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Mit seiner Dreifachfunktion bei Siemens ist Matthias Rebellius zum wichtigsten Schweizer Industriemanager aufgestiegen.
Marc Kowalsky
Aufholbedarf: Bei Ladestationen sieht Matthias Rebellius ein Wachstumspotenzial von bis zu 30 Prozent.
Gian Marco Castelberg für BILANZWerbung
Jeden Morgen stellt sich für Matthias Rebellius die Z-Frage: Bleibt er zu Hause im Homeoffice? Fährt er mit seinem BMW i3 vom Wohnort Meilen 32 Kilometer der Goldküste entlang nach Zürich-Altstetten? Oder nimmt er die Fähre über den Zürichsee und fährt die 24 Kilometer nach Zug?
Entscheidet er sich für Zürich, ist er unterwegs in seiner Rolle als Schweiz-Chef von Siemens. Geht die Fahrt nach Zug, kümmert er sich um die weltweite Sparte Smart Infrastructure. Ab 1. Oktober kommt eine vierte Option dazu, bei der die Reise ungleich länger ist: 333 Kilometer nach München. Die sind mit dem i3 nicht zu schaffen, Rebellius kann dafür auf den Chauffeurdienst von Siemens zurückgreifen.
Der 55-Jährige ist der wichtigste Industriemanager der Schweiz: Seit ABB ihre Stromsparte an Hitachi verkauft hat, ist Siemens hierzulande der grösste industrielle Arbeitgeber mit 5740 Mitarbeitern. Rebellius als Schweiz-Chef ist verantwortlich für mehr als 20 Standorte, vier Fabriken und 2,2 Milliarden Franken Umsatz. Zugleich leitet er das weltweite Geschäft der Sparte Smart Infrastructure mit 72 400 Mitarbeitern und 15,2 Milliarden Euro Umsatz.
In dieser Funktion zog Rebellius am 1. Oktober in den Vorstand des Traditionskonzerns mit Sitz in München ein. Dort trägt er dann auch noch die übergeordnete Verantwortung für die Türkei, Grossbritannien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien, Singapur, Kanada und Australien. Und als wäre das nicht genug, sitzt Rebellius auch noch im Aufsichtsrat (dem deutschen Pendant des Schweizer Verwaltungsrates) von Siemens Energy, die am 28. September an die Börse ging – mit 29 Milliarden Umsatz und 91 000 Mitarbeitern ein Gigant.
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Die Berufung in den Vorstand kam für Rebellius «nicht ganz so überraschend», wie er es selber in seiner bedachten Art ausdrückt. Als COO der Sparte war er die letzten eineinhalb Jahre bereits für das Tagesgeschäft von Smart Infrastructure zuständig. Sein bisheriger Chef, der Deutsche Cedrik Neike, übernimmt im Vorstand nun andere Aufgaben. Dass der designierte Siemens-CEO Roland Busch, von 2015 bis 2019 der direkte Vorgesetzte von Rebellius, diesen nun nachrücken lässt, erscheint logisch.
Rebellius ist nicht der erste Schweizer im Vorstand des 87-Milliarden-Konzerns: Barbara Kux war von 2008 bis 2013 – damals als erste Frau überhaupt im Führungsgremium – zuständig für den Einkauf und das Thema Nachhaltigkeit, hatte aber keine operative Ergebnisverantwortung. Rebellius dafür umso mehr. Eine feste Zeiteinteilung zwischen den drei Rollen gibt er sich nicht. «Aber das Weltgeschäft mit 15 Milliarden Umsatz ist schon die dominierende Aufgabe», sagt er.
Rebellius – der Name stammt aus der Eiffel, einer Gegend unter einst starkem römischem Einfluss – ist ein stiller Schaffer, der sich 30 Jahre lang im Konzern hochgedient hat. Der gebürtige Wuppertaler wollte eigentlich Lehrer werden, begann dann aber während des Elektroingenieur-Studiums bei Siemens in Erlangen. In die Schweiz kam er 2003, als er die Leitung der Brandmeldertochter Cerberus in Männedorf übernahm: eine Schweizer Ikone, Marktführer, sieben Jahre zuvor mit der Elektrowatt-Gruppe übernommen, aber im florierenden Industriegeschäft von Siemens nicht gut integriert und seit fünf Jahren in der Krise.
Rebellius hatte die heikle Aufgabe, die schweizerische und die deutsche Kultur zusammenzubringen, das KMU in den Grosskonzern zu integrieren, die Produktpalette zu erneuern, eine globale Strategie zu finden und die Produktion nach Zug zu verlagern. «Für die Menschen bei Cerberus war es natürlich sehr schwierig», erinnert er sich. Auch wegen des bisweilen forschen Auftretens von Matthias Rebellius: «Damals konnte er die Feinheiten noch nicht sehen», sagt ein damals Beteiligter. «Das würde ihm heute nicht mehr passieren.»
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Dennoch gelang der Balanceakt der Integration. «Da ist mir bewusst geworden, dass es enorm wichtig ist, den richtigen Mix zu finden, sowohl an Leuten im Team als auch im Umgang miteinander», sagt Rebellius. Heute werden in Zug 2,5 Millionen Brandmelder pro Jahr hergestellt, die Hälfte der weltweiten Konzernproduktion.
2006 fällt er den Siemens-Oberen erstmals auf: «Er galt damals als potenzieller Aufsteiger, wegen seiner Leistungen, aber auch der Werte, die er verkörperte», erinnert sich sein Mentor Rolf Renz, langjähriger Finanzchef von Siemens Schweiz. Auch weil er sich bemühte, das komplexe Geschäft der Gebäudetechnik von Grund auf und bis ins Detail zu verstehen: «Das hat ihm bei den Mitarbeitern Glaubwürdigkeit verschafft», so Renz.
2012 schickt ihn die Firma nach Chicago, als Amerika-Chef der Sparte Gebäudetechnik, zu der Cerberus gehört. «Eine coole Zeit», wie sich Rebellius erinnert. Geschwindigkeit und Innovationskraft dort prägen ihn. Die Tochter, damals Studentin und heute Ärztin, hält die Stellung in Meilen und damit das Domizil für Rebellius, bis er 2015 zurückkehrt als weltweiter Leiter Gebäudetechnik, zu der neben Cerberus noch die ehemalige Stäfa Control (Gebäudeautomatisierung) und der Elektrokonzern Landis + Gyr gehören (das Zählergeschäft wurde später unter dem alten Namen ausgegliedert und ist heute börsennotiert). Mit einem Wachstumsprogramm will Rebellius seine neue Stelle in Zug antreten, doch nach zwei Wochen im Amt gibt die Nationalbank den Frankenkurs frei.
Statt Expansion muss Rebellius den Mitarbeitern eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 42 auf 45 Stunden abtrotzen und zwei Monate später einen Abbau um 150 Stellen verkünden. Und er muss in München den eben getroffenen Investitionsentscheid verteidigen, in Zug ein 250 Millionen teures neues Hauptquartier für die Division zu errichten, das als Referenzprojekt für Gebäudetechnik dienen soll. Mit Erfolg: Durch die Mehrarbeit sowie Ferienverzicht des Personals und durch Bonusreduktion im Management wird die Krise auf der Kostenseite abgefedert. Und Rebellius kann andere Siemens-Regionen überzeugen, mehr Produkte in der Schweiz zu kaufen.
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Von einer «prägenden Erfahrung» spricht er, auch was die Sozialpartnerschaft angeht, die so ganz anders war als jene, die er aus anderen Ländern kannte: «Jeder hat seinen Beitrag geleistet.» Einfach durchzusetzen war das nicht. Einer, der dabei war, erinnert sich: «Rebellius hat die brutale wirtschaftliche Realität akzeptiert, stand überzeugend hin und konnte so die Menschen hinter sich scharen.»
«In den vier Jahren als Chef machte Rebellius die Sparte vom Randgebiet zur Ertragsperle.»
In den vier Jahren als Chef machte Rebellius die Sparte vom «Randgebiet» (Siemens-CEO Joe Kaeser) zur Ertragsperle: Bevor die Gebäudetechnik im April 2019 mit anderen Bereichen zur neuen Sparte Smart Infrastructure zusammengelegt wurde, war sie unter den neun Konzernsparten die zweitprofitabelste. Rebellius übernahm die Rolle des COO und gleichzeitig den Chefposten bei der Schweizer Landesgesellschaft: Sie macht 70 Prozent ihres Umsatzes mit Smart Infrastructure.
Corona ist seine grösste Herausforderung bislang. Zum einen auf der Produktionsseite: Im Shutdown mussten diverse Fabriken geschlossen werden; weil der Nachschub aus Italien und Indien zeitweise unterbrochen war, musste bei anderen Werken Kurzarbeit eingeführt werden, bis die Backup-Lösungen griffen. Zum anderen auf der Kundenseite: Schon vorher hatten in Europa Maschinenbauindustrie und Automobilzulieferer, traditionell wichtige Abnehmer von Siemens, aus konjunkturellen und strukturellen Gründen geschwächelt. Die Pandemie half ihnen nicht.
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Das Geschäft mit Smart Infrastructure hingegen ist eher langfristig angelegt und auch dank des Servicegeschäftes krisensicherer. Doch wenn die Corona-Folgen länger anhalten und etwa die öffentliche Hand mangels Steuergeldern weniger für Spitäler oder Energieverteilung ausgeben kann, wird auch dieses Geschäft in Mitleidenschaft gezogen werden.
««Er lebt das Subsidiaritätsprinzip, deshalb ist er auch ein guter Schweizer geworden.»»
Rolf Renz, langjähriger Finanzchef von Siemens Schweiz
Anders als sein Vorgänger Sigi Gerlach ist Rebellius nicht der Typ zackig-deutsch. Zwar steht er nicht ungern im Rampenlicht, so hört man, zwar weiss er bisweilen die Dinge gerne besser als die anderen. Aber: «Die internationale Tätigkeit hat bei mir dazu geführt, dass ich versuche, Kulturen zu verstehen und mich ein Stück weit anzupassen», sagt er.
Sein Vertrauen muss man sich verdienen, aber hat man es einmal, gibt Rebellius seinen Mitarbeitern Freiraum und delegiert viel – auch weil seine Direktunterstellten rund um den Globus es kulturell nicht unbedingt gewohnt sind, jeden Tag abgefragt zu werden. «Er lebt das Subsidiaritätsprinzip, deshalb ist er auch ein guter Schweizer geworden», sagt Renz. Rebellius selber beschreibt seinen Führungsstil als «Dreieck aus fordernd, vertrauend und integrierend». Er setzte von Anfang an auf schlanke Strukturen, was im behäbigen Konzern lange Zeit alles andere als selbstverständlich war. Und er kommuniziert mehr nach aussen, ist aktiv in Verbänden und Politik.
Seit Februar hat Rebellius auch den Schweizer Pass mit Bürgerrecht in Zürich und Meilen. Im Einbürgerungstest holte er 97 von 100 möglichen Punkten (sein langjähriger Konkurrent, der damalige ABB-Chef Ulrich Spiesshofer, kam im nahe gelegenen Zollikon auf 95). In Meilen hielt er dieses Jahr die Rede zum 1. August: Vor Corona-bedingt gelichteten Reihen sprach er über die Deindustrialisierung rund um den Zürichsee, auch am eigenen Beispiel Cerberus, und den digitalen Wandel.
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Heute ist ihm um den Standort Schweiz nicht bange. Drei bis fünf Prozent Produktivitätssteigerung pro Jahr muss er erreichen, um die Sicherheit des Standortes zu gewährleisten – in der Vergangenheit ist das fast immer gelungen. Heuer verzeichnet Siemens Schweiz im ersten Halbjahr trotz Corona ein Wachstum von drei Prozent. «Das gibt mir die Zuversicht, dass wir auch nach der Krise weiter wachsen werden.» Rebellius selber wird sich in der Schweiz auf Repräsentationsaufgaben beschränken, die operative Führung wird er an die Geschäftsleitung delegieren. Bei Smart Infrastructure plant er ohne COO – wie er es selber bislang war –, sondern will die Technologie- und Vertriebsleiter sowie Finanzchef Axel Meier, mit dem er seit acht Jahren zusammenarbeitet, stärker in die Pflicht nehmen.
Zu tun gibt es genug: Das Geschäft mit Datacentern etwa boomt enorm dank der Arbeit im Homeoffice zu Corona-Zeiten. Weitere Impulse soll eine Zusammenarbeit mit dem Softwarehersteller Salesforce im Bereich der Workplace-App Comfy bringen. Aufholbedarf hat Siemens hingegen bei der Ladeinfrastruktur für E-Mobilität: Zwar hat man weltweit 60 000 Ladestationen installiert, doch damit liegt Siemens weit hinter ABB, die sich in diesem Bereich klar positioniert hat. Ein Wachstumspotenzial von bis zu 30 Prozent sieht Rebellius. Auch weil die Nieder- und Mittelspannungstechnik ebenfalls zu seiner Sparte gehört: Schliesslich generieren Gebäude zunehmend selber Energie und geben diese ab ins Netz oder direkt an Ladestationen.
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Und auch um die Weltpolitik muss sich Rebellius nun vermehrt kümmern: Der Handelskrieg made in USA beschert Siemens bereits jetzt Strafzölle in der Höhe von signifikanten zweistelligen Millionenbeträgen. Ein überschaubares Risiko ist hingegen der Brexit, auch wenn er hart ausfallen sollte: «Wir haben kaum Werteflüsse über die britische Grenze», so Rebellius. Und in seiner neuen Rolle als Aufsichtsrat bei Siemens Energy muss er mithelfen, die noch immer überwiegend vom Öl- und Gasgeschäft abhängige Firma zukunftstauglich zu machen.
Der scheidende Konzernchef Joe Kaeser hat Siemens unter dem Projektnamen «Vision 2020 plus» über die letzten Jahre massiv umgebaut und diverse Bereiche – etwa das Gesundheitsgeschäft Healthineers – verselbstständigt oder zusammengelegt. Der Börsengang des Energiegeschäftes am 28. September war der letzte Akt dazu. Danach bleiben von den einst fast ein Dutzend Konzernsparten nur noch drei; Smart Infrastructure ist die zweitgrösste, knapp hinter Digital Industries. Unter dem neuen CEO Roland Busch – er trat sein Amt am 1. Oktober an – erwartet Rebellius erst einmal Ruhe: «Man kann die Firma ja nicht alle drei Jahre komplett umbauen, und er hat die ‹Vision 2020 plus› mitgeprägt.»
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Von daher ist zu erwarten, dass Rebellius auch die nächsten Jahre seinem Arbeitgeber treu bleibt. Die ganze Karriere bei Siemens zu verbringen, sei «kein Lebensplan» gewesen, sagt Rebellius. Aber es habe sich so ergeben, «auch weil es innerhalb der Firma sehr viele Firmen gibt». Zwar hat er im Lauf seiner Karriere von Entwicklung über Produktmanagement bis Marketing so ziemlich jeden Aspekt selber gemacht. Doch nach 30 Jahren bei Siemens fehlt ihm der Blick von aussen, wie er zugibt: «Das ist wahrscheinlich so – wie in jeder langen Beziehung.» Ebenfalls lang, nämlich 40 Jahre, ist die Beziehung zu seiner Frau Ulrike.
Auch sonst ist Rebellius ausdauernd: Er schwimmt, etwa beim Zürcher Samichlausschwimmen, fährt Velo und rennt. 4 Stunden 20 Minuten ist seine Bestzeit über die Marathondistanz. «Nicht besonders schnell», wie er selber sagt, «und heute würde ich das wohl auch nicht mehr schaffen.» Statt Langstreckenrennen bemüht er sich nun, kürzere Distanzen in den Arbeitsalltag einzubauen: «Ich habe genug andere Marathons.» Und mit seinen neuen Aufgaben wohl keine Zeit mehr für echte 42,195 Kilometer.
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