten ein Gesamtvolumen von rund 50   Milliarden Franken». Kein Kleinkram also.

Doch diese Deals bewegen sich vor allem noch in den zentralen Geschäftsfeldern. Bulckes Lieblingsbeispiel sind die Brühwürfel, die «wir immer weiterentwickeln». In Vevey erzählen sie noch heute von einer Sitzung der Konzernleitung, etwa zehn Jahre ist es her, damals schwang sich die deutsche Milliardärsfamilie Reimann mit ihrer Holding JDE (Jacobs, Senseo) zum Herausforderer im Kaffeegeschäft auf. Nestlés damaliger Kaffeegeneral Patrice Bula sagte im Meeting, das werde man nicht hinnehmen, «coffee is our turf». Inzwischen betreibt Nestlé vier verschiedene Kaffeekapselsysteme, der letzte grosse Zukauf des Konzerns war die Handelslizenz für Starbucks-Produkte, und den ollen Nescafé gibt es inzwischen auch «de Luxe» mit goldenen Etiketten. Veredelung und Verwissenschaftlichung treiben die Tierfuttersparte an, und punkto Wasser sprudeln vor allem die edlen, in der Gastronomie starken Kohlensäure-Brands Perrier und San Pellegrino.

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Kaffee ist Kerngeschäft für Nestlé. Neu ist die Papierkapsel, die dem starken Druck in den Nespresso-Kaffeemaschinen standhält.

Kaffee ist Kerngeschäft für Nestlé. Neu ist die Papierkapsel, die dem starken Druck in den Nespresso-Kaffeemaschinen standhält.

PD
Kaffee ist Kerngeschäft für Nestlé. Neu ist die Papierkapsel, die dem starken Druck in den Nespresso-Kaffeemaschinen standhält.

Kaffee ist Kerngeschäft für Nestlé. Neu ist die Papierkapsel, die dem starken Druck in den Nespresso-Kaffeemaschinen standhält.

PD

Die beiden Wasserbrands gelten nicht allen, aber vielen Beobachtern als Verkaufskandidaten – neben den notorisch infrage gestellten Sparten Speiseeis, Tiefkühlnahrung oder Süsswaren. Letztere bietet Angriffsflächen wegen des verarbeiteten Zuckers, Glace bringt nur eine knappe Milliarde Volumen auf die Waage und hält punkto Profitabilität nicht Schritt, Ähnliches gilt bei Tiefkühlnahrung, für die sich Schneider allerdings in den USA, dank dem anschwellenden Gesundheitstrend, eine Renaissance erhofft.

Healthy Aging, also gesund alt werden: Produkte, die dieses Bedürfnis bespielen, könnten sich zum neuen Mega-Geschäft für Nestlé hocharbeiten. Schon Paul Bulcke hat den Konzern in diese Richtung geführt, hat nach und nach Zucker aus Produkten entfernt, und Schneider, der in schonungsloser Selbstdiagnose einen «Gesundheitsfimmel» bei sich gefunden hat, den er morgens mit selbst gebauten Smoothies und einer satten Zugabe von Kollagen-Proteinen befriedigt, erklärt Healthy Aging zu «einem ausgesprochenen Hobbythema von mir». Schneiders «Vital Proteins» gibt es, für Selbstversuche, inzwischen in der Schweiz zu kaufen (tut Muskeln, Haut und Sehnen gut).

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Der Konzern ist bereit, der Trend kommt zu ihm – keine schlechte Ausgangslage. Welche Bedeutung das Thema für Nestlé hat, demonstrieren die letzten grossen Akquisitionen: Neben der Sieben-Milliarden-Investition für Starbucks flossen vor drei Jahren fast sechs Milliarden in den Kauf der wichtigsten Marken des US-Vitaminherstellers Bountiful – die allerdings bisher ein Schattendasein fristen. Gerade hier aber verortet Baader-Helvea-Analyst von Arx riesige Chancen, sprich: viel zahlungskräftige Kundschaft in entwickelten Märkten, die wohl auch für Premiumprodukte zu entsprechenden Preisen motivierbar wäre. Doch aktuell tritt Nestlé mit ihrer Produktpalette in diesem Feld ungeordnet auf, teils regelrecht unsichtbar; da ist viel zu tun. Immerhin wäre ausreichend Kleingeld für strategische Übernahmen vorhanden, «wir sind für alles offen, schliessen nichts aus», sagt Schneider, wobei der «Sweet Spot aber eher bei mittelgrossen bis kleineren Übernahmen liegt», denn die seien leichter zu integrieren. Berücksichtigt man jedoch, dass bei Nestlé zehn Milliarden als «mittelgross» durchgehen, öffnet sich ein weiter Korridor.

Mark Schneider mit Versuchskoch Jesus Lahoz. Insgesamt beschäftigt Nestlé 34 Köche mit verschiedenstem Background.

Mark Schneider mit Versuchskoch Jesus Lahoz. Insgesamt beschäftigt Nestlé 34 Köche mit verschiedenstem Background.

Markus Bertschi für BILANZ
Mark Schneider mit Versuchskoch Jesus Lahoz. Insgesamt beschäftigt Nestlé 34 Köche mit verschiedenstem Background.

Mark Schneider mit Versuchskoch Jesus Lahoz. Insgesamt beschäftigt Nestlé 34 Köche mit verschiedenstem Background.

Markus Bertschi für BILANZ

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Grünzeug im Schredder

Zweites Grossthema ist das Ersetzen tierischer Proteine durch pflanzliche. Vom tiefpreisigen Eierstrecker in Pulverform, der den Nährwert von drei Eiern auf acht verstärkt, bis zum «Voie Gras», das edle Schlemmerzungen nicht mit Entenmord belastet, hat Nestlé hier eine stetig wachsende Palette im Angebot.

Handlungsdruck ist jedenfalls ausreichend vorhanden, nicht nur infolge der Aktienflaute. Denn derweil steigen die Kosten für Nachhaltigkeit im Konzern rasant, dürften bald das Budget für Forschung und Entwicklung übersteigen. Und auch wenn Schneider diese Ausgaben, etwa für Verpackungen aus Papier statt Plastik, wohl zu Recht als alternativlos einstuft: Sie müssen über Nestlés Brands und Produkte am Markt monetarisiert werden.

Ob auch Paul Bulcke morgens Grünzeug in seinem Mixer schreddert, ist nicht überliefert. Fest steht, dass Nestlé-Veteran Bulcke, der in 45 Jahren jeden Winkel des Riesentankers gesehen hat, und Neueinsteiger Schneider von Anfang an bestens harmonieren. «Er ist ein fundamental zugänglicher und für Neues und andere Meinungen offener Mensch», sagt Schneider über Bulcke, «und das war mir auch wichtig: dass ich ein Gehör finde, wenn ich einmal einen neuen Aspekt einbringen möchte.» Schneider «kam bei uns mit einem frischen Auge an, aber voller Respekt», sagt Bulcke. Das lässt sich beobachten, wenn Schneider die Versuchsküchen im Nestlé-Entwicklungszentrum bei Lausanne besucht; Köche und Ingenieure freuen sich, dass Schneider ernsthaftes Interesse an ihrer Arbeit zeigt, die Stimmung ist entspannt, da rauscht kein furchteinflössender CEO durch die Gänge. Die stark inklusive Nestlé-Kultur, wo auch Topshots oft ihr ganzes Berufsleben verbringen, hat Schneider längst inhaliert: In anderen Firmen habe man oft «das Gefühl, in einem Bahnhof zu sein», Menschen kommen, gehen, fahren in verschiedene Richtungen los, bei Nestlé aber «sitzen wir alle im selben Zug». Es wird nicht geprotzt, und man stellt sich in den Dienst der Firma, nicht der eigenen Karriere – Bulckes Mantra. Schneiders Führungsstil zeichnet sich zudem durch Anpassung an die Persönlichkeiten um ihn herum aus; er will nicht deren Schwächen kurieren, sondern die Stärken betonen. «People come in all shapes and sizes», sagt er, und passt sich seinen Leuten im Umgang an – statt ihnen seine Verhaltensvorlieben aufzudrängen. Ähnlich geräuschlos hat er die Konzernleitung runderneuert und den Frauenanteil aufgestockt. Selbst seine durchaus luxuriösen Anzüge bestechen durch höchste Diskretion. Er sei «superhappy», sagt Schneider, «ich bin bei meiner Traumfirma angekommen».

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Nestlé betreibt in Lausanne Labore für Grundlagenforschung sowie ­Versuchsküchen.

Nestlé betreibt in Lausanne Labore für Grundlagen-forschung sowie Versuchsküchen.

Markus Bertschi für BILANZ
Nestlé betreibt in Lausanne Labore für Grundlagenforschung sowie ­Versuchsküchen.

Nestlé betreibt in Lausanne Labore für Grundlagen-forschung sowie Versuchsküchen.

Markus Bertschi für BILANZ

Monatlich ein Jour fixe

Monatlich treffen sich Bulcke und Schneider zu einem Jour fixe unter vier Augen, meist montags um elf, danach gehen sie zum Lunch; in diesen Stunden gehen sie alles durch. Informell sprechen sie oft mehrmals täglich – ihre Büros trennen nur zehn Meter, auf Reisen halten sie per Telefon und SMS Kontakt.

Nun müssen Bulcke und Schneider ihrem Geschäft Beschleunigung einimpfen. Viel wird davon abhängen, ob sie noch einmal Aufbruchstimmung wie zu Schneiders Antritt auslösen können – dieses Mal leistet jedoch kein Daniel Loeb Schützenhilfe mit Motivationsschreiben vom Spielfeldrand. Doch wenn der Covid-Hangover nun vorbei und die internen Probleme in der Gesundheitssparte gelöst sind, sollte das klassische Nestlé-Modell wieder greifen: nachhaltiges, profitables Wachstum; 125 Milliarden Umsatz sind das ehrgeizige Ziel. Und «mit steigendem Vertrauen der Investoren ins langfristige Modell», sagt Andreas von Arx, «wird dann auch der Aktienkurs wieder kommen».

Das wäre definitiv die dritte Phase der Amtszeit Schneider.

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Feedback-Schleifen in Vevey

Das Nestlé-Board gilt als eins der besten weltweit. Wie sich die Teppichetage organisiert.

Bei Nestlé steigen die CEOs nach ihrer Amtszeit traditionell zum Verwaltungsratspräsidenten auf, und zwar ohne Cooling-off-Periode, und bei Nestlé sitzen die CEOs zugleich im Verwaltungsrat – zwei Kardinalsünden gegen die Regeln guter Corporate Governance. Und dennoch gilt der Verwaltungsrat des Konzerns punkto Zusammensetzung, Qualität und Engagement der Mitglieder als Vorbild.

Chairman Paul Bulcke sagt, «es braucht Komplementarität, unterschiedliche Backgrounds, Expertisen, Persönlichkeiten», und «jeder und jedem im Board ist dieses Unternehmen wichtig». Tatsächlich gibt es bei VR-Sitzungen so gut wie nie Absenzen, obwohl das Board mit gut beschäftigten internationalen Hochkarätern besetzt ist – 2022 etwa kam Apples Finanzchef Luca Maestri hinzu. Nestlé kann sich die Besten aussuchen.

Neben der grossen Breite im Business und in den bearbeiteten Märkten, die Kandidaten lockt, gelten auch die internen Checks and Balances als State of the Art. Nicht nur gibt es regelmässige Runden mit offenem Feedback über alle, bis hin zum Chairman, auch sorgt ein Lead Independent Director, derzeit Ex-Axa-Chef Henri de Castries, für Austausch im Board über den CEO, auch über den Chairman selbst sowie über die Kooperation dieser beiden Personen – die dann jeweils vor der Tür warten; auch Bulcke selbst geht das so, dann «verlasse ich den Raum». Am Vorabend von Board-Sitzungen treffen sich Verwaltungsrat und Konzernleitung zum Dinner, mischen sich immer wieder in unterschiedlichen Gruppen – jede(r) kennt jede(n). Die Nachfolgepläne für ausscheidende KL-Mitglieder entwickeln beide Gremien gemeinsam.

Schneider liefert jährlich Reviews der KL-Mitglieder, doch auch Bulcke kennt alle Personen, beide pflegen die Kontakte für sich, arbeiten mit voller Transparenz zusammen – hinter dem Rücken des einen über den anderen zu sprechen, soll bei Nestlé nicht stattfinden. Den Posten des Lead Directors muss de Castries den Statuten entsprechend nun weiterreichen: 2012 erstmals in den Verwaltungsrat gewählt, stösst er 2024 an die Amtszeitbeschränkung von zwölf Jahren. Das Amt soll laut Insidern an den langjährigen Vormann des Bekleidungsmultis Inditex (Zara, Massimo Dutti), Pablo Isla, übergehen. Auch ihm werden, wie de Castries, hohe ethische Standards attestiert.

Raumschiff: NestléDie Zentrale in Vevey am Genfersee. Das Erd­geschoss ist verglast: Der See muss von der Strasse aus sichtbar sein.

Raumschiff: NestléDie Zentrale in Vevey am Genfersee. Das Erdgeschoss ist verglast: Der See muss von der Strasse aus sichtbar sein.

PD
Raumschiff: NestléDie Zentrale in Vevey am Genfersee. Das Erd­geschoss ist verglast: Der See muss von der Strasse aus sichtbar sein.

Raumschiff: NestléDie Zentrale in Vevey am Genfersee. Das Erdgeschoss ist verglast: Der See muss von der Strasse aus sichtbar sein.

PD

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