Guten Tag,
In einem alten Bauernhof aus dem 17. Jahrhundert lässt Cartier vergessene Fertigkeiten wieder auferstehen.

Jorge S. B. Guerreiro
 
 Cartier verwandelt ein historisches Bauernhaus in La Chaux-de-Fonds in ein Innovationszentrum für Kunsthandwerk. Rund fünfzig Mitarbeiter sind auf vier Etagen tätig.
CartierWerbung
Als Cartier beschloss, seine Kunsthandwerke unter einem Dach zu vereinen, musste man nicht lange suchen: Nur einen Steinwurf von der Uhrenmanufaktur in La Chaux-de-Fonds entfernt stand ein schönes, wenn auch etwas veraltetes Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert. Cartier hat es 2011 gekauft mit dem Ziel, das einzigartige Gebäude in ein Innovationszentrum für Kunsthandwerk zu verwandeln. «Die Manufaktur befand sich direkt nebenan», sagt Karim Drici, Senior VP & Chief Operating Officer von Cartier, «es war die perfekte Gelegenheit, Hochtechnologie und Kunsthandwerk an einem Ort zu vereinen.»
Die Restaurierung, die dem Architekten Stéphane Horni und dem Spezialisten Gilles Tissot anvertraut wurde, dauerte achtzehn Monate. Die Herausforderung? Die Seele zu bewahren und das Gebäude gleichzeitig an die modernen technischen Anforderungen anzupassen. Die Arbeiten wurden unter Wahrung der Tradition mit alten Elementen aus mehreren Bauernhöfen der Region durchgeführt, um dem Gebäude sein ursprüngliches Aussehen zurückzugeben und gleichzeitig die notwendigen Spitzentechnologien zu integrieren. Um die Handwerker mit dem für ihre Arbeit wichtigen Licht zu versorgen, wurde ausserdem ein Lichtschacht eingebaut. Entstanden ist eine Innenfläche von 1500 m² auf vier Etagen. Das Haus wurde 2014 eröffnet. Heute arbeiten dort rund 50 Mitarbeiter an höchst aussergewöhnlichen Uhrenkollektionen.
Um Cartiers Engagement für das Kunsthandwerk der Uhrmacherei zu verstehen, ist eine Kontextualisierung erforderlich. Die Geschichte beginnt im Jahr 1847, als Louis-François Cartier sein erstes Geschäft in der Rue Montorgueil in Paris eröffnete. «Jedes Schmuckstück erzählt eine Geschichte, die von erfahrenen Händen geformt wurde», behauptete er schon damals. Ab 1853 begann Cartier mit der Uhrmacherei. Die ersten Uhren, die mit Uhrwerken anderer Manufakturen ausgestattet waren, trugen bereits die ästhetische Handschrift, die den Ruf des Hauses begründen sollte. Ikonische Modelle folgen aufeinander: die Santos im Jahr 1904 für den Flieger Alberto Santos-Dumont (die erste Armbanduhr), die Tortue im Jahr 1906 und die legendäre Tank im Jahr 1917. All diese Kreationen etablierten Cartier als unumgängliche Referenz der Luxusuhrmacherei.
Die Uhrenaktivitäten von Cartier, heute eine Tochtergesellschaft der Richemont-Gruppe, machen das Unternehmen laut dem unabhängigen Bericht von Morgan Stanley zum zweitgrössten Mitspieler der Branche weltweit.
Da sie oft mündlich weitergegeben werden, laufen die Handwerksberufe Gefahr, zu verschwinden. Sie müssen wiederentdeckt und gesammelt werden.
Damit dieses Know-how erhalten bleibt, muss es weitergegeben werden, indem neue Generationen von Handwerkern ausgebildet werden.
Die Handwerksberufe weiterentwickeln, indem neue Techniken erfunden werden, die entweder völlig neu sind oder auf Traditionen basieren.
Werbung
Die gesamte Uhrenproduktion von Cartier trägt dank eines Netzwerks von Manufakturen an fünf Standorten in der Schweiz das Siegel «Swiss made». Neben dem Maison des Métiers d'art befinden sich im Kanton Neuenburg die Manufakturen in La Chaux-de-Fonds und Couvet, im Kanton Jura die Manufaktur in Glovelier und im Kanton Freiburg die Manufaktur in Villars-sur-Glâne. Ein einzigartiges Netzwerk mit mehr als 1500 Mitarbeitern aus 20 verschiedenen Ländern und mit über 120 Berufen.
Von dieser Uhrenproduktion werden die kunstvollsten Stücke entworfen und dann im Maison des Métiers d'art zusammengebaut. «Cartier wurde als Juwelier geboren. Die Grenze zwischen Schmuck und Kunsthandwerk ist sehr dünn, wenn nicht gar inexistent», sagt Karim Drici. Diese Nähe erklärt die Leichtigkeit, mit der das Haus althergebrachte Techniken und Spitzentechnologien in einen Dialog treten lässt.
Nach einer von Cartier akzeptierten Definition wird ein Kunsthandwerk als seltenes, aussergewöhnliches Know-how definiert, das aus der Tradition entsteht. Diese oftmals von Generation zu Generation weitergegebenen Handwerksberufe erfordern jahrelange Übung, um die Meisterschaft zu erlangen.
Kunsthandwerk lässt sich in drei grosse Familien unterteilen. Die Feuerkunst umfasst alle Emaillierungstechniken: gemaltes Emaille, Cloisonné-Emaille, Champlevé-Emaille, Grisaille-Emaille oder Plique-à-jour. Diese Fachgebiete entwickeln sich ständig weiter, sei es durch die Bereicherung traditioneller Fertigkeiten oder durch Innovationen. Dank der Forschungsarbeit der Kunsthandwerker der Maison werden althergebrachte Techniken wiederentdeckt und wiederbelebt. So wurde die Grisaille-Emaille von der Erfahrung der Benediktinermönche inspiriert.
Werbung
Die Metallkunst ist mit der etruskischen Granulation und dem Wasserzeichen vertreten. Bei ersterem werden Goldkügelchen unterschiedlicher Grösse hergestellt, die einzeln auf vertiefte Muster gelegt und mit einem Laser verschweisst werden. «Ein Uhrenzifferblatt wird zwischen 2000 und 3000 Mal unter die Flamme gehalten», heisst es bei Cartier. Das Filigran, eine Goldschmiedetechnik, bei der Gold- oder Silberdrähte durch Verschmelzung fixiert werden, erfordert eine minutiöse Anpassung an die Uhrendimensionen.
Am weitesten geht die Innovation bei Cartier in der Kunst der Komposition. Diese dritte Familie umfasst Intarsien und Mosaike, uralte Techniken, die an die Miniaturgrösse der Zifferblätter angepasst wurden. Die Handwerker schneiden Fragmente unterschiedlicher Texturen, Farben und sogar Materialien aus und fügen sie zu komplexen Mustern zusammen. Diese Technik erfordert unendliche Geduld. Bei der Louis Cartier Ronde Eclats de Panthère aus dem Jahr 2022 setzte der Kunsthandwerker für die Marke 124 Fragmente aus Stroh, Holz, Kristall, Saphir, Gold und Perlmutt zusammen. Eine der jüngsten Meisterleistungen ist ein Mosaikzifferblatt mit Tigermotiv, das aus fast 500 Miniatursteinen besteht. Für den Boden werden 30 bis 40 Stunden benötigt, für das Dekor weitere 25 bis 30 Stunden.
Werbung

Das Kunsthandwerk lässt sich in drei grosse Familien unterteilen. Die Kunst des Feuers umfasst alle Emaillierungstechniken, die Kunst des Metalls die etruskische Granulation und das Wasserzeichen und die Kunst der Komposition die Einlegearbeiten und Mosaike.
Cartier
Das Kunsthandwerk lässt sich in drei grosse Familien unterteilen. Die Kunst des Feuers umfasst alle Emaillierungstechniken, die Kunst des Metalls die etruskische Granulation und das Wasserzeichen und die Kunst der Komposition die Einlegearbeiten und Mosaike.
CartierDas Konstruktionsbüro im Maison des Métiers d'Art entwickelt Technologien aus den Bereichen Mikrofluidik, Mechanik und Magnetismus, aber auch neuere Innovationen wie den 3D-Druck auf Gold. Dieser hybride Ansatz bringt überraschende Kreationen hervor, wie die Uhr Coussin de 2022. «Entstanden aus einem innovativen und völlig neuen Konzept, beruht sie auf einem Gitterraster aus Goldmaschen, die mit Farbsteinen und Diamanten gepflastert sind und eine zentrale, nicht sichtbare und flexible Struktur umschliessen.»
Noch spektakulärer ist die Uhr Serti Vibrant aus dem Jahr 2023, die die seit dem 19. Jahrhundert in der Juwelierkunst verwendete Zitterfassung auf die Uhrmacherei überträgt. «Diese Technik, die den Glanz und die Leuchtkraft der Edelsteine maximiert, wurde in Form von 123 beweglichen Diamanten, die über den Raum eines Uhrenzifferblatts verteilt sind, auf die Uhrmacherei übertragen.» Bei der kleinsten Bewegung beginnen die Steine zu vibrieren und geben funkelnde Reflexe ab, wodurch das Zifferblatt wie von lebendigem Licht beleuchtet wird.
Werbung
Oft entsteht ein Dialog zwischen den Handwerkern in La Chaux-de-Fonds und ihren Pariser Kollegen in den Ateliers für Haute Joaillerie. So sind manche Kreationen das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Gemmologen, die beispielsweise die Anzahl der für eine Kreation benötigten gleichfarbigen Steine zusammenstellen, und dem Juwelenfasser, der für die Befestigung der Steine auf dem Stück verantwortlich ist, wie zum Beispiel die Panthère-Juwelieruhr, für die mehr als 800 Arbeitsstunden erforderlich sind.
«Kunsthandwerk wird meist mündlich weitergegeben und läuft Gefahr, im Laufe der Zeit zu verschwinden», sagt Karim Drici und fügt an, «für Cartier ist es eine Notwendigkeit und eine Pflicht, dieses Know-how zu sammeln, damit das Kunsthandwerk die Zeit überdauert und ein lebendigeres Erbe bleibt als je zuvor.» Diese Aufgabe der Weitergabe nimmt auch mit dem 1993 in Couvet gegründeten Institut Horlogerie Cartier (IHC) konkrete Gestalt an. Jährlich werden dort zwischen 150 und 200 Mitarbeiter ausgebildet, und regelmässig kommen Praktikanten in das Maison des Métiers d'art.
Elf Jahre nach seiner Einweihung hat das Maison des Métiers d'art in La Chaux-de-Fonds die von Cartier gesetzten Ziele weitgehend erfüllt. Die mehr als 30 angemeldeten Patente zeugen von seiner kreativen Blütezeit. Parallel dazu dient der Ort auch als Hüter der Erinnerung an Cartiers vergangene Kreationen, indem er Dienstleistungen zur Restaurierung alter Kreationen anbietet. Dank der verschiedenen hier vertretenen Berufe ist es möglich, jedes beschädigte oder abgenutzte Stück, zu reparieren - oder, falls dies nicht möglich ist, identisch zu reproduzieren.
Werbung
«Der Geist dieses Ortes ist einzigartig: Er bewahrt und vermittelt Kunsthandwerke, die oft vergessen oder wenig praktiziert werden, in einer Dynamik, in der die Innovation ihren Platz hat und die grenzenlose Kreativität der Maison nährt», fasst Karim Drici am Ende der Tour d'horizont zusammen und betont, «wir sind überzeugt, dass es dieser Dialog zwischen Tradition und Moderne ist, der es dem Kunsthandwerk ermöglicht, die Zeit zu überdauern und ein Erbe zu bleiben, das lebendiger denn je ist.»
Werbung