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Filmfreak Giona Nazzaro

Das ist der kreative Kopf hinter dem Locarno Film Festival

Das Film Festival dauert zehn Tage. Was macht der Artistic Director Giona Nazzaro abseits des Anlasses? Blick in die Welt eines Festivalchefs.

Erik Nolmans

Giona Nazzaro in Cannes, wo er Filmproduzenten, Regisseure und Stars trifft für sein Festival in Locarno.

Giona Nazzaro in Cannes, wo er Filmproduzenten, Regisseure und Stars trifft für sein Festival in Locarno.

Olivier Anrigo für BILANZ

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Er ist wieder einmal knapp dran, schnellen Schrittes, das Mobiltelefon am Ohr, gehts über die Rue d’Antibes, die noble Einkaufsmeile von Cannes, wo gleich ums Eck auch das Ziel von Giona Nazzaro ist. Auf der Agenda an diesem sonnigen Tag Mitte Mai steht ein Treffen mit der französischen Filmproduktionsgesellschaft Charades, deren Angebot er sich ansehen will. Etwas später wird auch seine Mitarbeiterin Mathilde Henrot dazustossen, eine erfahrene Kulturmanagerin und Mitglied des Auswahlkomitees des Locarno Film Festivals.

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Es ist nur eines von vielen Meetings an diesem Tag, gleich darauf gehts zu einer anderen Produktions- und Verkaufsfirma, Elle Driver, nicht nur bekannt für ihre Filme, sondern auch für ihre tolle Lage direkt gegenüber der Croisette, dem Strandboulevard von Cannes. Hier hat er auch kurz Zeit, für den Fotografen von BILANZ zu posieren: im Hintergrund das Meer, unter uns der rote Teppich und das Palais des Festivals et des Congrès, geschmückt von einem riesigen Plakat, das die junge Catherine Deneuve zeigt – Giona Nazzaro ist in seinem Element.

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Kontakte pflegen

Der 58-jährige Schweizer italienischer Herkunft ist seit 2021 künstlerischer Direktor des Locarno Film Festivals, das genau gleich alt ist wie jenes in Cannes – beide finden seit 1946 statt. Nazzaro schüttelt mal hier, mal dort ein paar Hände oder hält einen kurzen Schwatz – man kennt sich in der Welt der Filmfestivals: «Wir sind eine kleine, nomadisierende Gemeinschaft», sagt er, nach Cannes gehe es weiter an die Festivals von Venedig und Toronto und so fort. Das Locarno Film Festival findet dieses Jahr vom 2. bis zum 12. August statt, und die Wochen davor sind jeweils besonders hektisch. Filme auswählen, das finale Programm zusammenstellen, Kontakte pflegen, Stars und Regisseure in die Schweiz einladen. «Ich bin jetzt seit zweieinhalb Jahren immer dran, praktisch ohne Ferien», so Nazzaro über seine Zeit als Festivaldirektor.

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Giona Nazzaro und seine Mitarbeiterin Mathilde Henrot (M.) im Gespräch mit ­einer Managerin der Filmproduktions- und Verteilfirma Elle Driver in Cannes.

Giona Nazzaro und seine Mitarbeiterin Mathilde Henrot (M.) im Gespräch mit einer Managerin der Filmproduktions- und Verteilfirma Elle Driver in Cannes.

Olivier Anrigo für BILANZ
Giona Nazzaro und seine Mitarbeiterin Mathilde Henrot (M.) im Gespräch mit ­einer Managerin der Filmproduktions- und Verteilfirma Elle Driver in Cannes.

Giona Nazzaro und seine Mitarbeiterin Mathilde Henrot (M.) im Gespräch mit einer Managerin der Filmproduktions- und Verteilfirma Elle Driver in Cannes.

Olivier Anrigo für BILANZ

Das Locarno Film Festival findet dieses Jahr bereits zum 76. Mal statt und gehört zu den Top Ten in Europa. Nazzaro ist 2021 mit der nicht einfachen Aufgabe angetreten, das Locarno Film Festival in die Zukunft zu führen, ohne den speziellen Charme zu gefährden. Wer an Locarno denkt, der denkt an Filmpremieren auf der Piazza Grande, an laue Abende mit Blick auf die Grossleinwand, an einen Tessiner Sommer der Kultur. Das Locarno Film Festival hat eine lange Tradition im Autorenfilm, verbunden mit dem Anspruch, höchste filmische Qualität zu bieten, will aber auch das breite Publikum ansprechen. Der Film-Aficionado und der Tourist, der in der Schweizer Sonnenstube einfach etwas Kultur geniessen will – beide sollen abgeholt werden. Ein schwieriger Spagat.

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Letztes Jahr ist er nach Ansicht einzelner Kritiker nicht wirklich gelungen: «Das Filmfestival Locarno ist vielleicht das schönste der Welt. Aber will es in Schönheit sterben?», fragte die «Neue Zürcher Zeitung», und der «Tages-Anzeiger» doppelte nach: «Verliert sich der Anlass zwischen Campari-Lounge und experimentellem Kino für die Eingeweihten?» Dabei verkörpert gerade Nazzaro gut beide Seiten des Spektrums. Auch wenn er wie seine Vorgänger für den Autorenfilm einsteht, hat er, der unter anderem Bücher über die Actionfilmszene in Hongkong verfasst hat, durchaus Gespür für Massenwirksamkeit: «Ich denke nicht automatisch, dass das, was beim breiten Publikum ankommt, schlecht sein muss.» Er suche das Spezielle, vielleicht auch experimentelle Filme, die doch beim Publikum eine Membran anschlagen. «Das Publikum soll das Vergnügen am Film wieder finden», betont er, «wir wollen ambitiös sein, aber Filme schauen darf keine Pflicht sein.»

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Breites Spektrum

Hat ihn die Kritik letztes Jahr geärgert? «Nein. Ich war früher selber Filmkritiker, jeder darf seine Meinung haben.» Diese Kritiken seien aber Ausnahmen gewesen, die grosse Mehrheit der Presseberichte sei sehr positiv gewesen. Tatsache sei, dass das letztjährige Festival sehr erfolgreich gewesen sei und einen grossen Impact auf die Filmwelt gehabt habe: «Unsere Filme wurden geradezu zum Rückgrat der Filmfestivals vom Herbst und Winter.» Das costa-ricanische Coming-of-Age-Drama «I have Electric Dreams» etwa, das am 8. August 2022 in Locarno Premiere hatte, sei danach an über fünfzig anderen Festivals weltweit gezeigt worden.

Die Piazza Grande in Locarno.

Die Piazza Grande in Locarno.

Keystone
Die Piazza Grande in Locarno.

Die Piazza Grande in Locarno.

Keystone

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Die in den Kritiken erwähnte Problematik sei ihm aber durchaus bewusst. Qualität im Filmschaffen sei aber ein sehr dehnbarer Begriff. «Qualität kann man auch an unerwarteten Orten finden», betont er. Ja, sehr wohl auch in kommerziellen Actionwerken oder Hollywood-Blockbustern. Es sei mitunter schwierig, genau zu definieren, was filmische Qualität ausmache, «doch wenn ich sie sehe, erkenne ich sie». Das Bild vom Spagat, der zu schaffen sei, passe seiner Meinung nach nicht: «Zwischen einem anspruchsvollen Film von Roberto Rossellini, zum Beispiel, und einem Horrorstreifen von Wes Craven gibt es zwar kulturelle, sprachliche, formale und sogar politische Unterschiede – aber nicht unbedingt qualitative.»

Das Auge für das Filmische hat er lange geschult – schon als Knabe war er von der Welt der Filme fasziniert. Geboren ist er 1965 in Zürich – als Secondo, seine Eltern stammen aus Italien, aus Benevento in Kampanien. Sein Vater arbeitete als Maschineningenieur bei der BBC (heute ABB) in Oerlikon, aufgewachsen ist er in Bülach, Oerlikon und Dübendorf. Während die anderen Jungs draussen Fussball spielten, sass der 13- oder 14-Jährige lieber im dunklen Kinosaal: «Ich bin einfach die ganze Zeit im Kino gehockt», erzählt er. Sogar in den Ferien in Italien sei das so gewesen: «Matinee, dann Nachmittagsvorstellungen und dann nochmals am Abend – ich habe alles angeschaut, was ich konnte.» Auch privat schaue er noch sehr viele Filme, nicht nur im Kino, er sei auch ein eifriger Sammler von Blu-rays: «Es ist eine Art Besessenheit.»

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Einer der Filme, die ihn als junger Zuschauer beeindruckt hätten, war «Star Wars». Er erinnert sich, wie er alleine den Zug von Dübendorf nach Zürich nahm, um sich den Film anzusehen. Regelmässiger Gast war er auch im Lokalkino Orion in Dübendorf (das Kino gibt es übrigens heute noch: 2010 gründete eine Gruppe engagierter Dübendorfer einen Verein, um das damals 60-jährige Kino zu erhalten und wieder als kulturellen Treffpunkt zugänglich zu machen).

Das Kino Orion in ­Dübendorf, wo der junge Nazzaro Dauergast war.

Das Kino Orion in Dübendorf, wo der junge Nazzaro Dauergast war.

Ortsgeschichte VVD / Verein Kino Orion
Das Kino Orion in ­Dübendorf, wo der junge Nazzaro Dauergast war.

Das Kino Orion in Dübendorf, wo der junge Nazzaro Dauergast war.

Ortsgeschichte VVD / Verein Kino Orion

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Im Orion sah er sich etwa «The Warriors» von Walter Hill an, einen Film über verfeindete Jugendgangs in New York, der ihn enorm beeindruckt habe. Auch «Superman» sah er im Orion, die grossen Werbebilder des Films, die in der damals noch existierenden Zeitung «Züri Leu» erschienen, schnitt er aus und klebte sie in seinem Zimmer an die Wand.

Wurzeln in Zürich behalten

Gegenpol zu diesen Blockbustern waren die Filme des italienischen Neorealismus, die er sich zu Hause im Fernsehen ansah, Werke von Regisseuren wie Rossellini oder Vittorio De Sica, die als Reaktion auf den zurückliegenden Faschismus in Italien entstanden waren und die Leiden, die Armut und die Unterdrückung des einfachen Volkes zeigten. «Diese Filme erlaubten mir auch, Italien zu entdecken.»

Als der Vater Anfang der achtziger Jahre aus beruflichen Gründen wieder nach Italien zurückging, ging Giona mit. Er studierte deutsche und englische Literatur an der Universität von Neapel und schloss 1991 mit dem Diplom ab. Er habe seine Wurzeln in Zürich behalten, sei jeden Sommer zurückgekommen, auch um hier zu arbeiten. Er spricht akzentlos Zürcher Mundart, nebst Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch und Spanisch – ein echtes Sprachtalent. Er wohnt heute zur Hälfte in Bellinzona und zur Hälfte in Rom mit seiner zweiten Frau. Mit seinem 25-jährigen Sohn Ethan aus erster Ehe ist er eng verbunden. Auf die Frage nach weiteren Hobbys nennt er die Musik, er höre viel Jazz, Soul und Funk. Sport treibe er nicht.

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Giona Nazzaro und sein Sohn Ethan auf dem roten Teppich am Locarno Film ­Festival 2021.

Giona Nazzaro und sein Sohn Ethan auf dem roten Teppich am Locarno Film Festival 2021.

Getty Images
Giona Nazzaro und sein Sohn Ethan auf dem roten Teppich am Locarno Film ­Festival 2021.

Giona Nazzaro und sein Sohn Ethan auf dem roten Teppich am Locarno Film Festival 2021.

Getty Images

Auch beruflich prägt vor allem der Film sein Leben. Sein erster wichtiger Job im Curriculum Vitae? Richtig geraten: bei einem Film Festival, genauer gesagt jenem von Turin, wo er von 1993 bis 2003 als Programmer mitverantwortlich für die Zusammensetzung des Angebots war. Es folgte ein Fächer von Tätigkeiten, denen eines gemeinsam ist: der Bezug zum Film. Er arbeitete als Journalist und Filmkritiker für verschiedene italienische und internationale Medien, war Filmprofessor, lehrte Multimedia Arts an der Mailänder Nuova Accademia di Belle Arti (NABA), trat als Autor und Kurator von Monografien über Regisseure wie Gus Van Sant, Spike Lee oder Abel Ferrara in Erscheinung und war immer wieder für Filmfestivals tätig, von 2010 bis 2020 etwa als Programmer in Nyon. Nach 2016 war er Leiter der Kritikerwoche des Filmfestivals Venedig und gehörte zur Auswahlkommission des Internationalen Filmfestivals Rotterdam (IFFR).

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Dort, in Rotterdam, erreichte ihn 2020 auch der Anruf von Marco Solari, dem Präsidenten des Locarno Film Festivals. Der war in den hektischen Zeiten nach dem vorzeitigen Abgang seiner künstlerischen Leiterin Lili Hinstin auf der Suche nach einem Festivaldirektor. Und erinnerte sich daran, dass es einen Topmann gab, den er aus eigenen Reihen ja schon gut kannte: Nazzaro, der von 2009 bis 2019 mit dem Locarno Film Festival als Moderator zusammengearbeitet hatte. Er habe nicht lange überlegen müssen, als ihm Solari das Angebot unterbreitete, so Nazzaro. Im November 2020 wurde seine Berufung verkündet, am 1. Januar 2021 trat er seinen Job in Locarno an.

Ihm zur Seite steht ein eingespieltes Team. Managing Director und damit das Zahlengewissen des Festivals ist Raphaël Brunschwig, der schon seit 2013 dabei ist, seit 2017 in seiner heutigen Position, in der er für das operationelle und finanzielle Management des Festivals verantwortlich ist. Deputy COO ist seit vier Jahren die Amerikanerin Simona Gamba, eine Kommunikationsspezialistin mit langer Branchenerfahrung. Und dann ist da natürlich noch Marco Solari, seit 2000 Präsident des Festivals. Er lässt seinem Team jeweils volle Gestaltungsfreiheit, nur diesmal gibt es eine Ausnahme: Weil er 2024 abtritt, nach über zwanzig Jahren im Amt, darf er – quasi als Abschiedsgeschenk – den diesjährigen Abschlussfilm auswählen.

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Das Locarno Film Festival ist auch ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor. Fast 17 Millionen Franken betrage das diesjährige Budget, so Managing Director Brunschwig. Jeder Franken, der in das Festival investiert wird, bringt drei Franken zurück, das zeigen Studien, wodurch die regionale wirtschaftliche Bilanz klar positiv ist. Rund 40 Prozent der Einnahmen stammen von öffentlichen Geldern, etwas mehr als 30 Prozent von privaten Sponsoren, der Rest seien Einnahmen durch den Ticketverkauf und das Merchandising. Der Kanton Tessin ist mit 3,4 Millionen Franken der grösste öffentliche Geldgeber, sagt Brunschwig, das Geld von privater Seite kommt aus den Kassen von mittlerweile rund 180 Sponsoren und Partnern, wobei die vier Hauptsponsoren, die Grossbank UBS, der Telekom-Anbieter Swisscom, der Versicherer Mobiliar und der Uhrenhersteller Swatch, einen Grossteil aufbringen.

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Ganzjahres-Plattform

Auf der Ausgabenseite stehen die Personalkosten an erster Stelle, die 2022 fast sechs Millionen Franken ausmachten oder rund 35 Prozent des Budgets. 35 Personen seien das ganze Jahr über beschäftigt, bis zu 900 seien es in den zwei Wochen des Festivals im August selber, eingerechnet alle Freiwilligen und Helfer, erzählt Brunschwig. Ein wichtiger Posten ist auch die Infrastruktur, der Aufbau der Piazza Grande, die Gewährung der Sicherheit und so weiter, die mit rund zwei Millionen zu Buche schlägt. Rund zehn Prozent des Budgets müssen für die Hospitality-Kosten eingerechnet werden: Die Preisträger, Regisseure und Stars müssen in die Schweiz geflogen werden und in schönen Hotels untergebracht werden. Der Rest wird unter anderem für Lizenzkosten für den Einkauf der Filme und weitere administrative Kosten verwendet.

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17 Millionen Franken

beträgt dasBudget des Locarno FilmFestivals für 2023.

8000 Personen

finden auf der Piazza Grande für die Filmvorführungen Platz.

900 Mitarbeiter, Helfer und Freiwillige

beschäftigt das Festival in der Veranstaltungszeit jeweils.

Längst ist das Label weit über die zwei Wochen des Festivals im August hinaus gestärkt und funktioniert heute etwa als digitale Plattform das ganze Jahr. Dutzende Projekte sind damit verbunden, das geht vom Forum LocarnoPro, wo sich die Branchenvertreter, die Produzenten und Vertriebe treffen, über den eigenen Lehrstuhl für Zukunftsforschung im Bereich Film und bildende Künste an der Universität der italienischen Schweiz (USI) bis hin zu den «Locarno Shorts Weeks», einem Kurzfilmwettbewerb, der jeweils im Februar stattfindet, mit dem vor allem junge, aufstrebende Kräfte angesprochen werden sollen.

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Locarno Film Festival – das ist aber auch ein grosses gesellschaftliches Event. Prominente aus Wirtschaft und Politik geben sich ein Stelldichein, für die Schweizer Regierung etwa waren letztes Jahr neben Kulturminister Alain Berset auch Bundesrat Ignazio Cassis und die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor Ort. Rund 1000 einheimische und internationale Journalisten lassen sich laut Brunschwig jedes Jahr akkreditieren, um über den Event zu berichten.

Auftakt war dieses Jahr die Pressekonferenz vom 5. Juli in Bern, an der Nazzaro das aktuelle Programm bekannt gab. Es ist im Grunde ein typisches Nazzaro-Programm, das Anspruch und Entertainment geschickt vereint und ebenso mit Topstars aufwarten kann wie mit Protagonisten, die bestenfalls Insider der Szene kennen.

Zur Kategorie der Topstars gehören der schwedische Schauspieler Stellan Skarsgård und die australisch-amerikanische Schauspielerin Cate Blanchett, die am Abschlusstag, dem 12. August, dabei sein wird, allerdings nicht als Schauspielerin, sondern als Produzentin des Films «Shayda» der iranisch-australischen Regisseurin Noora Niasari. Höhepunkt am Auftakttag, dem 2. August, ist die Verleihung des Excellence Award an den britischen Schauspieler Riz Ahmed. Der Oscar-Preisträger wurde auch bekannt durch sein Engagement gegen Intoleranz und Rassismus. 214 Filme stehen insgesamt auf dem Programm, 17 Filme treten an um den Hauptpreis, den «Pardo d’oro» («Goldener Leopard»), 16 seien Weltpremieren, sagt Nazzaro stolz. Die Schweiz ist unter anderem mit dem Waadtländer Regisseur Basil da Cunha vertreten, der für Nazzaro «zu den originellsten Stimmen» der Branche gehört.

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Zürich im Nacken

Mit Stellan Skarsgård, Cate Blanchett und Riz Ahmed, aber auch mit dem französischen Schauspieler Lambert Wilson, der dieses Jahr die Jury präsidieren wird, oder Sandra Hüller, die mit dem Cannes-Gewinnerfilm «Anatomie d’une chute» nach Locarno kommt, ist es Nazzaro gelungen, grosse Namen anzulocken. «Als Filmfan bin ich ein Fan von Stars, denn Stars sind auch Künstler», so Nazzaro. Stars seien aber auch darum wichtig, «weil sie die Leute in die Kinosäle bringen».

In Sachen Stars war das Festival zuletzt immer wieder kritisiert worden. Die «Neue Zürcher Zeitung» höhnte letztes Jahr, Filmstars würden um Locarno einen Bogen machen «wie eine Katze um den alten Fisch». Leute wie Matt Dillon (der amerikanische Schauspieler bekam 2022 den Lifetime Achievement Award) sind heute nicht mehr wirklich A-Liga.

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Wie man es geschickt machen kann, hat das noch junge Zurich Film Festival (ZFF) eindrücklich vorgeführt, 2005 von Ex-Model Nadja Schildknecht mit zwei Partnern gegründet, das seit Jahren die angesagtesten Topstars auf seinen – grünen – Teppich lockt. Liam Neeson und Eddie Redmayne waren im vergangenen Jahr dort, 2021 etwa Sharon Stone, 2020 Johnny Depp.

Zürich hat allerdings gegenüber Locarno einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: die gute Erreichbarkeit. Nahe am internationalen Flughafen gelegen, kann ein Hollywoodstar auch mal nur kurz für einen Besuch vorbeischauen. Die Anreise nach Locarno, von Zürich oder auch von Milano aus, ist vergleichsweise mühsam. Ein weiterer Grund: In Zürich werden oftmals grössere Produktionen als Vorpremieren gezeigt, in denen Stars auftreten, die dann ihre Werke promoten können. In den Arthouse- oder Independent-Filmen in Locarno kommen naturgemäss weniger Stars vor.

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Auch wenn die beiden Schweizer Filmfestivals Konkurrenten sind, so spürt man doch viel gegenseitigen Respekt. «Konkurrenz belebt das Geschäft», sagt Christian Jungen, Leiter des ZFF, der Nazzaro schon seit Langem kennt und der mit jenem auch einiges gemeinsam hat, etwa die Vergangenheit als Filmkritiker. Jungen beschreibt Nazzaro als «engagierten Cinephilen», als «Intellektuellen mit sehr breitem Hintergrund». Die inhaltliche Ausrichtung der beiden Festivals sei aber schon recht unterschiedlich, wenn überhaupt, spüre er die Konkurrenz am ehesten im Kampf um die Sponsoren. Für ihn sei klar: «Beide Festivals haben gut nebeneinander Platz.»

Nazzaro, 30 Jahre in der Branche, ehemals Filmkritiker, Programmer und Kurator, hat ein enormes ­Wissen über Film.

Nazzaro, 30 Jahre in der Branche, ehemals Filmkritiker, Programmer und Kurator, hat ein enormes Wissen über Film.

Olivier Anrigo für BILANZ
Nazzaro, 30 Jahre in der Branche, ehemals Filmkritiker, Programmer und Kurator, hat ein enormes ­Wissen über Film.

Nazzaro, 30 Jahre in der Branche, ehemals Filmkritiker, Programmer und Kurator, hat ein enormes Wissen über Film.

Olivier Anrigo für BILANZ

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Am fortschrittlichen Ansatz von Locarno will Nazzaro festhalten. Dies auch im weiteren Sinne: So hat das Festival letztes Jahr die geschlechtsspezifischen Auszeichnungen aufgegeben, es gibt keine Kategorie «Bester Schauspieler» oder «Beste Schauspielerin» mehr, sondern nur noch einen Preis für die «Beste Schauspielleistung». Ob das auf die Länge beim Publikum ankommt, bleibt abzuwarten. Eine Geschlechterschematisierung sei einfach nicht mehr zeitgemäss, hält Nazzaro dagegen. Andere sind den gleichen Weg bereits gegangen: Auch die Berlinale zeichnet die schauspielerische Leistung nicht mehr nach Geschlecht aus. Dass sich Nazzaro aber nicht einfach der Cancel-Culture-Welle unterwirft, zeigt das Beispiel des Films «Mein Nachbar Adolf», in der Hitler als Parodie auftritt. Eine Gruppe israelischer Filmemacher hatte die Absage der Locarno-Premiere letztes Jahr gefordert, weniger wegen der Hitler-Parodie, sondern weil der Film von der Rabinovich Foundation mitfinanziert wurde, die nur Filme fördert, die keine Aussage enthalten, «welche die Existenz des Staates Israel als jüdischer und demokratischer Staat leugnet». Doch der Vorstoss ging ins Leere: «Wir suchen unsere Filme nach künstlerischen Massstäben aus, der Film bleibt im Programm», liess Nazzaro unmissverständlich wissen.

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Ringen um Aufmerksamkeit

Wie sieht er das Festival in fünf oder zehn Jahren, welche Spuren will er hinterlassen? Sein Ziel sei, dass das Locarno Film Festival «so ambitiös bleibt, gleichzeitig aber noch enger das Gespräch mit dem Publikum sucht». Die Aufgabe ist nicht einfach, Locarno steht gleich von zwei Seiten her unter Druck, oben absorbieren die grossen Festivals in Cannes und Venedig immer mehr von der internationalen Aufmerksamkeit, was wiederum deren Bedeutung für die Branche stärkt, unten ziehen Festivals wie jenes in Sarajevo – stark im Independent-Film – mit frischen Ideen neue Trendsetter an. Doch Nazzaro, mit seinem Wissen, seinem Gespür für das Besondere im Film und nicht zuletzt auch seiner Begeisterungsfähigkeit ist zuzutrauen, Locarno in diesem Gerangel seinen festen Platz zu sichern. Und eines können all die anderen Festivals ohnehin nicht toppen: die einzigartige Atmosphäre, wenn das Wetter stimmt, der Sternenhimmel sich auftut, auf der altehrwürdigen Pizza Grande die Lichter gedimmt werden, der Film anläuft und 8000 Leute im noch immer grössten Open-Air-Kino Europas ihren Blick auf die Leinwand richten.

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«Sollte uns nicht beirren»

Marco Solari über seine lange Zeit als Präsident und warum er 2024 abtritt.

Marco Solari, Präsident des Locarno Film Festivals, lässt seinem künstlerischen Leiter volle Freiheit.

Marco Solari, Präsident des Locarno Film Festivals, lässt seinem künstlerischen Leiter volle Freiheit.

Olivier Anrigo für BILANZ
Marco Solari, Präsident des Locarno Film Festivals, lässt seinem künstlerischen Leiter volle Freiheit.

Marco Solari, Präsident des Locarno Film Festivals, lässt seinem künstlerischen Leiter volle Freiheit.

Olivier Anrigo für BILANZ

Sie treten 2024 ab. Warum?

Nächstes Jahr im Frühling werde ich 8o Jahre alt. Ich bin jetzt seit 23 Jahren dabei. Man muss die Eleganz haben zu sagen: Jetzt ist genug. Und Platz für neue Kräfte und neue Ideen schaffen.

Wie beurteilen Sie Ihre Zeit als Presidente?

Ich denke, ich übergebe das Festival in einem sehr guten Zustand, sowohl operationell als auch finanziell. Als ich im Jahr 2000 antrat, war die Situation kritisch, wir mussten hohe Bankschulden abbauen. Auch die künstlerische Bedeutung des Festivals ist beachtlich – es gibt mittlerweile rund 6000 Filmfestivals auf der ganzen Welt, wir sind immer noch in den Top Ten.

Eines dieser neuen Filmfestivals ist jenes in Zürich, 2005 gestartet. Ärgern Sie sich über die Konkurrenz so direkt vor der Haustür?

Konkurrenz belebt, wenn es das Zurich Film Festival nicht gäbe, müsste man es erfinden. Wir sind ja unterschiedlich ausgerichtet. Wir setzen mehr auf das Entdecken, auf das Cinephile, sie mehr auf Glamour.

Was macht das Locarno Film Festival speziell?

Dass es immer wieder überraschen kann.

Wie ist Ihr Verhältnis zum künstlerischen Leiter, Giona Nazzaro?

Sehr gut. Er geniesst – wie seine Vorgänger und Vorgängerinnen auch – die volle künstlerische Freiheit. Es gab in den 23 Jahren nur einmal eine Situation, in der ich eingreifen musste.

Was war der Grund?

Das war im Jahr 2004, künstlerische Leiterin war Irene Bignardi. Es ging um den Film «Submission» von Theo van Gogh, einem Islam-kritischen Regisseur. Es gab Terrorgefahr. Sie wollte das Ganze durchziehen, doch ich hielt die Gefahr für zu gross; ich konnte nicht verantworten, Tausende Zuschauer in Gefahr zu bringen. Wir zeigten den Film nicht.

Auch heute gibt es immer wieder Kreise, die Filme verbieten wollen, weniger aus der Terror-Ecke, sondern vielmehr in Sachen Cancel Culture.

Ich halte diese Bewegung für sehr schädlich für das Kunstschaffen. Die künstlerische Freiheit muss gegeben sein, einzig die Qualität darf ausschlaggebend sein. Das Geheimnis eines Festivals ist es, eine Art Mosaik aus verschiedenen Werken zusammenzustellen. Wenn einzelne Leute einzelne Elemente in diesem Mosaik nicht goutieren, dann sollte uns das nicht beirren.

Sie waren einst Tessiner Verkehrsdirektor. Was bedeutet das Festival für die Region?

Es ist natürlich ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor, vor allem für den Tourismus, das Gastgewerbe, die Hotels, aber auch für viele Zulieferer. Es hat aber auch viel getan für das Selbstbewusstsein der italienischen Schweiz. Mit dem Festival einen derart hochkarätigen kulturellen Event zu bieten, hat sicher auch das Image des Kantons gestärkt.

Über die Autoren
Erik Nolmans

Erik Nolmans

Erik Nolmans

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