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Konjunktur

Alles knapp: Wie der Gütermangel die Wirtschaft stottern lässt

Von der Überfluss- zur Mangelwirtschaft – wie das weltweite Liefersystem aus den Fugen geraten konnte. Und was das für die Schweiz bedeutet.

Erik Nolmans

Alain Balthasar, Balthasar + Co AG, Lavendelweg 2, 6281 Hochdorf. Fotos 10.12.21, kostas maros

DER KERNPRODUZENT – NICHT GENUG PARAFFIN:«Neukunden können wir keine annehmen, wir sind froh, wenn wir wenigstens unsere Stammkunden einigermassen bedienen können»: Alain Balthasar von der Balthasar Group in Hochdorf LU, dem grössten Kerzenhersteller der Schweiz.

Kostas Maros für BILANZ

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Sie leuchten auf dem Weihnachtsbaum oder schmücken die Festtafel – Kerzen haben in der Adventszeit seit jeher Hochkonjunktur. Doch dieses Jahr herrscht bei den Herstellern keine feierliche Stimmung. Der Rohstoff Paraffin ist derart knapp, dass die Kosten für die Produktion durch die Decke schiessen. Wenn denn überhaupt geliefert werden kann: «Wir konnten nur 90 Prozent der Vorjahresmenge produzieren», sagt Alain Balthasar, CEO der Balthasar Group aus Hochdorf bei Luzern, dem grössten Kerzenhersteller der Schweiz.

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«Neukunden können wir keine annehmen, wir sind froh, wenn wir wenigstens unsere Stammkunden einigermassen bedienen können. So etwas habe ich noch nie erlebt.» Migros, Coop und grosse Möbelhäuser setzen auf die Kerzen aus dem Luzernischen.

Der Paraffin-Mangel ist einer der vielen kleinen Seiteneffekte der durch Corona veränderten Weltwirtschaft. Denn der Rohstoff für die Herstellung von Kerzen ist ein Nebenprodukt der Erdölverarbeitung, vor allem von Kerosin. Wegen Corona wurde weltweit weniger geflogen, weniger Kerosin wurde verarbeitet, und daher gibt es auch weniger Paraffin.

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Seit Anfang 2021 seien die Preise um rund 70 Prozent gestiegen, sagt Balthasar, Paraffin werde heute «fast wie im Auktionsverfahren» erworben. Die Margen sind weg, denn der Preisdruck kann nicht so einfach auf die Endabnehmer abgewälzt werden: «Es stehen jetzt harte Preisverhandlungen an.»

Neues Konsumverhalten

Auch wenn sie teurer werden – immerhin dürften die Produkte noch erhältlich sein. In anderen Bereichen der verarbeitenden Industrie ist das nicht so: «Wir haben Lieferfristen von bis zu 90 Wochen» sagt Urs Dätwyler, CEO von Computechnic in Goldach SG, die in den Bereichen Steuerungsbau, Antriebstechnik und Industrie-Elektronik tätig ist und viele Mikrochips verarbeitet.

Um diese wird weltweit gerungen – auch eine Folge von Corona. Denn das Konsumverhalten hat sich grundlegend geändert. Es wird zwar nicht weniger Geld ausgegeben, aber für andere Dinge. Mit dem Geld, das für Reisen, Restaurantbesuche oder Kulturanlässe gespart wurde, tut man sich anderweitig etwas Gutes und kauft mehr Unterhaltungselektronik oder peppt die Wohnung mit einem neuen Kühlschrank, Geschirrspüler oder einem E-Herd auf – all dies braucht Chips.

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Urs Daetwyler, Computer Technik AG

DER ANLAGEBAUER – RINGEN UM MIKROCHIPS: «Wir haben Lieferfristen von bis zu 90 Wochen»: Urs Dätwyler, CEO von Computechnic in Goldach SG, die in den Bereichen Steuerungsbau, Antriebstechnik und Industrie-Elektronik tätig ist und viele Mikrochips braucht. Doch weltweit herrscht ein Gerangel um die knappen Teile.

Kostas Maros für BILANZ
Urs Daetwyler, Computer Technik AG

DER ANLAGEBAUER – RINGEN UM MIKROCHIPS: «Wir haben Lieferfristen von bis zu 90 Wochen»: Urs Dätwyler, CEO von Computechnic in Goldach SG, die in den Bereichen Steuerungsbau, Antriebstechnik und Industrie-Elektronik tätig ist und viele Mikrochips braucht. Doch weltweit herrscht ein Gerangel um die knappen Teile.

Kostas Maros für BILANZ

Dramatisch zugenommen habe der Mangel seit März, so Dätwyler, davor hätten die Lieferfristen nur wenige Wochen betragen. Und so beäugen sich die jeweiligen Industriezweige eifersüchtig, vom E-Bike-Hersteller über die Automobilindustrie bis hin zu den Laptop- und Mobiltelefonproduzenten. Der Verbraucher in der Schweiz spürt den Effekt direkt: Spielzeuge mit Halbleitern wie die PlayStation 5 sind Mangelware und dürften daher vielerorts unter dem Christbaum fehlen. Und der lokale E-Bike-Verkäufer lässt womöglich mitteilen, das bevorzugte Fahrrad werde erst im Frühling geliefert.

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Viele Hersteller von Vorprodukten sitzen in China, das in vielerlei Hinsicht so etwas wie die Werkstatt der Welt ist. «Im Gerangel um die wichtigsten Vorprodukte muss Europa hintanstehen», sagt Computechnic-Chef Dätwyler.

Alles blockiert 

Das Problem fängt schon in China selber an. Nicht nur, dass sich die lokale Wirtschaft primär selbst bedient – auch die für den Auslandversand fertigen Produkte kommen oft gar nicht weg. Denn China fährt eine Null-Covid-Politik, was dazu führt, dass schon wenige Infektionen in der Belegschaft dazu führen, ganze Frachthäfen oder Flugplätze vorübergehend lahmzulegen. Die «Neue Zürcher Zeitung» zitierte jüngst den Chef von Mærsk, den Weltmarktführer in der Container-Schifffahrt, und gab an, dass derzeit rund 600 Container-Schiffe weltweit vor Frachthäfen lägen und darauf warteten, gelöscht zu werden. Container sind auch Mangelware, die Preise haben sich versiebenfacht.

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Doch an Land gehen die Probleme weiter, denn in vielen Ländern herrscht ein Mangel an Lastwagenchauffeuren. Auch in der Schweiz ist das Problem akut – laut Branchenvertretern sind derzeit rund 600 Lastwagenfahrer-Stellen unbesetzt. Viele kehrten dem Beruf den Rücken, weil sie in der Pandemie das Gefühl hatten, diese Arbeit sei wenig zukunftsträchtig, oder wanderten in sichere Bereiche ab, etwa als Buschauffeur im öffentlichen Verkehr.

Die Luftfracht hinkt ebenfalls hinterher und spürt den Mangel an Flugbewegungen seit Beginn der Pandemie, transportieren doch die meisten Passagierflugzeuge auch Güter in ihrem Bauch. Erst für 2024 rechnen Logistik-Experten mit einer Besserung der Lage im Flugverkehr.

In einer Umfrage von Swissmem, dem Verband der Schweizer Maschinenindustrie, gaben 72 Prozent der befragten Firmen an, von Beschaffungsproblemen «sehr stark» oder «ziemlich stark» betroffen zu sein . Viele Vorprodukte werden auch daher immer knapper, weil viele Betriebe aus lauter Angst vor Engpässen übertriebene Mengen bestellen und ihre Lager aufstocken – was den befürchteten Effekt oft noch verstärkt oder gar erst auslöst, wie man schon am Beispiel der leeren WC-Papier-Regale in der ersten Corona-Welle beobachten konnte.

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Man habe neue Chiplieferanten gesucht und «alles aufgekauft, was es aufzukaufen gab», liess etwa Thomas Oetterli, Chef des Aufzugsherstellers Schindler, jüngst die Presse wissen. Laut einer Studie der Credit Suisse gab es in der Schweizer Industrie noch nie seit Beginn der Datenerhebung 1995 eine derart breite Aufstockung von Lagerbeständen. Eine Entspannung sei nicht in Sicht.

Und so schiessen die Preise allerorts munter weiter in die Höhe und sorgen weltweit erstmals seit Jahren wieder für Inflationsängste. Extrem ist die Situation bei vielen für die Produktion benötigten Metallen wie Aluminium oder Kupfer, aber auch Papier, Karton oder Kunststoff werden immer knapper.

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Gleich mehrfach betroffen ist etwa der Kaffeekapselhersteller Säntis Packaging in Rüthi SG, der Mühe hat, das Kunststoffgranulat für seine Kapseln zu besorgen. Die Preise für das Granulat seien seit Februar um 80 Prozent gestiegen, «wir haben einfach keine Planbarkeit mehr», sagt CEO Bettina Fleisch. Doch damit nicht genug: «Auch der Karton für die Boxen, in die wir unsere Produkte verpacken, ist teuer geworden, ebenso die Plastiksäcke innen, in die wir die Kapseln packen, ja sogar die Etiketten für den Versand», so Fleisch.

Was in der Wirtschaft jahrzehntelang als selbstverständlich galt, nämlich Produktion auf Knopfdruck, ist plötzlich obsolet. Auch der Konsument schüttelt erstaunt den Kopf. Nicht sofort zu bekommen, was das Herz begehrt – das haben die meisten Wirtschaftsteilnehmer bisher nicht gekannt: Eine Wirtschaft kann stocken, weil die Nachfrage abflaut und auf die Konjunktur drückt, aber doch nicht, weil das Angebot knapp ist.

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Foto: Kostas Maros für BILANZ

Eine Wirtschaft, die sich nicht über eine steigende Nachfrage freuen kann, weil sie einfach nicht mehr produzieren kann – solche Dinge hat man bestenfalls aus den Wirtschaftswunder-Zeiten eines Konrad Adenauer der 1950er Jahre gehört.

«Die Situation ist in der Tat einmalig», sagt Klaus Abberger, Ökonom bei der Konjunkturforschungsstelle KOF ETH. Bisher habe es zwar immer wieder mal einen gewissen Mangel an einzelnen Vorprodukten gegeben, aber dies sei punktuell gewesen. «In der jetzigen Breite ist das schon sehr ungewöhnlich.»

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Die gute Auftragslage lege nahe, dass viele Betriebe rein aus Mangel an Vorprodukten an die Produktionsgrenze gelangten «und eigentlich mehr herstellen könnten». Und so schwappt das Problem von einem in den anderen Bereich über, denn wenn beispielsweise Produzent A ein Teil nicht liefern kann, kann Produzent B seine Maschine nicht fertig bauen, die dann fehlt für die Produktion von weiteren Bestandteilen, die dann andernorts fehlen, und so weiter und so fort.

Produktionsrückgang 

Alexis Körber von der Konjunkturforschungsstelle BAK Economics in Basel schätzt, dass der Produktionsrückgang im verarbeitenden Gewerbe im dritten Quartal von rund einem Prozent vor allem auf Probleme in den Lieferketten zurückzuführen ist. Dabei sei der Ausgangspunkt des Problems, nämlich dass sich die Weltwirtschaft vom Covid-Schock schneller erholte, als die meisten Beobachter geglaubt hatten, doch eigentlich eine erfreuliche Sache: «Viele Produzenten wurden von der raschen Erholung auch einfach auf dem falschen Fuss erwischt.»

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Die grosse Verknappung betrifft nicht nur den Produktbereich, sondern auch der Arbeitsmarkt ist vielerorts im Mangelmodus. Dabei sind bei Weitem nicht mehr nur die altbekannten Engpässe wie etwa bei den IT-Berufen ein Thema, nein, sogar Bereiche, die eigentlich unter Corona leiden, wie die Gastronomie, sind betroffen.

Rudi Bindella, der schweizweit über 40 Restaurants betreibt und rund 1300 Mitarbeitende beschäftigt, findet nicht genug Personal, um alle seine Geschäfte auf vollen Touren laufen zu lassen. Rund 100 Leute würden insgesamt fehlen. Grund sei die Verunsicherung, die Corona ausgelöst habe: «Viele fragen sich, ob sie auf lange Sicht in dieser Branche ein Auskommen finden – und wandern in andere Bereiche ab, die sie für sicherer halten», so Bindella.

Rudi Bindella, im Restaurant Ornellaia Zuerich.

DER RESTAURANTBETREIBER – FEHLENDE ARBEITSKRÄFTE: «Viele wandern ab in andere Bereiche, die sie für sicherer halten»: Rudi Bindella, der schweizweit über 40 Restaurants betreibt, fehlen derzeit fast 100 Mitarbeitende. Nun muss er den Mangel teilweise mit reduzierten Öffnungszeiten abfedern.

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Rudi Bindella, im Restaurant Ornellaia Zuerich.

DER RESTAURANTBETREIBER – FEHLENDE ARBEITSKRÄFTE: «Viele wandern ab in andere Bereiche, die sie für sicherer halten»: Rudi Bindella, der schweizweit über 40 Restaurants betreibt, fehlen derzeit fast 100 Mitarbeitende. Nun muss er den Mangel teilweise mit reduzierten Öffnungszeiten abfedern.

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Auch die Möglichkeit, Lücken mit ausländischen Kräften zu schliessen, habe sich verschlechtert. So habe seine Gastro-Gruppe lange gezielt Leute aus Süditalien angeworben, um in den hiesigen Pizzerias oder Trattorias zu arbeiten, «doch die lassen sich jetzt nicht mehr so leicht aus dem sicheren Daheim locken». Nun muss Bindella den Mangel teilweise mit reduzierten Öffnungszeiten abfedern.

Die von vielen Staaten grosszügig gewährten Hilfeleistungen haben den Effekt noch verstärkt: In den USA spricht man von der «Great Resignation» – viele Leute haben dem Arbeitsmarkt endgültig den Rücken gekehrt. Auch in der Schweiz war dieser Effekt spürbar, vor allem in der ersten Corona-Welle. Per Mitte 2020 schrumpfte die Zahl der Erwerbstätigen um 106'000 Personen, aber rund die Hälfte davon – 50'000 – hat sich gar nicht erst um eine Stelle bemüht, sondern sich entmutigt zurückgezogen.

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Verknappung in all ihren Formen ist zum allgegenwärtigen Thema in vielen Branchen geworden. Generell gilt: Der Mangel bestimmt die Dinge, nicht mehr der Überfluss. Eine Entspannung ist – kurzund mittelfristig zumindest – nicht in Sicht. Laut der erwähnten Swissmem-Umfrage erwarten nur gerade 12 Prozent der Firmen eine Erholung der Mangellage vor Mitte des nächsten Jahres, 44 Prozent sehen diese in der zweiten Jahreshälfte 2022, 23 Prozent sogar erst 2023.

Dauerhafter Wandel

Viele der makroökonomischen Plattenverschiebungen, wie etwa der Trend zum Sachkonsum statt zu Dienstleistungen, dürften bleiben: «Bei vier von zehn Konsumenten hat sich das Kaufverhalten durch die Pandemie für immer verändert», fasst das Beratungsunternehmen AlixPartners die Ergebnisse einer jüngsten Studie zusammen. Ausser-Haus-Unterhaltung, Reisen/ Tourismus und Gastronomie nennt die Studie als «dauerhafte Verlierer».

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Und so rechnen die Konjunkturexperten durch den stärkeren Konsum zwar mit einer allgemeinen Dynamisierung des Umfelds, aber auch mit vielen Unberechen-barkeiten und Schwankungen, weil die grosse Verknappung zu einem mühsamen «Stop and Go» der industriellen Produktion führt, und dies noch für lange Zeit.

Strategie des produzierenden Gewerbes ist, die Preissteigerungen zumindest teilweise auf den Abnehmer zu überwälzen – 67 Prozent der betroffenen Firmen geben dies als Reaktion an. Doch damit kommt eine Preisspirale nach oben in Gang, denn für die Abnehmer verteuert sich die Produktion ja dann ebenfalls.

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In Branchen, die in den letzten Jahren mit der Franken-Aufwertung schon genug stark gebeutelt wurden, sind die teuren Preise der Vorprodukte gar existenzbedrohend: So liessen der Verband der Giessereien und der Aluminium-Verband Ende November in einer gemeinsamen Pressemitteilung wissen, dass die Verteuerung bei den Rohstoffen und den Energiekosten «eine erhebliche Bedrohung für den Fortbestand der Schweizer Giessereien und der aluminiumverarbeitenden Industrie darstellt».

Es betrifft dabei längst nicht nur Nischen, sondern grosse Bereiche der Schweizer Wirtschaft: Jede zehnte Firma in der Maschinenindustrie gab an, auf die Beschaffungsprobleme mit Kurzarbeit zu reagieren. So wird die Wirtschaft Opfer ihres eigenen Erfolgs: Die heissdrehende Weltwirtschaft führt paradoxerweise dazu, dass Leute zu Hause bleiben und Däumchen drehen müssen.

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Der Takt dürfte weiter von der Pandemie bestimmt werden, solange grosse Länder wie China ihr Produktionsverhalten davon abhängig machen. Und so müssen sich wohl auch die über Jahrzehnte verwöhnten Konsumenten bis auf Weiteres damit abfinden, dass Waren nicht mehr wie bisher jederzeit in allen gewünschten Varianten und in unerschöpflichen Mengen zur Verfügung stehen werden – aus einer Nachfragewirtschaft ist innert nur zwei Jahren eine Angebotswirtschaft geworden.

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Erik Nolmans

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