Guten Tag,
Der Industriekonzern wechselt fast die gesamte Führungsspitze aus. Die Erwartungen sind riesig.
Marc Kowalsky
AUFSTEIGER BEI SULZER: Suzanne Thoma übernimmt den Posten der VR-Präsidentin, Frédéric Lalanne ist seit 1. März CEO.
PD/Fabian Hugo, 13 PhotoWerbung
Noch laufen die Maschinen in Serpuchow. Hier, 90 Kilometer südlich von Moskau, stellt Sulzer Geräte für die Chemie- und Petroindustrie her, hauptsächlich zur Trennung von Flüssigkeiten und Gasen. Abnehmer sind zum einen die russischen Wasser- und Energieversorger, zum anderen europäische Grosskonzerne wie BASF. 120 Mitarbeiter stehen hier in Lohn und Brot. Noch. Aber wie lange, weiss man nicht, denn die Situation ändert sich täglich. Schon bereitet sich Sulzer darauf vor, nicht mehr in Russland fertigen zu können. Die letzten für den Export bestimmten Anlagen werden gerade ausgeliefert, danach sollen diese Produkte woanders hergestellt werden.
320 Mitarbeiter arbeiten insgesamt an den Standorten in Serpuchow, St. Petersburg und Moskau. 86 Millionen Franken oder weniger als drei Prozent ihres Gesamtumsatzes von 3,16 Milliarden Franken macht Sulzer in Russland; in Belarus und der Ukraine sind es zusammen gerade mal 2,4 Millionen. Die Märkte sind für Sulzer nicht matchentscheidend. Aber die Folgen des Ukraine-Kriegs und der dadurch ausgelösten Sanktionen bringen zusätzliche Nervosität in den Winterthurer Traditionskonzern.Dabei herrscht derzeit bei Sulzer bereits so viel Unruhe wie wohl noch nie in der 188-jährigen Konzerngeschichte. Denn in diesen Wochen wird fast die gesamte Führungscrew ausgewechselt. Der neue CEO Frédéric Lalanne hat im Februar das Amt übernommen von Greg Poux-Guillaume, der mehr als sechs Jahre an der Sulzer-Spitze stand. Anfang April gibt VR-Präsident Peter Löscher sein Amt ab an die bisherige Vizepräsidentin Suzanne Thoma. Sein Abgang war schon länger geplant, wurde aber unter anderem wegen Corona verschoben. Im Lauf des Jahres zieht sich Finanzchefin Jill Lee aus dem Unternehmen zurück, zum internen Nachfolger wurde Thomas Zickler ernannt. Dann wechseln auch noch zwei der drei Spartenleiter: Der Chef der wichtigen Service-Division, Daniel Bischofberger, wurde per 1. März Chef der ABB-Division Turbocharging, die demnächst verselbstständigt werden soll. Hier hat Sulzer mit Tim Schulten ebenfalls einen internen Nachfolger bestimmt. Wer das wichtige Pumpengeschäft von Lalanne erbt, ist noch nicht bekannt. Dass mit Gerhard Roiss auch noch ein langjähriges VR-Mitglied abtritt, ist da nur noch ein Detail.
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UNSICHERE ZUKUNFT: 120 Mitarbeiter arbeiten im Werk von Sulzer Chemtech im russischen Serpuchow. Noch.
Getty ImagesUNSICHERE ZUKUNFT: 120 Mitarbeiter arbeiten im Werk von Sulzer Chemtech im russischen Serpuchow. Noch.
Getty ImagesWohl nur weil alle Nachfolgen bisher intern geregelt wurden, haben die Börsen die massive Personalrotation nicht abgestraft. Gerade dass Chairman und CEO fast gleichzeitig wechseln, ist höchst ungewöhnlich. Bei Sulzer bedingte das eine das andere. Löscher pflegt ein angelsächsisches Verständnis der Präsidentenrolle: Er beschränkt sich auf die Beaufsichtigung der Konzernleitung und liess Poux-Guillaume ansonsten freie Hand, auch strategisch. Thoma hingegen hält sich an schweizerische Gepflogenheiten, kümmert sich also auch um die Strategie. Aber nicht nur das: Bereits als Vizepräsidentin redete sie auch immer mal wieder mit, wenn es um die Umsetzung dieser Strategie ging. Als Chairwoman wird sie einen Tag die Woche in Winterthur sein, hat sie intern angekündigt. Auf derartige Einmischung hatte Poux-Guillaume keine Lust und auch sonst mit Thoma das Heu nicht auf der gleichen Bühne: Sobald ihre Nominierung feststand, kündigte er.
Zwei Namen standen schon länger auf der Liste möglicher Nachfolger. Zum einen Bischofberger, der aber im Dezember seinen Wechsel zu ABB bekanntgegeben hatte und damit nicht mehr in Frage kam. Und dann eben Frédéric Lalanne, ebenso Franzose wie Poux-Guillaume. Die beiden hatten schon bei Alstom und GE zusammengearbeitet. Bei Sulzer startete Lalanne als Chief Commercial Officer, professionalisierte die Verkaufsprozesse und das Key Account Management. Seinen Palmarès holte er danach als Leiter des Pumpengeschäfts, der grössten Konzernsparte: Im Energiegeschäft (Öl/Gas und Strom) gelang ihm der Turnaround, das Industriegeschäft (Pulp and Paper) wurde organisch weiterentwickelt, das Wassergeschäft durch zwei Übernahmen arrondiert. So weist die lange Zeit ertraglose Pumpensparte heute wieder eine Profitabilität von sechs Prozent aus.Lalanne wird als CEO weniger verdienen als die 4,8 Millionen Franken seines Vorgängers, ist doch die Applikatorensparte Medmix inzwischen an die Börse gegangen und der Konzern damit kleiner. Lalanne ist ein ganz anderer Typ als Poux-Guillaume. Der gilt als Grandseigneur, ist hocheloquent, füllt mit seiner Persönlichkeit den Raum aus, kümmert sich um die grossen Linien, gilt als kühl und überlegt. Lalanne hingegen ist eher südländisch geprägt, sehr operativ, sc
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haut die Details an, gilt als bodenständig und als Kumpeltyp, der mit seiner kommunikativen Art auch Zugang zu den Arbeitern in den Werkshallen findet. «Er wird mit Suzanne Thoma besser funktionieren als Greg Poux-Guillaume», sagt einer, der alle drei gut kennt: «Er weiss, wie man zusammenarbeitet, ist kompromissbereiter und besteht nicht immer auf seiner Position.»
Diese Eigenschaft wird er brauchen, denn Thoma gilt als sehr starke Leaderpersönlichkeit: «Sie geht ihren Weg und weiss, was sie will – bei ihr hat man immer Klarheit», sagt Mike Baur, bei dessen Swiss Startup Group sie im Board sitzt. Thoma gilt als sehr analytisch und zahlengetrieben, sachorientiert und unpolitisch. Sie stellt hohe Erwartungen an ihr Team, wer sie nicht erfüllt, bleibt nicht lange auf seinem Job. Anders als Lalanne wirkt sie bisweilen distanziert und unnahbar: Man muss sie gut kennen, bis sie sich einem öffnet.
Auch sonst ist es ein ungleiches Duo, das da aufeinandertrifft. Der Politwissenschaftler und Ingenieur Lalanne hat bei den Weltkonzernen Alstom und GE gearbeitet, war in Paris, Brüssel und Delhi stationiert. Suzanne Thoma, Betriebswirtin und Chemikerin, hat ihre ganze Karriere in der Schweiz zugebracht. Nach der ETH startete sie 1990 bei der Ciba Spezialitätenchemie in Basel, wechselte zwölf Jahre später auf den Chefposten eines Technologie-Start-ups, leitete danach das Automobilzuliefergeschäft der Wicor-Gruppe in Rapperswil. Meisterstück aber war ihre Leistung bei der BKW, wo sie demnächst zurücktritt. In ihren zwölf Jahren dort – davon neun als CEO – hat sie den einst angeschlagenen Energiekonzern gegen alle Widerstände vom Atomstrom losgelöst, als Dienstleister neu ausgerichtet, mit 130 Übernahmen stark ausgebaut und dabei den Börsenwert vervierfacht. Seither geniesst die Industriefrau in Managerkreisen höchsten Respekt.
2020 wurde sie ins Board des Kioskriesen Valora berufen. «Sie war immer topvorbereitet, hat die Sachen aus einer anderen Perspektive kritisch, aber konstruktiv beleuchtet und einen super Job gemacht», sagt der abtretende Valora-Präsident Franz Julen. Doch bereits nach einem Jahr war Schluss: Detailhandel, erkannt Thoma, war nicht ihre Welt. Viele andere hätten aus Reputationsgründen oder wegen des Geldes wohl dennoch weitergewurstelt. «Aber Suzanne Thoma macht keine halben Sachen», bedauert Julen. «Sie ist ein klares Alphatier. Wahrscheinlich sind für sie zwei VR-Präsidien besser als fünf VR-Mandate», sagt ein Mitstreiter.
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PETER LÖSCHER tritt im April nacht acht Jahren als VR-Präsident bei Sulzer ab.
ZVGGREG POUX-GUILLAUME hat als CEO gekündigt, als die Nominierung Thomas feststand.
ZVGTHOMAS ZICKLER wird im Lauf des Jahres den Posten des CFO antreten.
ZVGTIM SCHULTEN hat die Leitung der Servicesparte übernommen.
BloombergEines davon bekommt Thoma jetzt. Sie selber will sich erst äussern, wenn sie 100 Tage im Amt war – Einarbeitungszeit, heisst es (was böse Zungen rätseln lässt, was sie denn die letzten zwei Jahre als Vizepräsidentin gemacht hat). Ihre Karriere im Reich des Sulzer-Grossaktionärs Viktor Vekselberg (48,8 Prozent der Aktien) ging schnell: VR-Präsident Michael Süss holte Thoma 2019 ins Board von OC Oerlikon, um die Frauenquote zu erhöhen; sie wurde ihm von einem Headhunter empfohlen. Im Gremium fiel sie Alexey Moskov auf, der als Vekselberg-Vertreter sowohl bei OC Oerlikon wie auch bei Sulzer im VR sitzt. Er empfahl die Bernerin dem Sulzer-Präsidenten Löscher. Dort stieg sie gleich als Vizepräsidentin ein (der bisherige Vizepräsident Matthias Bichsel wurde für sie zum einfachen VR-Mitglied degradiert) mit der Perspektive, Löscher zwei Jahre später zu beerben.
Mit Vekselberg hat Thoma ausser zwei Board-Meetings bis heute keine Berührungspunkte; in Moskau war sie noch nie, seit sie bei seinen Firmen aktiv ist. Das Mandat bei OC Oerlikon wird sie nun abgeben: Sie will nicht gleich zwei VR-Posten im Dunstkreis des Oligarchen halten. Der steht zwar weiterhin nicht auf der Sanktionsliste der EU oder der Schweiz, dafür seit 2018 auf jener der USA. Seine Anteile an Sulzer, OC Oerlikon oder auch Swiss Steel kann er deshalb nicht verkaufen, seine Dividenden landen auf einem Sperrkonto – faktisch ist der Oligarch von seinen Beteiligungen isoliert. Dass die USA nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs jetzt auch noch Vekselbergs Jacht «Tango» und seinen Airbus zu gesperrtem Eigentum erklärt haben, ändert an der Situation seiner Beteiligungen nichts. Aber es verstärkt noch einmal das Reputationsproblem, das von Vekselberg auf sein Umfeld abstrahlt (siehe auch Seite 36). Gar kein Thema kann wegen der Sanktionen bis auf Weiteres die Fusion von OC Oerlikon mit Sulzer sein, wie sie Oerlikon-Präsident Süss – er wird mit seiner Ernennung zum Executive Chairman im April im Vekselberg-Reich noch an Gewicht gewinnen – bereits seit einigen Jahren propagiert.
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REPUTATIONSRISIKO: Grossaktionär Viktor Vekselberg steht seit 2018 auf der US-Sanktionsliste, aber weiterhin nicht auf jener der Schweiz oder der EU.
BloombergREPUTATIONSRISIKO: Grossaktionär Viktor Vekselberg steht seit 2018 auf der US-Sanktionsliste, aber weiterhin nicht auf jener der Schweiz oder der EU.
BloombergAlso muss Sulzer aus eigener Kraft wachsen, trotz der Folgen von Ukraine-Krieg und Sanktionen, trotz der explodierenden Energiekosten, trotz der weltweiten Lieferkettenprobleme. Chancen sieht die neue Führung im traditionellen Kerngeschäft bei der Öl- und Gasindustrie, das knapp ein Viertel des Umsatzes ausmacht. «Im Upstream-Bereich wurde die letzten drei Jahre signifikant zu wenig investiert», sagt Lalanne. «Durch den hohen Ölpreis steigt nun die Nachfrage, gerade von Staatskonzernen wie Petrobras, Aramco oder Qatargas.» Das Pumpengeschäft soll auch im Bereich Wasseraufbereitung profitieren, schliesslich wird in Europa und den USA die entsprechende Infrastruktur erneuert bzw. ausgebaut.
Viel wichtiger aber dürfte das Geschäft mit der Nachhaltigkeit werden – ein Bereich, den Sulzer sehr spät entdeckt hat. Erst im Herbst 2019 sei er zum ersten Mal von Investoren auf das Thema ESG (Environmental, Social, Governance) angesprochen worden, gab Greg Poux- Guillaume einst zu Protokoll. Einen Chief Sustainability Officer installierte er erst letztes Jahr. Damals erzielte man im Nachhaltigkeitsbereich 14 Prozent des Umsatzes, heuer sollen es 22 Prozent sein. «Öl und Gas werden nicht über Nacht verschwinden. Wir wachsen aber vor allem in den Bereichen Wasser, Energiewende und Circular Economy», sagt Lalanne.
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Womit wir bei Torsten Wintergerste wären, einem alten Sulzer-Schlachtross: Seit 24 Jahren ist der Strömungstechniker schon im Konzern, er hat bereits Herzklappen verkauft und Kompressoren, Webmaschinen und Turbolader. Jetzt soll er den Bereich Chemtech, mit 21 Prozent des Umsatzes die bisher kleinste der drei Sparten, gross machen. Die Erwartungen – und damit der Druck auf Wintergerste – sind gewaltig. Von einer Verdoppelung in sechs bis sieben Jahren spricht man bei Sulzer. Konkrete Businesspläne dafür gibt es nicht, aber Visionen. Aus dem Sulzer-Board vernimmt man sogar das ehrgeizige Ziel von 25 Prozent Wachstum pro Jahr.
Plastikrecycling ist dabei ein grosses Thema. So liefert Sulzer Technologien, mit denen Altkleider in ihre Bestandteile aufgelöst werden können: Baumwolle, Polymere, Farbmittel etc. Dafür hat Sulzer zusammen mit dem Textilgiganten H&M die Mehrheit am britischen Start-up Worn Again übernommen. Ebenfalls gut positioniert ist man in Winterthur beim Thema biologisch abbaubare Kunststoffe: Sulzer ist klarer Weltmarktführer bei Produktionsanlagen für Polymilchsäure, einen Kunststoff auf Zuckerbasis, der etwa in Verpackungen, Konsumgütern oder Autokomponenten herkömmliches Plastik zunehmend ersetzt. Und schliesslich setzt man auch grosse Hoffnung auf die Rückgewinnung und Einlagerung von CO2. Die grundlegenden Technologien dafür sind bei Sulzer vorhanden, bereits sind erste Versuchsanlagen geliefert. Jetzt muss das Geschäft skaliert werden. Fossile Kraftwerke, Kehrichtverbrennungsanlagen oder Zementwerke sind mögliche Anwendungsgebiete. Das Wachstumspotenzial ist im Prinzip unbegrenzt, doch bis das Geschäft abhebt, dürfte es noch ein paar Jahre dauern.
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Die Erwartungen sind also gross an Chemtech, gerade von Suzanne Thoma. Sie ist promovierte Chemikerin und «fühlt sich zuständig für den Bereich», hört man aus ihrem Umfeld. Erfolg und Misserfolg der Sparte werden der Prüfstein sein für das ungleiche Führungsduo bei Sulzer.
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