Guten Tag,
Die Schweizer Arbeitswelt lebt bei der Zeiterfassung einen Doppelstandard: Offiziell gelten strenge Regeln, inoffiziell herrscht Anarchie.
Loick von Arx
Wenn die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit zerfliessen: Im Homeoffice folgen die wenigsten der Eight-to-five-Regel. (Diese Illustration wurde von einem KI-Modell generiert und von einem Menschen überprüft und finalisiert.)
Tessy Ruppert / MidjourneyWerbung
Am Sonntagabend planen die Schweizerinnen und Schweizer ihre Folgewoche. Sie kontrollieren ihre Agenden, organisieren ihre Abende und überprüfen den Mail-Posteingang. Denn niemand möchte am Montagmorgen eine böse Überraschung im Büro erleben. Schnell wird aus fünf Minuten «Checken» eine Stunde Arbeit, mehrere E-Mails verlassen den Postausgang. Das tun sie allerdings illegal. Denn nicht bewilligte Sonntagsarbeit ist hierzulande verboten.
Nur: Dieses rechtliche Konstrukt hat in der Praxis längst ausgedient. Im Homeoffice verschwimmen die Arbeitszeiten. Arbeitnehmende nutzen die Flexibilität im eigenen Büro, um das Privatleben und die beruflichen Aufgaben zu koordinieren. Beispiele dafür finden sich auf Linkedin zuhauf: Im Januar empörte sich ein Chef über seine Angestellte, die während der offiziellen Arbeitszeit einen vierstündigen Coiffeurtermin eingetragen hatte. Ein anderer hingegen freute sich für seine Mitarbeiterin, die sich das Arbeiten im Homeoffice erbat, weil sie wegen einer Hochzeitsfeier die Arbeitszeit flexibel verschieben wollte, um Zeit für die Vorbereitung zu haben.
Die Meinungen zu flexibler Arbeitszeit gehen weit auseinander. Alle Fälle zeigen jedoch: Die heutigen Regeln sind längst überholt. Wer vier Stunden beim Coiffeur sitzt, muss diese Stunden vor- oder nachholen. Laut aktuellem Gesetz ist das aber nicht möglich. Und wer später am Tag zu einer Hochzeit fährt, will die nötige Arbeitszeit früh am Morgen vorholen – darf das aber nicht. Die Realität hat das Arbeitsgesetz längst überholt. Nun scheint eine Lockerung in Griffweite. Doch bis es so weit ist, hilft sich die Arbeitswelt mit Tricks.
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Einer dieser Tricks betrifft die Regelung der Homeoffice-Tage. Eine Umfrage der Onlinejobbörse Indeed brachte hervor, dass jeder Dritte geheime Absprachen mit direkten Vorgesetzten trifft, um häufiger von zu Hause aus zu arbeiten. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Leistung stimmt. Das Gleiche zeigt sich im Homeoffice bei den Arbeitszeiten. Länger arbeiten, früher beginnen, dazwischen eine lange Pause: Das ist mit Absprache – und solange die Leistung stimmt – möglich. Ins System tragen die Arbeitnehmenden eine realistische Zeit ein und segeln so unter dem Radar der Zeiterfassung.
Damit das legal wird, hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats eine Flexibilisierung vorgeschlagen. Diese soll allerdings nicht für alle im Homeoffice gelten, sondern nur für diejenigen, die ihre Arbeitszeit zu einem namhaften Teil selber festlegen können. Für Daniella Lützelschwab, Ressortleiterin Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV), ist das ein längst überfälliger Schritt – der jedoch auf alle Arbeitenden im Homeoffice ausgeweitet werden soll: «Der positive Effekt von mehr Flexibilität auf die Vereinbarkeit sowie auf das Stressniveau zeigt sich besonders deutlich bei jenen Personen, die aktuell noch relativ starre Arbeitszeitregelungen haben», so die Expertin. Denn «bei ihnen ist der Nutzen grösser als bei Personen, die bereits in Teilen flexibel arbeiten können».
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Sie verweist auf eine Studie des SAV, die aufzeigte, dass Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten ihr Berufs- und Privatleben deutlich besser miteinander vereinen können. Gerade Eltern mit minderjährigen Kindern bevorzugten das Modell. Gleichzeitig fanden die Autoren der Studie, dass Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten seltener von Belastungen durch die Vermischung von Arbeit und Freizeit berichten als Personen mit festen Arbeitszeiten. Hier besteht jedoch die Gefahr der Überlastung.
Alpen-Methode: Diese Methode hilft, den Tag zu strukturieren, indem man Aufgaben notiert, deren Länge schätzt, Pufferzeiten einplant, Entscheidungen trifft und eine Nachkontrolle der Aufgaben vornimmt.
60:40-Regel: Nur 60 Prozent der Zeit verplanen und 40 Prozent als Puffer für unvorhergesehene Ereignisse oder zusätzliche Aufgaben freihalten. Denn meistens gibt es an einem Arbeitstag auch unerwartete Nachrichten oder dringende Anfragen über Messenger wie Slack oder Google Chat.
Pomodoro-Technik: Aufgaben in 25-minütige Arbeitsintervalle (Pomodori) mit kurzen Pausen aufteilen und nach vier Pomodori eine längere Pause einlegen. Der Name leitet sich von der Küchenuhr in Tomatenform ab.
Pickle-Jar-Methode: Die täglichen Aufgaben nach ihrer Wichtigkeit und Dringlichkeit in Pickle-Jars – zu Deutsch: Einmachgläser – sortieren und zuerst die wichtigsten und dringendsten bearbeiten. Danach zum nächsten Glas wechseln.
Die Lösung dazu sieht Matthias Mölleney in der Kunst der guten Führung. Denn die Flexibilisierung führt laut dem Unternehmensberater und ehemaligen Personalchef der Swissair auch dazu, dass Angestellte heute zwei Lebensmodelle unterscheiden: Die einen wünschen sich keine strikte Trennung des privaten und des beruflichen Lebens. Sie möchten auch während der Arbeitszeit gelegentlich ein Familientelefon führen oder am Wochenende ein Mail abschicken – «ohne, dass Staat oder Arbeitgeber hineinreden». Andere hingegen bevorzugen klare Arbeitszeiten. Dies auch deshalb, weil sie befürchten, dass sie sonst Gefahr laufen, sich zu verausgaben oder sich gar selbst auszubeuten.
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Diesen beiden Gruppen müssen Vorgesetzte nun gerecht werden. «Sich als Arbeitgeber bei den beiden Lebensmodellen einseitig auf eine Seite zu schlagen, wäre falsch», so Mölleney. Damit aber alle gewünschten Lebensmodelle möglich sind, müssten die Firmen regelmässig den Puls der Teams fühlen und Schulungen veranstalten. So können sie bei sich selbst und auch bei den Mitarbeitenden die Warnsignale für Überlastungen erkennen.
Im Praxisalltag von Schweizer Firmen vertrauen viele auf ihre Zeiterfassungssysteme. Von Google bis Swisscom und Post: Sie alle lassen ihre Angestellten die Arbeitszeiten online erfassen. Bei der Swisscom erhalten die Vorgesetzten eine Meldung, sollten beispielsweise Ruhezeiten nicht eingehalten werden. Einzig Kadermitarbeitende haben in vielen Firmen die Möglichkeit, dass sie freiwillig auf die Zeiterfassung verzichten. Die Firmen appellieren dann an die Eigenverantwortung der einzelnen Kadermitarbeitenden. Diesen «Vorteil für Führungskräfte» kritisiert Lützelschwab vom SAV: «Eine flexible Gestaltung der Arbeitszeiten soll nicht nur ein Privileg der Besserverdienenden oder hierarchisch höhergestellten Mitarbeitenden sein.»
Einen Vorteil gegenüber den Kadermitarbeitenden geniessen umgekehrt Angestellte bereits heute: Sie haben ein Recht auf Nichterreichbarkeit in ihrer Freizeit. Diese möchte der Gesetzgeber nun verankern. Ein Element, das viele kritisieren. Dass Arbeitnehmende nicht für alle Lappalien erreichbar sein müssen, liegt auf der Hand. Bei Notfällen hingegen müsse eine Erreichbarkeit weiterhin möglich und zumutbar bleiben.
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Es ist die Pattsituation der Flexibilisierung: Ein Gesetz wäre vernünftig, aber die Ausgestaltung schwierig und abhängig vom Einzelfall. Deshalb ist die Debatte darüber vorrangig eine Frage der guten Führung und Unternehmenskultur – und weniger ein Fall für den Gesetzgeber.
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