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Meinung

Wollen wir Zukunft oder Stillstand?

Die Individualbesteuerung hat mit dem Ja des Parlaments die nächste Hürde genommen. Warum das ein wirtschaftlicher Imperativ ist.

Carolina Müller-Möhl

<p>«Individualbesteuerung ist kein Luxusprojekt für ein paar Idealisten», ist Carolina Müller-Möhl überzeugt.</p>

«Individualbesteuerung ist kein Luxusprojekt für ein paar Idealisten», ist Carolina Müller-Möhl überzeugt.

Anne Gabriel-Juergens

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Die Schweiz ist ein Hochlohnland, ein Innovationsstandort, ein Hort der Stabilität. Aber ausgerechnet beim Thema Steuern wollen viele an einem Modell festhalten, das bestenfalls in die 1950er-Jahre passt. Die heutige gemeinsame Veranlagung bestraft Erwerbsarbeit, zementiert alte Rollenbilder – und verhindert, dass wir unser Arbeitskräftepotenzial endlich ausschöpfen.

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Die Rechnung ist simpel: Wer heiratet, zahlt häufig höhere Steuern als vorher. Meist dann, wenn beide Partner arbeiten. Denn das Steuerrecht belohnt das Ein-Verdiener-Modell und bremst den Zweitverdienst aus – oft zulasten der Frauen. Die Folge: überproportional viel Teilzeitarbeit, Fachkräftemangel und vor allem verschenktes Potenzial.

Die Individualbesteuerung wäre längst überfällig. Sie anerkennt jeden Steuerpflichtigen als eigenständige Person – unabhängig vom Zivilstand. Keine künstliche Verschmelzung auf dem Steuerformular mehr, sondern klare Verhältnisse: Wer verdient, versteuert. Wer dazu noch Kinder aufzieht, macht Abzüge, egal ob verheiratet oder nicht. Punkt.

Carolina Müller-Möhl ist Investorin und Gründerin der Müller-Möhl Group & Foundation sowie Initiatorin des Kompetenz-Hubs taskforce4women.

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Das ist keine ideologische Frage, sondern wirtschaftliche Vernunft. In Zeiten von Personalmangel in praktisch allen Branchen können wir es uns schlicht nicht mehr leisten, Hunderttausende bestens qualifizierte Arbeitskräfte an den Rand zu drängen, weil sich Erwerbsarbeit für den Zweitverdienst finanziell kaum lohnt. Studien zeigen: Mit der Individualbesteuerung könnten bis zu 60'000 zusätzliche Vollzeitstellen geschaffen werden. Selbst die vorsichtige Schätzung des Bundesrats spricht von 47'000 zusätzlichen Stellen. Jeder CEO versteht, was das bedeutet: mehr Wertschöpfung, höhere Steuereinnahmen, stärkere Sozialversicherungen, weniger Staatsausgaben für Frauen in Scheidungs- oder Altersarmut.

Und die Kosten? Natürlich verursacht der Systemwechsel einen Aufwand. Doch die Schweiz hat schon komplexere Reformen gestemmt. Und seien wir ehrlich: Wer in der Lage ist, Milliarden für Bauprojekte oder Landwirtschaft zu mobilisieren, sollte auch in die Modernisierung des Steuersystems investieren können. Zumal die Individualbesteuerung mittelfristig sogar die Verwaltung entlastet: Die häufigen Umstellungen bei Heirat, Scheidung (40  Prozent aller Ehen!) oder Tod entfallen – das System wird stabiler und berechenbarer.

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Individualbesteuerung ist nicht nur gerecht – sie ist kluge Standortpolitik.

Die Gegner warnen vor Angriffen auf die Ehe. Als ob Partnerschaften nur durch steuerliche Privilegien Bestand hätten. Wer glaubt, dass staatlich geförderte Abhängigkeit die Basis stabiler Beziehungen ist, hat weder die gesellschaftliche Realität noch die Bedürfnisse der jungen Generation verstanden. Freiheit und Selbstbestimmung sind die besseren Bindemittel. Die lebenslange Wirtschaftsgemeinschaft ist passé: Die jüngsten Urteile des Bundesgerichts zum nachehelichen Unterhalt halten fest, dass Frauen nur noch für kurze Zeit Alimente bekommen. Auch das alte Argument der sinkenden Geburtenrate zieht nicht. Steuerliche Abhängigkeit bringt keine Kinder – wir stehen bei 1,29 Kindern pro Frau, Tendenz seit Jahren sinkend. Was Familien wirklich hilft, sind bezahlbare Kitas, flexible Arbeitsmodelle und Wiedereinstiegsangebote. Hier ist auch die Wirtschaft gefragt!

Individualbesteuerung ist kein Luxusprojekt für ein paar Idealisten, sondern ein wirtschaftlicher Imperativ. Die Schweiz braucht alle Talente – auch die anderen 50  Prozent der Bevölkerung. Frauen, die ihr Potenzial entfalten. Unternehmen, die ihre offenen Stellen besetzen können. Und einen Staat, der seine Einnahmen auf einer breiteren, leistungsorientierten Basis generiert. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt längst in modernen Partnerschaften. Höchste Zeit, dass der Fiskus aufholt. Individualbesteuerung ist nicht nur gerecht – sie ist kluge Standortpolitik.

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Dieser Artikel erschien in der BILANZ 07/2025.

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