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Start-ups und Investoren entdecken die Frauengesundheit. Das Potenzial ist gross – es geht um die Hälfte der Weltbevölkerung.
Die Gesundheit von Frauen wird bis heute von der Gesellschaft tabuisiert, von der Forschung vernachlässigt und in der medizinischen Praxis nachrangig behandelt. Doch nun widmen sich immer mehr Start-ups der Frauengesundheit.
Illustration: Anne-Marie Pappas / Kombinatrotweiss für BILANZWerbung
Es klang wie ein Hilferuf: «Meine Periode war schon immer schmerzhaft. Jeden Monat hatte ich Angst davor. Als ich jung war, sagten meine Ärzte, das sei ganz normal. Erst als ich an der Uni war, ging ich zu einer Gynäkologin, die auf diese Probleme spezialisiert war. Sie diagnostizierte Endometriose bei mir. Davon hatte ich noch nie gehört!» Dies ist eine von mehr als 500 Geschichten, die Frauen in den vergangenen Wochen in den sozialen Medien geteilt haben. Unter dem Hashtag #MyStoryForChange hat das Pharmaunternehmen Roche Frauen auf der ganzen Welt aufgerufen, über ihre Erfahrungen aus dem Gesundheitsbereich zu berichten.
Die Geschichten handeln von Fehldiagnosen und unerkannten oder unterschätzten Symptomen. Die Gesundheit von Frauen wird bis heute von der Gesellschaft tabuisiert, von der Forschung vernachlässigt und in der medizinischen Praxis nachrangig behandelt. Doch nun widmen sich immer mehr Start-ups der Frauengesundheit. Einige lukrative Verkäufe, Börsengänge und millionenschwere Finanzierungsrunden haben den Scheinwerfer auf das Thema gerichtet. Mit dem Geld kommt die Aufmerksamkeit. Noch wird der Markt von vielen unterschätzt, doch das Wachstum ist stark. Ein erfreulicher Trend für Frauen – und für Investoren.
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Im Jahr 2020 investierten Wagniskapital-Firmen laut dem Branchendienst PitchBook weniger als 500 Millionen Dollar in Firmen für Frauengesundheit. Im vergangenen Jahr lag das Investitionsvolumen bereits bei über einer Milliarde Dollar. Die Zahl der Femtech-Firmen hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt, von circa 600 auf knapp 1300. Immer mehr Player mit bahnbrechenden Innovationen tauchen auf. Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) hat sich den Femtech-Markt genau angeschaut und sieht dort bemerkenswerte Wachstumsraten.
Die Venture-Investitionen in Femtechshaben sich in den letztenfünf Jahren auf 1,9 Milliarden Dollar verdreifacht.
Die Zahl der Femtech-Firmen hat sich seit 2015 von knapp 600 auf über 1300 mehr als verdoppelt.
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Seit 2018 ist das Investitionsvolumen in Femtech-Start-ups um 35 Prozent gewachsen. In den kommenden Jahren wird die Kurve leicht abflachen. «Bis 2030 werden sich die weltweiten Wachstumsraten bei 15 Prozent einpendeln», sagt Karin Tremp, Principal und Gesundheitsexpertin bei BCG in Zürich. Das stärkste Wachstum erwartet sie für die Segmente mentale Gesundheit, Krebsvorsorge und hormonelle Gesundheit. Insgesamt wird der globale Markt für Frauengesundheit, laut Schätzungen von BCG, von derzeit knapp 30 Milliarden auf fast 70 Milliarden Dollar 2029 ansteigen.
«In der Medizin dient ein Standardmensch als Referenz, und dieser ist ein Mann», erklärt Stephanie Sassman, Portfolio Leader Women’s Health bei Roche und eine der treibenden Kräfte hinter dem XProject. Fehldiagnosen sind die Folge. Herzinfarkte und Schlaganfälle werden bei Frauen viel öfter nicht richtig diagnostiziert. «In diesen Fällen sind die Zeitfenster für eine Therapie klein. Es geht um Leben und Tod», betont Sassman. Frauen unter 50 Jahren haben eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate durch Herzinfarkte wie Männer. Auch bei Therapie und Prävention werden Unterschiede zwischen Mann und Frau kaum berücksichtigt.
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Die aufblühende Femtech-Branche will die Medizin revolutionieren. Geprägt wurde dieser Begriff 2016 von Ida Tin, der Gründerin von Clue, einer App zur Ermittlung der fruchtbaren Tage im Zyklus einer Frau. Unter Femtech werden technologische Lösungen, die sich auf die Gesundheit von Frauen fokussieren, zusammengefasst. In den vergangenen Jahren gab es erstmals sogenannte Einhörner in dieser jungen Branche – der Firmenwert kletterte auf über eine Milliarde Dollar.
Im August 2021 wurde Maven Clinic, eine virtuelle Klinik, die Dienstleistungen in Bereichen wie Fruchtbarkeit, Adoption, Leihmutterschaft oder Kindermedizin anbietet, zum weltweit ersten Femtech-Einhorn. Kindbody, ein Unternehmen, das Fruchtbarkeitskliniken betreibt und familienfördernde Leistungen für Arbeitgeber anbietet, erreichte im vergangenen Februar diesen Status.
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In der Schweiz gibt es über 30 Femtech-Start-ups.
Frauen warten im Durchschnitt vier Jahre länger auf eine Diagnose für die gleiche Krankheit als Männer.
In der Schweiz gibt es über 30 Jungunternehmen, die sich der Frauengesundheit widmen. Eines davon ist Pregnolia. Das ETH-Spin-off hat ein Messgerät für die Erkennung von Frühgeburten entwickelt, das bereits in mehreren Praxen und Spitälern in der Schweiz und Deutschland eingesetzt wird. Drei Schweizer Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Untersuchung. Mitgründerin und CEO Sabrina Badir erinnert sich an die Gründungsphase: «Unser Gerät wurde als Nischenprodukt angesehen. Was erstaunlich ist bei zehn Millionen Geburten insgesamt und einer Million Frühgeburten pro Jahr in den USA und Europa.» Bis heute habe man den auslösenden Prozess für die Geburt nicht vollständig verstanden und somit auch nicht, wie es zu Frühgeburten komme.
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Für das Gesundheitssystem bedeuten Frühgeburten hohe Kosten – im Durchschnitt sind es 50 000 Franken. Kommt das Baby schon in der 30. Schwangerschaftswoche auf die Welt, steigen die Kosten im ersten Jahr auf eine Million. Jedes Jahr fallen in den USA und Europa Kosten in Höhe von 50 Milliarden Dollar für Frühgeburten und Folgebehandlungen an. Von Diagnoselösungen wie derjenigen von Pregnolia profitieren also zahlreiche Stakeholder – neben den Frauen, Babys und Ärzten auch die Krankenkassen.
Die Dynamik am Femtech-Markt hat laut Badir im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. «Sehr lange ist gar nichts passiert, aber plötzlich haben wir bei einer Wettbewerbsanalyse festgestellt, dass es viele neue Player im gesamten Femtech-Bereich gab», erzählt die 37-Jährige. Das liege zu einem Teil daran, dass es einige erfolgreiche Exits gab. «Das hat auch andere Gründer überzeugt und bei den Investoren Interesse geweckt.» Auch Badir möchte ihr Unternehmen in den nächsten zwei bis drei Jahren verkaufen – der nächste Schritt ist aber die Marktzulassung in den USA. Dort hätten die Investoren erkannt, dass man mit Frauengesundheit tatsächlich Geld verdienen kann. Zu den grössten US-Venture-Fonds, die auf das Thema Women’s Health setzen, zählen Rhia, Avestria und Astarte Ventures.
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In der Schweiz gibt es bisher keine VCs, die nur auf Frauengesundheit setzen, doch auch hierzulande versuchen Akzeleratoren Start-ups auf den Weg zu bringen, wie das neunmonatige Programm Tech4Eva. Die EPFL in Lausanne bietet vielversprechenden Gründungen in Zusammenarbeit mit der Groupe Mutuel und Roche Coachings an, um ihre Businessmodelle zu schärfen, Zugang zu Netzwerken und Kontakt zu Investoren. Einer der diesjährigen Programmteilnehmer ist das Zürcher Start-up B-rayZ, das eine revolutionäre KI-Plattform zur Früherkennung von Brustkrebs entwickelt hat. Das System wird bereits an mehreren Kliniken in Europa eingesetzt.
Ein weiterer wichtiger Treiber sind Kongresse und Konferenzen, wie der FemTechnology Summit. Als Medizinstudentin an der ETH Zürich hörte Oriana Kraft in der Gynäkologie-Vorlesung zum ersten Mal von Krankheiten wie Endometriose und dem PCO-Syndrom. Obwohl diese zehn Prozent der Bevölkerung betreffen, hatte sie zuvor noch nie davon gehört.
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Im Studium wurde kaum Zeit auf diese Erkrankungen verwendet, obwohl davon ebenso viele Menschen betroffen sind wie etwa von Diabetes. «Vier Wochen für Diabetes im Vergleich zu einer Vorlesung für Endometriose, das hat mir nicht gefallen», erinnert sich Kraft. Für Endometriose, eine chronische Störung, bei der Gebärmutterschleimhaut ausserhalb der Gebärmutter wuchert, gibt es bis heute keine nichtinvasive Diagnose.
In einem anderen Kurs bekamen die Studenten den Auftrag, die Zukunft der Medizin neu zu denken. Kraft schaute sich viele Start-ups aus der Medizintechnik und der Informatik an und stiess so auf das Thema Femtech. Anstelle einer Forschungsarbeit organisierte sie daher für ihre Bachelor-Arbeit eine Konferenz. 2021 fand der erste FemTechnology Summit statt, an dem führende Persönlichkeiten aus der Femtech-Branche zusammenkamen, um wichtige Themen zu diskutieren.
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der Entscheidungen bei Gesundheitsausgaben werden in der Familie von Frauen getroffen.
der weltweiten Forschungsgelder fliessen in das Thema Frauengesundheit.
In erster Linie wollte Kraft zeigen, dass es viel zu wenig Austausch zum Thema Frauengesundheit und noch weniger interdisziplinäre Gespräche zwischen Medizinern, Forschern und Start-ups gibt. Die Innovation fand in isolierten Bereichen statt. Bei den Start-ups, Forschenden und Studierenden, die sich für dieses Segment interessierten, rannte sie offene Türen ein. Endlich schenkte jemand dem Thema Aufmerksamkeit. 700 Teilnehmer konnte die Medizinstudentin für die erste Konferenz begeistern. Im darauffolgenden Jahr fand der zweite Summit mit 1500 Teilnehmern aus über 60 Ländern statt.
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Kraft, die inzwischen an verschiedenen Universitäten an Fakultäten unterschiedlichster Fachrichtungen über das Thema Femtech referiert, ist immer wieder überrascht, wie wenig darüber bekannt ist. «Von den meisten Statistiken oder Start-ups hat noch niemand gehört», beklagt die 24-Jährige. In diesem Jahr findet ihr Kongress zum dritten Mal statt.
«Bei Frauengesundheit denkt man oft an Themen wie Reproduktionsmedizin – auch Bikini-Medizin genannt», sagt Stephanie Sassman vom XProject. Da aber zwischen den Geschlechtern in allen Organen substanzielle Unterschiede bestehen können, müsse sich diese Denkweise ändern. «Um diese Ungleichheit und die Voreingenommenheit abzuschütteln, müssen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ein ganz selbstverständlicher Teil des gesamten Forschungs- und Entwicklungszyklus werden», fordert Sassman. Bisher gibt es wenige Start-ups, die sich ausserhalb der typischen Themen wie Fruchtbarkeit, Menstruation, Schwangerschaft oder Menopause positionieren.
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Eines davon ist das MIT-Spin-off Bloomer Tech, das einen «Smart BH» zur Überwachung des Herzes bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermarktet. Was aussieht wie ein ganz normaler BH, enthält Sensoren, die Vitaldaten wie Pulsfrequenz oder Herzrhythmus an eine App senden, die bei Bedarf einen Arzt alarmiert.
«Gelungene Exits motivieren neue Femtech-Gründer und wecken das Interesse der Investoren.» – Sabrina Badir, CEO und Gründerin Pregnolia
Kay Herschelmann / Falling Falls«Wenn man Endometriose hat, dann ist man aufgeschmissen.» – Oriana Kraft, Initiatorin Femtechnology Summit
ZVG«Von der Forschungsarbeit am neuen Lehrstuhl soll irgendwann die Wirtschaft profitieren.» – Beatrice Beck Schimmer, Direktorin Universitäre Medizin UZH
Frauengesundheit ist immer noch ein Feld voller Tabus – in der Gesellschaft, der Arbeitswelt, der Politik, unter Investoren und sogar bei Medizinern. «Es ist ein grosser Durchbruch, dass Frauengesundheit heute selbstverständlicher thematisiert wird», findet Karin Tremp von BCG. So werde dieser wichtige Bereich der Medizin enttabuisiert.
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«Es ist ein Teil der Gesundheit, mit dem man sich auseinandersetzen muss.» Auch Pregnolia-CEO Badir stellt fest, dass gesundheitliche Probleme im Zusammenhang mit Menstruation und Menopause oder Beckenbodenschwäche noch Tabus sind, obwohl es so viele Frauen betrifft. «Start-ups brechen diese Tabus, indem sie Lösungen für diese Beschwerden finden. Aber es braucht eine noch viel grössere Welle, bis das in der Gesellschaft ankommt», befürchtet Badir.
Ein wichtiges Zeichen hat nun die Universität Zürich (UZH) gesetzt. Mit einem neuen Lehrstuhl soll Gendermedizin gefördert werden. Initiatorin ist Beatrice Beck Schimmer, Professorin für Anästhesiologie der UZH und Direktorin für Universitäre Medizin Zürich. Beraten und unterstützt wird die UZH von Professorin Vera Regitz-Zagrosek, die als eine der Begründerinnen der Gendermedizin in Deutschland bereits 2007 das «Berlin Institute for Gender in Medicine» an der Charité in Berlin gegründet hat.
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Obwohl bekannt ist, dass Frauen und Männer auf unterschiedliche Weise erkranken und anders auf Medikamente reagieren, ist ein Grossteil der Forschung auf den Mann ausgerichtet. Frauen machen in Studien 19 Prozent der Teilnehmenden aus. Auch Tierversuche werden hauptsächlich an männlichen Tieren durchgeführt. In den USA hatte die Arzneimittelbehörde FDA bis 1993 empfohlen, Frauen von frühklinischen Studien auszuschliessen. «Genau in diesen Studien wird untersucht, welche Dosierungen richtig sind», erklärt Sassman von Roche. Da Frauen für viele Jahrzehnte nicht in diese Analysen einbezogen waren, gäbe es sehr viel aufzuholen.
Von der Forschungsarbeit am neuen Lehrstuhl an der UZH soll irgendwann die Wirtschaft profitieren. «Das ist ganz klar eines unserer Ziele», sagt Beck Schimmer. Das Interesse aus der Pharma- und der Medizintechnikindustrie an personalisierter Medizin sei gross.
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Dem Unterschied zwischen Mann und Frau werde aber weder in der Forschung noch in der klinischen Praxis ausreichend Rechnung getragen. Zudem soll Gendermedizin Teil der Lehre werden. «Wir bilden Ärztinnen und Ärzte aus. Denen wollen wir das nötige Wissen in geschlechtsspezifischer Medizin mitgeben, damit sie dieses später umsetzen und implementieren», betont Beck Schimmer. Das Interesse der Studierenden sei sehr gross.
Im ganzen Femtech-Aufbruch halten sich etablierte Firmen mit Engagements vornehm zurück. «Wir konnten keine Unternehmen identifizieren, die sich das Thema Gendermedizin auf die Fahne schreiben. Zwar investieren einige Pharmafirmen und Versicherungen im Hintergrund und fördern die Plattformen und Events, aber sie nutzen die neuen Technologien noch nicht selbst», hat Gesundheitsexpertin Tremp beobachtet. Gerade in den Bereichen der kardiovaskulären Gesundheit oder der Krebsvorsorge böten sich digitale Lösungen für die Frauengesundheit an.
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Die Schweiz hat die besten Voraussetzungen, um vom Aufschwung der Femtech-Branche zu profitieren: grosse Pharmakonzerne, innovative Medizintechnik-Firmen, ausgezeichnete Hochschulen sowie eine dynamische Start-up-Szene.
In der Schweizer Politik ist das Thema nun auch angekommen. Mitte März stimmte das Parlament für eine Motion, welche die Erforschung und Behandlung von Frauenkrankheiten erleichtern soll. Vor allem von einer Sensibilisierung für Endometriose könnten viele Frauen profitieren. Im Durchschnitt dauert es immer noch mehr als sieben Jahre, bis die Krankheit diagnostiziert wird. «Wenn man es hat, dann ist man aufgeschmissen», fasst Oriana Kraft trocken zusammen.
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