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Michael Rechsteiner: So tickt der Swisscom-Vertrauensmann

Ende März wird Michael Rechsteiner neuer ­Verwaltungsratspräsident der Swisscom. Trotz steiler Karriere ist er in der Öffentlichkeit unbekannt.

Marc Kowalsky

Michael Rechsteiner

«Ich brauche kein Rampenlicht»: Michael Rechsteiners Karriere hat die Öffentlichkeit nie wirklich zur Kenntnis genommen.

Paolo Dutto

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Wenn nicht gerade Pandemie herrscht, ist Michael Rechsteiner den Grossteil der Woche auf Reisen. Mehr als 300'000 Meilen pro Jahr legt er im Flugzeug zurück, er ist Mitglied im HON Circle, der höchsten Vielflieger-Kategorie von Swiss und Lufthansa. Boston und Atlanta sind regelmässige Destinationen, Russland mit seinen elf Zeitzonen und Israel kommen obendrauf, ganz Europa sowieso.

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«Fliegen macht mir Spass, ich bin völlig unempfänglich für Jetlag, das hat mir nie was ausgemacht», sagt der 58-Jährige. Doch seit dem 23. Dezember 2019 ist er nie mehr in ein Flugzeug gestiegen. «Und ich vermisse es überhaupt nicht!»

Gut für ihn, denn in Zukunft wird sich sein Tätigkeitsgebiet beschränken auf das Dreieck Rorschach–Genf–Mailand. Am 31. März wird Michael Rechsteiner als Nachfolger von Hansueli Loosli zum neuen VR-Präsidenten der Swisscom ernannt. Dann ist er oberster Chef des grössten Schweizer Telekomanbieters mit 11,5 Milliarden Franken Umsatz und 19'000 Mitarbeitern.

In der Schweizer Öffentlichkeit ist Rechsteiner weitestgehend unbekannt, obwohl er im grössten Industriekonzern der Welt, General Electric (GE), Karriere gemacht hat bis in die Ebene direkt unter der Konzernleitung. Lediglich im Aargau trat er gelegentlich auf in seinen Funktionen, zuletzt als Schweizer Länderchef und Leiter des europäischen Kraftwerksgeschäfts. Immer ging es dabei um Stellenabbau, aber dazu später mehr.

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Branchenfremd

Auch bei der Swisscom ist die Lage nicht rosig. Der Umsatz bröckelt, die Gewinne schrumpfen, die Kundenzahlen gehen zurück selbst in Corona-Zeiten, in denen Telekommunikation gefragt ist wie nie. Hinzu kommen hausgemachte Probleme: wiederholte Betriebsausfälle, ein Mangel an Innovationen und Probleme bei der Glasfaserstrategie. Wer also ist Michael Rechsteiner, dem Hansueli Loosli und der Staat als Mehrheitsaktionär der Swisscom diese schwierige Aufgabe anvertraut haben?

Der Konzern General Electric mit Standort in Oberentfelden will den Standort Oberentfelden auflösen und die Produktion nach Frankreich verlegen. Die Arbeitnehmer lehnen sich in Form einer Demonstration mit Kundgebung gegen diese Vorhaben auf. Aufgenommen am 15.10.2020

Wiederholte Restrukturierungen bei GE führten im Aargau regelmässig zu Protesten, hier im Oktober 2020 in Oberentfelden.

Britta Gut
Der Konzern General Electric mit Standort in Oberentfelden will den Standort Oberentfelden auflösen und die Produktion nach Frankreich verlegen. Die Arbeitnehmer lehnen sich in Form einer Demonstration mit Kundgebung gegen diese Vorhaben auf. Aufgenommen am 15.10.2020

Wiederholte Restrukturierungen bei GE führten im Aargau regelmässig zu Protesten, hier im Oktober 2020 in Oberentfelden.

Britta Gut

Ein Kraftwerksbauer, so die naheliegende Antwort, und damit Vertreter einer Branche, die mit der Telekommunikation wenig gemein hat, ausser dass sie Asset-based ist. Und von Anfang an war Rechsteiner ein Weltenbummler. Seine Karriere begann er 1990 frisch nach dem ETH-Studium ausgerechnet auf Hawaii: Die BBC (die spätere ABB) hatte dort ein Kraftwerksprojekt gewonnen; weil Rechsteiner im Konzern als Werksstudent gearbeitet hatte, bekam er den Job in der Nähe von Honolulu, den jeder andere auch wollte.

Es folgten Stationen in Jakarta und Kuala Lumpur, später von Baden aus die weltweite Verantwortung für die Umsetzung von Kraftwerksprojekten bei Alstom, die inzwischen die Kraftwerksaktivitäten der ABB übernommen hatte, dann die Leitung der Servicesparte. Mit jeder Station kamen noch mehr Flugmeilen hinzu.

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Nur einmal, 2003 und für vier Jahre, verliess Rechsteiner den Industriekonzern und ging zur deutlich kleineren Sultex, der ehemaligen Textilmaschinensparte von Sulzer. Dass sie ein Sanierungsfall war, schreckte ihn nicht ab: «Ich wusste, dass sich der Wettbewerb nach Asien verlagert. Es passierte dann aber schneller und intensiver, als ich es mir vorgestellt hatte.»

Als COO musste er die Hälfte der Stellen abbauen, es sollte seine erste Erfahrung mit Massenentlassungen sein. «Im Grosskonzern ist man oft geschützt vor schwierigen Entscheidungen, die fallen meist im Hauptquartier. Bei Sultex wollte ich lernen, selbst die Entscheide zu fällen», sagt er.

Nach der Rückkehr zu Alstom und der späteren Übernahme der Firma durch die amerikanische GE Ende 2015 folgte die schwierigste Zeit in Rechsteiners Karriere. Er hatte verschiedene Angebote, die Firma zu verlassen, nahm sie aber nicht an, weil er, wie er sagt, vom Sinn des Zusammenschlusses überzeugt war. Ein anderer Grund mag eine Rolle gespielt haben, wie damalige Wegbegleiter berichten: Rechsteiner sei nicht risikofreudig genug, und er habe richtig erkannt, dass es im fusionierten Konstrukt ganz oben auch einen Alstom-Vertreter brauche.

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Die Rechnung ging auf, Rechsteiner wurde mit der Zusammenführung der Produktlinien der beiden Kraftwerksbauer beauftragt. Und er wurde, als einer von ganz wenigen Schweizer Topmanagern in der Chefetage, das Gesicht des amerikanischen Konzerns in Baden.

Die kulturell grundverschiedenen Firmen zu verschmelzen, war eine Mammutaufgabe. Hier der französische Anlagenbauer mit wenigen, dafür sehr kundenspezifischen Projekten, zentralistisch und extrem hierarchieorientiert. Dort der amerikanische Equipment-Lieferant im Massengeschäft, hands-on, schnell und relativ unkompliziert. Rechsteiner gelang in seinem Teilbereich der Zusammenschluss gut: «Viele andere Kaderleute sind oder wurden in dieser Zeit gegangen», sagt sein Ex-Kollege Michael Keroullé: «Michael Rechsteiner war einer der wenigen, die sich an den komplett neuen Führungsstil anpassen konnten, weil er verstand, was von ihm als Leader verlangt wurde.»

«Rechsteiner sei nicht risikofreudig genug, sagen manche Wegbegleiter»

Auch, weil er als guter Zuhörer gilt und als jemand, der sich für die Menschen interessiert: «Er ist integrativ und kann die Leute hinter sich versammeln», sagt ein ehemaliger Unterstellter. Dabei führt er mit eher langer Leine: «Aber wenn man bei ihm nicht liefert, hat man gar keine Leine mehr.»

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Politische Spielchen sind ihm fremd, er gilt als transparent, verlässlich, geradlinig und zielorientiert. Für Schnickschnack habe er keine Zeit, sagt Rechsteiner über sich selber. «Ich bin in acht Jahren von ihm nie negativ überrascht oder enttäuscht worden», berichtet ein Weggefährte. «Wenn ich Michael mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es: Vertrauen», sagt sein Ex-Chef Philippe Cochet. Das Wort fällt sehr häufig, wenn man sich in Rechsteiners Kollegenkreis umhört.

Ein Stellenabbau nach dem anderen

Es folgte die wohl schwierigste Zeit in Rechsteiners Karriere: Jedes Jahr musste er massiv Stellen streichen. Zunächst um die Doppelspurigkeiten nach der Fusion sowie Überhänge aus der Alstom-Zeit zu beseitigen. Erschwerend kam hinzu, dass sich die französische Regierung unter Staatspräsident François Hollande und Wirtschaftsminister Emmanuel Macron im Gegenzug für die Übernahmegenehmigung ausbedungen hatte, dass GE in Frankreich 1000 Stellen aufbauen musste – die dafür im Aargau abgebaut wurden.

Später musste Rechsteiner erneut restrukturieren, weil sich der Markt für Gasturbinen weltweit halbierte, dann weil GE wegen der Energiewende aus dem Kohlekraftwerksgeschäft ausstieg, zuletzt wegen Covid-19. Insgesamt verschwand die Hälfte der einst 5000 Stellen in sieben Abbaurunden, davon alleine drei im letzten Jahr. Wieder und wieder musste Rechsteiner vor die Belegschaft treten und den Mitarbeitern die schlechten Nachrichten überbringen. «Er tat es klar, geradlinig und ehrlich», sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Rechsteiner ist kein Selbstdarsteller, keine Plaudertasche, sondern streng sachorientiert. «Ich brauche kein Rampenlicht», sagt er selber. Dass er sich und seine Leistungen deshalb bisweilen nicht adäquat verkaufen kann, legen ihm manche Mitstreiter als Schwäche aus.

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Trotz der massiven Streichungen gab es kaum böses Blut an den Standorten Baden, Birr, Oberentfelden und Turgi. Ex-Chef Cochet sagt: «Michael ignorierte die Fakten nicht, aber er zog den Abbau in einer menschlich erträglichen Art und Weise durch.» Durch Umschulungen und eine interne Stellenvermittlung konnten sehr viele Betroffene eine neue Stelle finden, noch bevor ihre Kündigungsfrist abgelaufen war; für die anderen griffen Sozialpläne. Dass GE dafür grosszügig Geld zur Verfügung gestellt hatte, «ist nicht typisch für ein US-Unternehmen» (Rechsteiner). Aber es half ihm.

So ist denn auch von Arbeitnehmerseite – und das ist ungewöhnlich – nichts Schlechtes über den Abbaumeister zu hören: «Ich habe ihn als fairen, transparenten und effektiv bemühten Manager erlebt», sagt Christof Burkard, der damals in Baden den Verband Angestellte Schweiz beim Thema Sozialpartnerschaften vertrat: «Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er gegen den Standort gearbeitet hätte.» Thomas Bauer, Präsident Personalvertretung GE, sagt: «Er war pragmatisch, lösungsorientiert respektive kompromissbereit.» Sein Weggang sei ein Verlust.

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Rechsteiner gilt als Kämpfer, für seine Sache, aber auch beim Sport. «Er will immer gewinnen und rennt auch aussichtslosen Bällen hinterher», sagt einer, der regelmässig mit ihm im Squash-Court stand.

Der 1,95-Meter-Mann hat so ziemlich alles praktiziert von Fallschirmspringen bis Tauchen. Im Eishockey spielte er als Verteidiger («Aufräumen und dann aufbauen»), heute konzentriert er sich auf die Familiensportarten Skifahren, Langlauf, Mountainbiken und Wandern. Die Familie bedeutet ihm viel: Frau Claudia führt in Dielsdorf eine Apotheke, Sohn Samuel (28) arbeitet bei der Axpo als Maschinenbauer, die ältere Tochter Simone (26) ist Ärztin, die jüngere Dominique (19) studiert Medizin.

Rechsteiner stammt aus gutbürgerlicher Familie, der Vater war Elektriker, die Mutter Chemielaborantin und später Hausfrau. Als zweitältester von vier Söhnen durfte Michael als Einziger auf dem ersten Bildungsweg die Matura machen und studieren; seit der Primarschule, als er für 20 Franken wochenlang das Lager des väterlichen Geschäftes aufräumte, verdiente er sich eigenes Geld dazu. Diese Bodenständigkeit und auch eine gewisse Demut hat er sich bis heute bewahrt. Auch gegenüber der Natur: 2002 baute er an seinem Wohnort Oberweningen AG eines der ersten Minergie-Häuser der Schweiz, als Erster bei Alstom wählte er kurz nach der Markteinführung einen Tesla als Firmenwagen («Der stand mehr in der Garage als daheim»). Heute fährt er einen Audi e-tron.

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Nachfolge stand früh im Raum

Die Karriere des Appenzellers wurde von der Öffentlichkeit nie wirklich zur Kenntnis genommen. Als er 2019 von einem Zürcher Headhunter für den VR-Sitz bei der Swisscom angefragt wurde, war sich Rechsteiner nicht sicher, ob er das Angebot annehmen sollte, und fragte mehrere Kollegen nach ihrer Ansicht. «Das wird deine Sichtbarkeit deutlich erhöhen», antwortete einer.

Michael Rechsteiner mit Frau Claudia, den Töchtern Dominique und Simone sowie Sohn Samuel mit dessen Freundin beim Riverrafting auf dem Vorderrhein 2018.

Rechsteiner mit Frau Claudia, den Töchtern Dominique und Simone sowie Sohn Samuel mit dessen Freundin beim Riverrafting auf dem Vorderrhein 2018.

ZVG
Michael Rechsteiner mit Frau Claudia, den Töchtern Dominique und Simone sowie Sohn Samuel mit dessen Freundin beim Riverrafting auf dem Vorderrhein 2018.

Rechsteiner mit Frau Claudia, den Töchtern Dominique und Simone sowie Sohn Samuel mit dessen Freundin beim Riverrafting auf dem Vorderrhein 2018.

ZVG

Es war klar, dass Loosli 2021 wegen der Amtszeitbeschränkung auf zwölf Jahre abtreten müsste; die Möglichkeit, dass Rechsteiner sein Nachfolger würde, stand bereits damals im Raum. Zumal Barbara Frei, Europachefin bei Schneider Electric und das einzige andere Board-Mitglied mit dem nötigen Kaliber für das Präsidium, früh klarmachte, dass sie für den Job nicht zur Verfügung steht. Rechsteiner hat es nicht bereut, die Arbeit im Swisscom-Board, so berichten GE-Mitarbeiter, mache ihm Spass. Im Gremium höre Rechsteiner gut zu und stelle die richtigen Fragen, heisst es. «Er hat viel im Bereich B2B beigetragen», sagt VR-Kollegin Frei. «Und er bringt das Denken eines internationalen Grosskonzerns mit.»

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Dabei unterscheidet er sich fundamental von seinem Vorgänger Loosli: Der kommt aus dem Detailhandel und ist auf die Drehzahl ausgerichtet: wie schnell sich Produkte verkaufen. Rechsteiner kommt aus dem Anlagenbau und ist auf Capex ausgerichtet: wie viel Geld investiert werden muss. Auch atmosphärisch wird der Wind drehen: Während Loosli im Board sehr bestimmt auftritt und seine Ideen durchzieht, pflegt Rechsteiner einen offeneren Führungsstil. «Michael wird einen anderen Ton anschlagen», sagt Frei.

Rund 560'000 Franken wird Rechsteiner als Swisscom-Präsident verdienen – deutlich weniger als bei GE.

Der Tag seiner Wahl zum Präsidenten der Swisscom wird auch sein letzter bei GE sein. Für sein neues Amt verzichtet Rechsteiner auf viel Geld. Mit 560'000 Franken pro Jahr ist es finanziell deutlich weniger attraktiv als der GE-Job. «Aber als Aufgabe ist es viel attraktiver», sagt Rechsteiner. Bei GE wird er weiterhin als externer Berater gewisse Mandate betreuen und sich ansonsten auf die Swisscom konzentrieren – «anfangs sicher mehr als die offiziellen 50 Prozent», sagt er. Loosli ackerte sogar 40 Stunden pro Woche für die Swisscom, parallel zu seiner Stelle als Präsident von Coop und dem CEO-Posten bei deren internationaler Tochter Transgourmet.

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Hat Hansueli Loosli also den idealen Nachfolger für seinen eigenen Job gefunden? Zweifel bleiben. Zum einen gilt GE, gegründet im Jahre des Herrn 1892, als Inbegriff der Old Economy. Auch wenn die letzten Jahre Cloud und Edge Computing dort ein Thema war und das Internet der Dinge (Stichwort: Predictive Maintenance) schon lange, so ist es von dort ein weiter Weg zum Telekomkonzern, der sich an der Spitze der Schweizer Digitalisierungsbewegung sieht.

Dann trägt Rechsteiner bei GE zwar offiziell den Titel eines CEO, de facto aber leitet er eine Sparte mit drei Milliarden Umsatz und 7500 Mitarbeitern, über ihm hat es im Konzern noch zwei Ebenen. Vom Spartenleiter und einfachen VR-Mitglied zum Präsidenten ist es ein ungewöhnlicher Schritt, zumal Rechsteiner sonst lediglich vier Jahre Board-Erfahrung bei Sultex vorweisen kann.

Ausserdem hat er kaum Erfahrung mit Investoren. Jetzt aber muss er rund um die Uhr die Eidgenossenschaft als Mehrheitsaktionär streicheln. «Das beunruhigt mich gar nicht», sagt Rechsteiner. Auch der Schritt von der freien Industrie in die hoch regulierte Telekomwelt ist gross: «Die zu verstehen, ist die grösste Herausforderung für ihn», sagt Ex-Kollege Keroullé. Zumal der parteilose Michael Rechsteiner zwar im Kanton Aargau vernetzt ist, aber kaum in Bundesbern. Dieses Netzwerk aufzubauen, sieht er denn auch als einen seiner «intensiven Fokuspunkte in nächster Zeit.»

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Innovationsdefizite

Doch auch sonst erwartet ihn einiges an Arbeit. Ebenso wie sein Vorgänger wird er ab 31. März in allen Board Committees einsitzen (derzeit ist Rechsteiner nur im Finanzkomitee). Die neue Konkurrenz durch die fusionierte Sunrise-UPC ist in der Liste seiner Herausforderungen noch das geringste Problem, werden die bisherigen Nummern zwei und drei des Schweizer Telekommarktes auch nach dem Zusammenschluss keine wirkliche Gefahr für die Vormachtstellung der Swisscom  und die nächsten 12 bis 18 Monate hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sein.

Von einem «Glücksfall für die Swisscom» spricht gar Telekomexperte Jörg Halter von der Beratungsfirma OCHA. «Die Swisscom fokussiert sich auf eigene Stärken, es wäre falsch, uns deswegen radikal zu ändern», sagt Rechsteiner zur neuen Marktkonstellation. Stattdessen will er weiter Kosten sparen, indem die internen Abläufe durch optimierte digitale Prozesse effizienter werden. Was nicht zulasten der Qualität gehen darf: Vergangenes Jahr hat die Swisscom wiederholt mit Netzausfällen und Datenverlusten zu reden gegeben, Loosli und CEO Urs Schaeppi mussten deshalb sogar bei Kommunikationsministerin Simonetta Sommaruga antraben. Das Problem muss die Swisscom, die mit ihrer Qualität wirbt, dringend in den Griff bekommen.

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Ebenso wie jenes der mangelnden Innovationen: Einst trieb die Swisscom mit neuen Produkten den Markt vor sich her. «Aber in den letzten vier, fünf Jahren ist nichts mehr passiert, da müsste der Marktleader viel mehr bringen», sagt Halter. Rechsteiner sieht die Innovationskultur «intakt», als Beispiel fällt ihm aber auch nicht mehr ein als das Rebranding der TV-Dienste und Kinos unter dem Label «Blue» letzten Herbst. 5G wäre eine Chance, doch die Swisscom leidet – ebenso wie die anderen Carrier – unter mangelnder Akzeptanz des neuen Mobilfunkstandards durch die Bevölkerung. Auch weil sich die gesamte Branche diesbezüglich falsch positioniert hat und die technischen Vorteile hervorhebt, statt die Bedürfnisse und die Ängste der Bevölkerung zu adressieren.

«Das Problem der Netzausfälle muss die Swisscom dringend in den Griff bekommen.»

Eine grössere Baustelle erbt Rechsteiner von seinem Vorgänger beim Glasfaserausbau: Ursprünglich schloss die Swisscom jedes Haus einzeln an. Aus Kostengründen änderte man dann mehrmals die Strategie, derzeit muss eine Faser von der Zentrale zur Strasse für 32 Häuser reichen. Doch so können andere Telcos, die die Swisscom-Leitungen mieten, keine eigenen Produkte darauf anbieten. Das sei ein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung, urteilte die Wettbewerbskommission im Dezember und verbot diese Einschränkungen.

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Wachstumssorgen

Wenn das Bundesverwaltungsgericht den Entscheid bestätigt, muss die Swisscom zurück auf Feld eins und wieder jedes Haus einzeln anschliessen. Telekom-Experte Halter rechnet für diesen Fall mit Kosten von vier bis sechs Milliarden Franken. Für Rechsteiner ist es «unverständlich, warum wir in dieser Situation sind, wenn die gewählte Netzarchitektur im Rest der Welt absolut üblich ist.»

Und irgendwann muss sich der neue VR-Präsident die Frage stellen, ob Urs Schaeppi noch der richtige CEO an seiner Seite ist. Auch wenn die beiden mit ihrer Bodenständigkeit und Risikoaversion wohl gut harmonieren werden: Schaeppi (61) verwaltet seit siebeneinhalb Jahren den schleichenden Niedergang der Swisscom; Gerüchte, er sei amtsmüde, kursieren seit Längerem, werden aber von der Swisscom dementiert.

Über allem steht die Frage nach Wachstumspotenzial. Einzige Möglichkeit dazu ist derzeit die italienische Tochter Fastweb, daneben wird Rechsteiner weiterhin Auslandsopportunitäten prüfen, wie das der Verwaltungsrat auch in den letzten zwei Jahren getan hat. Die Auswahl wird überschaubar sein, muss eine Akquisition doch in die Geschäftsfelder, das Risikoprofil und die Vorgaben des Hauptaktionärs passen.

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Die Karriere von Michael Rechsteiner

Juni 1990: Als junger Ingenieur hilft Rechsteiner BBC/ABB bei der Inbetriebnahme zweier Kraftwerke in Hawaii und Indonesien, anschliessend macht er den MBA in St. Gallen.

Juni 1996: Von Kuala Lumpur aus verantwortet er Kraftwerksprojekte in Südostasien. Dank hohem Auftragsbestand kommt ABB gut durch die Asienkrise.

Juli 2000: Es kommen Europa, der Mittlere Osten und Lateinamerika sowie die kaufmännische Verantwortung hinzu, später der Rest der Welt; Alstom kauft die Aktivitäten von ABB.

Januar 2012: Als global Verantwortlicher für die Produktelinien im Kraftwerksgeschäft reist er noch mehr um die Welt.

November 2015: Nach der Übernahme von Alstom durch GE muss er die Produktelinien der beiden Konzerne zusammenbringen.

März 2021: Als VR-Präsident der Swisscom wird Rechsteiners Wirken deutlich lokaler.

Januar 2003: Bei Sultex, der ehemaligen Sulzer Textil, muss er als COO Hunderte Stellen abbauen.

Juni 2007: Rechsteiner kehrt zurück zu Alstom als Leiter des Gasturbinen-Service – «der einzige Job, der mich damals dort interessierte». Ihm unterstehen 12'000 Angestellte und 5 Mrd. USD Umsatz.

September 2013: Rechsteiner wird Serviceleiter für alle Kraftwerkstechnologien (15'000 Angestellte, 5 Mrd. USD Umsatz).

April 2017: Als CEO Gas Power Europe unterstehen ihm 7500 Mitarbeiter und 3 Mrd. USD Umsatz, zugleich ist er Schweizer Länderchef von GE.

Rechsteiner fürchtet sogar weitere Einschränkungen: «Der Bund war in den letzten 20 Jahren ein hervorragender Mehrheitsaktionär», sagt er. «Sorge bereiten mir nun aber die aktuellen Tendenzen zu staatlichen Beschränkungen des Handlungsspielraums.» So vorsichtig, wie Michael Rechsteiner agiert, ist nicht zu erwarten, dass er bei der Swisscom einen grösseren Befreiungsschlag wagt. Deshalb wird er sich jetzt erst mal auf heimische Tätigkeiten konzentrieren. «Ich habe 30 Jahre lang Infrastruktur rund um die Welt gebaut», sagt er. «Ich finde es total cool, nun Infrastruktur für die nächsten 30 Jahre in der Schweiz zu bauen.»

Heisst das, dass der einstige Weltenbummler nie mehr global tätig sein wird? «Mal schauen», sagt er. Zu einem späteren Zeitpunkt sei er auch offen für weitere VR-Mandate. Doch auf absehbare Zeit wird Michael Rechsteiner seine schwarze Vielflieger-Karte erst einmal eintauschen gegen ein rotes Generalabonnement der SBB.

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