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Neue Konkurrenz, sinkende Einnahmen: Wie Nathalie Wappler das Schweizer Fernsehen retten will

Sparen, bilden, informieren: Die neue SRF-Chefin hat viele Vorgaben und wenig Spielraum. Wie Nathalie Wappler ihren Weg geht.

Florence Vuichard

Florence Vuichard

SCHWEIZ - ZÜRICH - SRF-Direktorin Nathalie Wappler an der Türe zum neuen Newsroom - 18. Dezember 2019 © Raphael Hünerfauth - http://huenerfauth.ch

Zwischen Sparprogrammen, digitaler Transformation und politischen Vorgaben: Seit rund einem Jahr lenkt Nathalie Wappler die Geschicke des Schweizer Radios und Fernsehens.

Raphael Hünerfauth für BILANZ

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Plötzlich weiss auch Nathalie Wappler nicht mehr weiter, verliert selbst sie kurz die Übersicht im Gang-Labyrinth von Leutschenbach, wo alles neu gruppiert wird – respektive näher zusammenrückt. Doch dann findet die SRF-Chefin die gesuchte Türe zum mehrstöckigen Newsroom für TV und Online, dem Herzstück des Medienhauses, wo auch die neuen Fernsehstudios untergebracht sind, aus denen künftig die «Tagesschau», «10vor10» und weitere Informationssendungen ausgestrahlt werden sollen. Gleich nebenan entsteht die neue Radiohall, wo die Crew des Radiostudios Zürich 2021 hinzügeln muss.

Beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) bleibt kein Stein auf dem anderen. Gezwungenermassen. Der Bundesrat hat die Gebührengelder für die SRG nach dem «No Billag»-Abstimmungskampf auf jährlich 1,2 Milliarden Franken gedeckelt, die Werbeeinnahmen schmelzen stärker als prognostiziert. Und so jagt ein Sparprogramm das nächste: Das erste Massnahmenpaket mit einem angepeilten Sparvolumen von 100 Millionen Franken ist noch nicht ganz abgeschlossen, schon liegt das nächste vor, diesmal mit einem Sparauftrag von 50 Millionen Franken. Und trotzdem: Die SRG wird das abgelaufene Geschäftsjahr mit einem Defizit von schätzungsweise 20 Millionen Franken abschliessen.

Als grösstes SRG-Kind muss SRF jeweils den grössten Sparbeitrag der sprachregionalen Unternehmenseinheiten leisten: Beim ersten Sparpaket waren es 20 Millionen, beim zweiten sind es nun 16 Millionen Franken. Kaum im Amt, hat Nathalie Wappler Sendungen gestrichen und den Personalbestand weiter reduziert. Doch den Sollwert hat sie damit noch nicht erreicht, der Abbau geht weiter. Und sie schliesst auch Entlassungen nicht aus.

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Von Halle an der Saale nach Zürich

Wappler spricht langsam, bedacht, unsentimental. Und sehr leise. So leise, dass Techniker die Mikrofone jeweils nachjustieren müssen, wenn sie vor grossem Publikum etwas sagen will. Ins Büro kommt sie mit dem Tram oder Velo – vom Zürichberg, wohin sie vor knapp einem Jahr aus Halle an der Saale gezogen ist, einer Grossstadt in Ostdeutschland, die hierzulande höchstens mit rechten Aufmärschen für Schlagzeilen sorgt, aber auch Sitz des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) ist, wo Wappler von 2016 bis Ende 2018 Programmdirektorin war. Doch der bescheidene, fast sanfte Auftritt sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die 52-jährige Historikerin und Germanistin durchaus harte Entscheide zu fällen bereit ist.

So hat sie kurz nach ihrem Amtsantritt die sogenannte «Matrix-Organisation» abgeschafft, mit der die Verantwortlichkeiten bei SRF auf eine vertikal-hierarchische und eine horizontal-fachorientierte Führungsriege verteilt wurden. Und bei der man den Verdacht nie richtig loswurde, dass ihre Einführung bei der Zusammenführung von Radio und Fernsehen vor allem dazu diente, allen Chefs ein Pöstchen zu sichern. «In den ersten drei Monaten habe ich vor allem zugehört», sagt Wappler, «dabei habe ich am häufigsten gehört, dass es an der Schnittstelle immer geklemmt habe».

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Und so hat sie die «vertikale» Abteilung «Programme» in deren alter Form aufgelöst. Ein kleiner Abbau des Wasserkopfs, mit dem sie auch gleich ihren Gegenspieler für den SRF-Chefposten, Hansruedi Schoch, loswurde, mit dem sie sich schon in ihrer Ära als Kulturchefin nie richtig verstanden haben soll.

Aufbau der neuen Streamingplattform

Schoch hat sich nun mit einer Firma für digitale Transformation selbstständig gemacht und sich dabei auch gleich ein paar SRG-Aufträge sowie ein Büro im Leutschenbacher SRF-Komplex gesichert: Er unterstütze den Konzern bei «einigen digitalen Schlüsselprojekten», wie es aus der SRG-Zentrale heisst. Zum Beispiel beim Aufbau der neuen Streamingplattform, die im Herbst lanciert werden soll. Ein À-la-carte-Dienst, der Filme, Serien, Dokumentationen, Archivmaterial sowie ausgewählte Themen aus allen vier sprachregionalen Unternehmenseinheiten anbieten soll, also nicht nur vom Deutschschweizer SRF, sondernauch von Radio Télévision Suisse (RTS), Radiotelevisione svizzera (RSI) und Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR).

Der frühere Konzernchef Roger de Weck hatte oft die «Klammerfunktion» der SRG für die Schweiz hervorgehoben. Doch die neue Streamingplattform ist wohl – abgesehen von der Übertragung der grossen Sportereignisse – das erste nationale SRG-Projekt, das diese Funktion auch erfüllt. Denn die vier Parallelorganisationen SRF, RTS, RSI und RTR haben wenig Berührungspunkte. Der nationale Zusammenhalt wird heute eigentlich nur durch die Umverteilung der Gebührengelder nach dem «Helvetiaschlüssel» von der Deutschschweiz in die anderen drei Sprachregionen gefördert. Denn obwohl gut 70 Prozent der Bevölkerung in der Deutschschweiz wohnen, erhält SRF lediglich 43 Prozent der Einnahmen.
 

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Wapplers zweite einschneidende Strukturreform nebst der Abschaffung der Matrix-Organisation ist die Reintegration der Produktionsgesellschaft TPC, was den SRF-Personaletat von 2100 auf rund 3000 Angestellte anhebt. Angedacht wurde der Schritt bereits vor Wapplers Amtsantritt von SRG-Chef Gilles Marchand, aber sie war es letztlich, die ihn per Anfang 2020 umsetzte.

TPC war vor 20 Jahren abgespalten worden, als Auslagerungen von Firmenteilen in Mode waren. Die Initiatoren, der damalige SRG-Direktor Armin Walpen und Fernsehdirektor Peter Schellenberg, träumten von Drittaufträgen und wollten mit ihrer TPC-Tochter auch im internationalen Geschäft mitmischen. In der Realität haben sie eine parallele Firma aufgebaut, mit eigenem Overhead, eigener Geschäftsleitung und eigenem Verwaltungsrat, die stets von den SRF-Aufträgen abhängig blieb. Der frühere TPC-Chef Detlef Sold musste nun weiterziehen, der Verwaltungsrat – bis zu Wapplers Eintritt 2019 trotz anderslautenden Vorgaben des Bundesrats ein reines Männergremium – wurde aufgelöst.

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Seilziehen um das Radiostudio Bern

Geerbt von Marchand und ihrem Vorgänger Rudolf Matter hat die neue SRF-Direktorin das unschöne Seilziehen rund um das Radiostudio Bern. Nachdem die beiden Chefs im «No Billag»-Abstimmungskampf viel von Service public und der Vielfalt der föderalen Schweiz gesprochen hatten, wollten sie plötzlich fast die gesamte Radioredaktion von Bern nach Zürich zügeln und alles in Leutschenbach zentralisieren, um Mietkosten zu reduzieren.

Die Angestellten protestierten, Medienbeobachter prognostizierten Einheitsbrei statt Vielfalt, die alliierten Politiker, die mit der SRG-Spitze noch Seite an Seite gegen die «No Billag»-Initiative gekämpft hatten, witterten Verrat. Parlamentarier aller Couleur reichten Vorstösse ein, die Nationalräte sprachen sich gar mehrheitlich dafür aus, die heutigen Standorte im Gesetz zu verankern. «Ich habe eine Situation angetroffen, die nicht ganz einfach war», räumt Wappler ein. Ihr Ausweg aus der mit wenig politischem Gespür geführten Immobiliendiskussion bestand darin, ein standortunabhängiges «publizistisches Konzept» vorzulegen, eine «Audiostrategie».

In Bern bleiben neben dem Bundeshaus-Team nach Wapplers Eingriff nun auch das Radio-Kompetenzzentrum für Hintergrund und Analyse, das heisst die Redaktionen von «Echo der Zeit», «Tagesgespräch» und «Rendez-vous», sowie die In- und Auslandsredaktionen – und Swissinfo, die Nachfolgeorganisation des legendären Schweizer Radio International.

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Die 100-köpfige Redaktion bespielt heute eine Nachrichtenplattform in zehn Sprachen für ein mehrheitlich im Ausland wohnendes Publikum und soll ebenfalls ins Radiostudio Bern an der Schwarztorstrasse umziehen. Insgesamt werden dort 185 Journalisten und Journalistinnen in gemeinsamen Redaktionsräumlichkeiten arbeiten – wer weiss, was sich daraus noch entwickeln könne, sagt Wappler. «Da liegt viel Potenzial drin, das wir heute noch nicht ermessen können.» Auch ihr sei die breite lokale Verankerung wichtig, fügt die SRF-Chefin an. Der Blick auf die Welt und die Schweiz sei von Zürich aus ein anderer als von Bern oder etwa von Kreuzlingen, wo sie, die schweizerischdeutsche Doppelbürgerin, aufgewachsen ist.

SRG-Geschäftsleitung zieht in ehemalige Swissinfo-Büros

Die SRG-Geschäftsleitung, die ursprünglich vom Stadtrand ins zentraler gelegene Berner Radiostudio ziehen wollte, muss sich nun mit den ehemaligen Swissinfo-Büros im benachbarten Admeira-Gebäude begnügen. Für den SRG-Turm werden neue Mieter gesucht, weil die Mediengruppe mit der Mobiliar einen langjährigen Mietvertrag bis 2032 hat. Eine Altlast aus der Ära Walpen.

Die Redaktion von Radio SRF 4 News sowie die Nachrichtenredaktion hingegen müssen integral von Bern nach Leutschenbach umziehen, zur «Bündelung der Kräfte», ein Vorteil, den Wappler auch beim Newsroom von Online und TV hervorstreicht. Früher hätten die grossen Nachrichtenagenturen als erster Filter gedient, in einem zweiten Schritt hätten dann die Redaktionen die Nachrichten nochmals überprüft. «Heute, in Zeiten von Fake News, strömt alles ungefiltert über alle Kanäle auf alle ein», sagt Wappler. Umso wichtiger werde der interne Faktencheck, der durch die kurzen Wege erleichtert werde.

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Und kurz sind sie tatsächlich, die Wege. 500 Leute sollen dereinst im TV- und Online-Newsroom arbeiten. Platz für persönliche Archive und Dokumente hat es kaum noch. Nur in den Korpussen am Rand des Grossraumbüros gibt es für die Mitarbeitenden Stauraum für etwa vier Schuhschachteln Material. Die schöne neue, papierlose Bürowelt erfasst auch das SRF-Universum.

Nathalie Wappler: Die SRF-Chefin im neuen Zentrum in Leutschenbach: dem Newsroom für TV- und Online-Redaktionen.

Die SRF-Chefin im neuen Zentrum in Leutschenbach: dem Newsroom für TV- und Online-Redaktionen.

Raphael Hünerfauth für BILANZ
Nathalie Wappler: Die SRF-Chefin im neuen Zentrum in Leutschenbach: dem Newsroom für TV- und Online-Redaktionen.

Die SRF-Chefin im neuen Zentrum in Leutschenbach: dem Newsroom für TV- und Online-Redaktionen.

Raphael Hünerfauth für BILANZ

Die Konkurrenz nimmt zu – mehr Investitionen wären nötig

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Als Wappler im März 2019 als Superdirektorin das Zepter bei SRF übernahm, kündigte sie an, innerhalb von zwei Jahren ein neues Unternehmen zu formen. Eigentlich müsste sie investieren, um ihr Publikum in den Deutschschweizer Wohnzimmern, das sich vermehrt Facebook, YouTube und den verschiedensten Streamingdiensten zuwendet, auch in Zukunft zu erreichen. Etliche Junge wissen nicht mal mehr, wofür die drei Buchstaben SRF stehen. Sie schauen lieber Netflix und Co.. Darüber können auch die neuesten, relativ stabilen SRF-Marktanteilzahlen nicht hinwegtäuschen.

Zudem rüstet die heimische Konkurrenz auf: Peter Wanners CH-Media-Gruppe hat mit dem Zukauf der 3+-Gruppe ihr Fernsehgeschäft verstärkt, Ringier lanciert im Februar «Blick TV» und hat dafür 48 Leute angestellt. Von solchen Ausbauprojekten kann Wappler nur träumen. Ihr Handlungsspielraum ist klein, ihr Budget von 590 Millionen Franken schrumpft, am gesetzlichen Auftrag ihrer Senderfamilie gibt es nichts zu rütteln: Diese muss informieren, bilden und unterhalten, sie ist gezwungen, Sportübertragungen anzubieten, ebenso wie Kultursendungen. Wappler muss also zusätzliche Gelder freischaufeln für Neues, für die viel zitierte «digitale Transformation» – und folglich noch mehr sparen. Der Status quo jedenfalls ist keine Option mehr.

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Sie hat deshalb eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die vom Finanzchef Guy Luginbühl mitgeleitet wird und zu der Mitarbeitende aus verschiedenen Abteilungen gehören. Unter dem Namen «SRF 2024» brütet das neunköpfige Kernteam neue Ideen aus. Erste Ergebnisse sollen bald präsentiert werden. Und diese werden bestimmt nicht alle glücklich machen. Das weiss auch die Chefin: «In der Bewegung verliert man immer etwas, weil man etwas loslassen muss, aber man gewinnt auch etwas», sagt sie. «Es entstehen neue Möglichkeiten, von denen man heute noch gar nicht weiss, dass sie existieren.»

Die SRG finanziert sich zu 77 Prozent aus Gebührengeldern, also aus den 365 Franken, die jeder Haushalt jährlich zahlen muss, und den Abgaben der Unternehmungen. Der Rest der Einnahmen stammt aus Sponsoringverträgen, Programmverkäufen, Erträgen aus Koproduktionen – und insbesondere aus der TV-Werbung. Allerdings wird dieser Beitrag Jahr für Jahr kleiner, weshalb nicht wenige Branchenbeobachter davon ausgehen, dass die Werbung im Fernsehen früher oder später ganz verschwinden wird.

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Eine ungemütliche Situation für die SRG und ihre Unternehmenseinheiten wie Wapplers SRF. Erste Politiker wollen deshalb den Gebührendeckel anheben. SP-Nationalrat Matthias Aebischer etwa plädiert dafür, den Plafond bei 1,5 Milliarden Franken zu fixieren und im Gegenzug die SRG mit einem Werbeverbot zu versehen. Auch andere Politiker aus dem linken, grünen und Mitte-Lager denken laut über eine Erhöhung der Haushaltsabgabe nach.

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Der Bundesrat überprüfe ohnehin im laufenden Jahr die Situation sowie die festgelegte Abgabenhöhe für Haushalte, heisst es aus dem Departement von Medienministerin Simonetta Sommaruga. Im Rahmen dieser Analyse würden nun auch die «Forderungen nach Erhöhung oder Senkung des Plafonds» evaluiert. Denn es gibt auch Politiker, die der SRG Geld wegnehmen wollen: etwa der frühere BDP-Nationalrat Bernhard Guhl. Er fordert, dass der Deckel sukzessive auf eine Milliarde Franken gesenkt wird. SVP-Nationalrat Gregor Rutz wiederum wollte alle Firmen von der Radio- und Fernsehabgabe befreien, scheiterte aber am Veto im Ständerat. Fabio Regazzi, sein Ratskollege von der CVP, plädiert nun in einem abgeschwächten Vorstoss für eine Ausnahme für Firmen mit weniger als 250 Angestellten. Und die «No Billag»-Promotoren drohen mit der nächsten Initiative.

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Erfolgreicher Wahltag für SRF

Wappler bleibt nichts anderes übrig, als den Wert des Service public herauszustreichen, am besten mit konkreten Beispielen. Besonders stolz ist sie etwa auf die SRF-Mammutsendung zu den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober 2019. Sie sieht darin ein Beispiel, wie Fernsehen, Radio und Online künftig zusammenarbeiten können.

Insgesamt erreichte die TV-Wahlberichterstattung auf SRF 1 am Wahlsonntag in der Deutschschweiz zwischen Mittag und Mitternacht 2,27 Millionen Interessierte. Online knackte SRF am Wahltag im News-Bereich erstmals die Millionenmarke und registrierte eine rekordhohe Zugriffszahl von knapp 1,4 Millionen Besuchen. Im Schnitt verfolgten rund 362 000 Zuschauerinnen und Zuschauer am Fernsehen die Elefantenrunde mit den Parteipräsidenten. Wappler selbst war an diesem Sonntag im Bundeshaus live dabei, stand aber mit Gilles Marchand im Hintergrund.

Am Wahlabend sahen 869 000 Personen die «Tagesschau», im Schnitt sind es 589 000, was einem Marktanteil von knapp 50 Prozent entspricht. Noch mehr als fürs Tagesgeschehen interessieren sich die Deutschschweizer fürs Wetter. «Meteo» kommt auf durchschnittlich 631 000 Zuschauer. Bei diesen Zahlen handelt es sich um Angaben, wie oft im Schnitt jede einzelne «Tagesschau» respektive «Meteo»-Sendung ganz angeschaut wird – von Anfang bis Ende.

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80 Prozent schauen Sendungen, wenn sie ausgestrahlt werden

Trotz all den verschiedensten Replay-Möglichkeiten schauen sich immer noch rund 80 Prozent des SRF-Fernsehpublikums die Sendungen linear an, also dann, wenn sie auch ausgestrahlt werden. Das heisst im Umkehrschluss: Nur gerade 20 Prozent schalten sich zeitversetzt ein – kurz später oder irgendwann in den folgenden sieben Tagen nach der Erstausstrahlung. Bei «Tagesschau» und «Meteo» dürfte dieser Wert wie bei Skirennen oder Fussballspielen noch deutlich tiefer liegen: Sport und News werden «live» konsumiert.

Aussagekräftige Angaben, wie viele Menschen nun wirklich um Punkt 19.30 Uhr SRF 1 oder SRF info einschalten, gibt es aber nicht. «Sehr viele Leute lassen sich nach wie vor von uns durch den Tag begleiten, wir erreichen mit unseren Radiosendern rund 2,5 Millionen Menschen pro Tag», sagt Wappler. «Und die ‹Tagesschau› um halb acht bleibt für viele noch immer eine Art Zäsur, ein Fixpunkt zwischen Nachtessen und Abendprogramm.»

Es ist diese Gleichzeitigkeit, die SRF – wie allen Medienhäusern – das Leben schwer macht. Das Wissen, dass sich Seh-, Hör- und Lesegewohnheiten mit der Digitalisierung fundamental ändern, ein Grossteil des Publikums aber dennoch am Bewährten festhält – und dies vermutlich noch sehr lange tun wird. Auch wenn es die Digitalisierungspropheten anders sehen: Es werde auch in zehn Jahren noch lineares Fernsehen geben, ist Wappler überzeugt, doch «der zeitversetzte Konsum wird enorm zunehmen».

Daraus leitet sich die Frage ab, über welche Kanäle und Plattformen die SRF-Inhalte in Zukunft vertrieben werden sollen. Im vergangenen Jahr wurden auf You-Tube, Facebook und Instagram bereits 403 Millionen Starts von SRF-Inhalten registriert – von Dok-Filmen über Webserien wie «True Talk» zu einzelnen Sketchen von «Deville». Diese Zahl dürfte weiter zunehmen, doch grundsätzlich plädiert Wappler dafür, die eigenen Kanäle, die eigenen Marken sowie die eigene Mediathek zu stärken, anstatt sich nur auf Drittplattformen zu verlassen. Zu gross sei die Gefahr, die eigene Identität zu verlieren oder sich plötzlich in einem falschen Umfeld wiederzufinden. Grosse Hoffnung setzt sie deshalb in die neue Audioplattform, die seit letztem Herbst online ist, sowie die angekündigte hauseigene Streamingplattform.

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«Am Schluss sage ich Ja oder Nein»

Wappler bezeichnet sich selbst als «ausgesprochene Teamplayerin» und betont, dass sie auf die Mitarbeitenden höre. «Wir haben viele Leute mit viel Expertise.» Etwas kritische Distanz zu sich selbst könne nicht schaden. Es sei wichtig, aus der eigenen Filterblase auszubrechen und nicht nur auf die «eigene Echokammer» oder die «eigene Peergroup» zu hören. «Aber ja: Am Schluss sage ich Ja oder Nein.» Und wenn sie sich entschieden habe, «dann gibts nichts zu rütteln», sagen Mitarbeiter. Sei es bei der TPC-Integration, der Audiostrategie oder dem Entscheid, welche Sendungen dem Rotstift zum Opfer fallen.

So hat Wappler aus Spargründen «Arena/Reporter», «Eco Talk» und die «Sternstunde Musik»-Ausgabe vom Montagabend eingestellt. Auch für «Schawinski» ist Ende März Schluss, obwohl es hier nicht einzig ums Sparen ging. Es ist kein Geheimnis, dass die Sendung nicht ihren Qualitätsansprüchen genügte. Nun plant sie eine neue Talksendung mit Urs Gredig, der nach seinem Abstecher zu CNN Money Switzerland wieder zu SRF zurückkehrt.

Auch die Serie «Seitentriebe» hat Wappler nach der zweiten Staffel wieder eingestellt, obwohl sie selbst von ihr begeistert war, wie sie vor einem halben Jahr gegenüber der «Weltwoche» betonte. Das Publikum wars nicht: Nur gerade 176 000 schauten im Schnitt zu, zu wenige für die hohen Produktionskosten von gut 270 000 Franken pro Episode. Besser läuft es bei der Serie «Wilder», deren zweite Staffel im Schnitt rund 600 000 Personen vor die Bildschirme lockt, die Dreharbeiten für die dritte Staffel laufen. Grosse Erwartungen hegt Wappler zudem für die neue Historienserie «Frieden», deren Handlung in der Schweiz nach Ende des Zweiten Weltkriegs angesiedelt ist und die im November ausgestrahlt wird. Diese soll so gut werden wie die MDR-Produktion «Weissensee», welche die SRF-Chefin persönlich sehr schätzt.

Doch der eigene Geschmack zählt nicht. Sie hüte sich davor, nach ihrem eigenen Gusto Programm zu machen. Sonst würde es wohl zu hochkulturlastig, spielt doch Wappler in ihrer Freizeit gerne Klavier, eine Leidenschaft, die sie mit ihrem Ehemann Wolfgang Hagen teilt, der Professor für Medienwissenschaften an der Universität Lüneburg ist. Als ihr Lieblingsbuch gibt sie Ian McEwans «Abbitte» an, ihren Twitteraccount überschreibt sie mit dem Marcel-Proust-Zitat «Versuchen Sie immer, ein Stück Himmel über Ihrem Leben zu haben» aus dem Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», einem literarischen Universum mit 4000 Seiten, das sich eigentlich so gar nicht in den Kurznachrichtendienst pressen lässt.

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«Tatort»– eine Luzerner Leidensgeschichte

Wenn Wappler etwas nicht passt, dann kennt sie kein Pardon. Das hat sie schon als Kulturchefin beim «Tatort» bewiesen. Zehn Jahre stand das Schweizer Fernsehen bei der populären Sonntagabend-Krimireihe abseits. Doch der 2010 angekündigte Wiedereinstieg mit eigenen Produktionen misslang deutlich. Von Anfang an. Wappler, die 2011 die Kulturabteilung übernommen hatte, zog vor der Ausstrahlung des ersten Luzerner «Tatorts» die Notbremse. Zu klischiert und zu holprig, lautete damals ihr Fazit. Sie zwang Regisseur Markus Imboden, den Film zu überarbeiten, und entliess den damaligen Fernsehfilm-Verantwortlichen Peter Studhalter, was ihr den Übernahmen «Fallbeil von Leutschenbach» bescherte. Heute spricht Wappler von einer «turbulenten» Zeit.

Der «Tatort» entwickelte sich zu einer nicht enden wollenden Leidensgeschichte, die SRF regelmässig miserable Kritiken und den deutschen und österreichischen Partnern vergleichsweise tiefe Quoten bescherte. Als im Frühjahr 2018 das Ende öffentlich angekündigt wurde, sprach die «NZZ» von einem «Gnadenschuss». Den Übungsabbruch eingeleitet hatte Kulturchefin Wappler vor ihrem Weggang nach Deutschland. Nach ihrer Rückkehr als neue SRF-Chefin musste sie nur noch die letzten beiden Folgen ausstrahlen. Wichtiger ist ihr aber der Neustart mit einem neuen «Tatort»-Ermittlerteam aus Zürich. Soeben wurden die Dreharbeiten für die zweite Episode beendet, ausgestrahlt wird aber heuer nur die erste, und zwar im Oktober. Auch das eine Sparmassnahme.

Diesmal muss Wappler zufrieden sein, denn nun ist sie mitverantwortlich. Sie hat die verschiedenen Castings gesehen und letztlich ihr O.K. gegeben für das Kommissarinnen-Duo Anna Pieri Zuercher und Carol Schuler. So wie auch alle anderen wichtigen Personalentscheide über ihren Tisch gehen – von der Ernennung von Sandro Brotz zum «Arena»-Moderator über die Rekrutierung von Fabienne Bamert für den «Samschtig-Jass», die vom privaten Lokalfernsehen zu SRF stösst, bis eben zur Rückkehr von Urs Gredig.

Ein Machtwort hat Wappler auch bei den «Late Night»-Shows gesprochen – ein Machtwort gegen das Nicht-Entscheiden, gegen den Parallellauf von zwei Formaten. «Sendeplätze brauchen ein Bekenntnis», sagt Wappler. Sie setzt fortan auf «Deville», das Nachsehen hat Michael Elsener mit seinem «Late Update». Nicht etwa wegen des Drucks aus der FDP-Zentrale, die betupft war, weil sich Elsener immer wieder über die Klimapolitik der Freisinnigen mokiert hatte. Sondern schlicht und einfach, weil sie bei «Deville» klar «mehr Potenzial» ausmacht, wie sie sagt, «auch auf den Social Media, auch bei den Jungen».

Auf dass die junge Generation nach der Ära von Nathalie Wappler wieder vermehrt SRF einschalten möge. Oder wenigstens wieder weiss, wofür die drei Buchstaben stehen.

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