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Erbschaftswälle

Nachlassrekord verschärft den Arbeitskräftemangel

Erbschaften erreichen dieses Jahr 100 Milliarden Franken – ein Rekord. Das hat Folgen für den Arbeitsmarkt. Den Banken winken gute Geschäfte.

Holger Alich

<p>Achtung, Geldflut: Schenkungen und Erbschaften erreichen dieses Jahr ein Rekordvolumen. (Diese Illustration wurde von einem KI-Modell generiert und von einem Menschen überprüft und finalisiert.)</p>

Achtung, Geldflut: Schenkungen und Erbschaften erreichen dieses Jahr ein Rekordvolumen. (Diese Illustration wurde von einem KI-Modell generiert und von einem Menschen überprüft und finalisiert.)

RMS Visuals / Julie Body

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Reto Widmer (Name geändert) war nie auf Rosen gebettet. Der 58-Jährige lebt wie seine Eltern zur Miete. Ein Eigenheim ist für ihn nicht drin. Als Verkäufer in einem Supermarkt verdient er rund 60’000 Franken im Jahr. Mit 58 ist er immer noch alleinstehend, Kinder hat er keine. Plötzlich versterben kurz nacheinander seine Eltern.

Widmer stammt aus einfachen Verhältnissen, daher hat er mit Blick auf den Nachlass keine grosse Erwartung. Und wird überrascht: Denn die Bank eröffnet ihm, dass seine Eltern Bankguthaben und Wertschriften von zusammen 1,3 Millionen Franken besessen haben. Widmer fällt aus allen Wolken. So viel Geld? Davon hat er nie etwas gewusst. Dank dem unverhofft grossen Erbe erfüllt sich Widmer einen Wunsch, den viele Schweizer haben: früher in den Ruhestand gehen. Mit sechzig sagt er seinem Job adieu.

100 Milliarden wechseln den Besitzer

Widmer ist eines von vielen Beispielen der Schweizer Erbengeneration. Diese kann sich auf eine nie da gewesene Welle von Vermögen freuen. Der Ökonom Marius Brülhart schätzt, dass allein in diesem Jahr in der Schweiz die Rekordsumme von 100 Milliarden Franken aus Immobilien, Firmenanteilen, Wertschriften und sonstigen Vermögenswerten durch Schenkungen und Erbschaften auf die nächste Generation übertragen wird. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren sind es erst 63 Milliarden gewesen, wie aus der «Schweizer Erbschaftsstudie 2023» der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hervorgeht, die den aktuellen Wissensstand zu diesem Thema zusammenträgt.

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Dieser Geldtsunami hat Folgen – für die Gesellschaft, aber auch für die Wirtschaft. Zum einen droht die Vererbungswelle die in der Schweiz bereits hohe Vermögenskonzentration zu zementieren und zu verschärfen. Und wachsende Ungleichheit gilt als Sprengsatz für politische Stabilität. Die Erbschaftswelle ist zudem ein Wirtschaftsfaktor. Vor allem für Banken. «Für viele Vermögensverwalter ist das Thema Erben längst von strategischer Bedeutung», sagt Michael Viana, Managing Director in der UBS-Kernsparte Wealth-Management und Spezialist für ganzheitliche Familienberatung. Ein Fokus ist hier die frühe Einbindung der Partnerin. Denn aufgrund der Erbschaftswelle werden Frauen bis 2030 rund zwei Drittel der Haushaltsvermögen besitzen, wie die Unternehmensberatung Capgemini schätzt.

Die Erbschaftswelle hinterlässt zudem Spuren am Arbeitsmarkt, weil sie laut dem Ökonomen Marius Brülhart den Mangel an Arbeitskräften verschärft. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Lausanne arbeitet gerade gemeinsam mit Forschern der ETH an einer wissenschaftlichen Studie zum Thema. Ein Zwischenergebnis: «Die Schweizer Daten zeigen klar, dass in allen Altersgruppen Erbschaften im Durchschnitt zur Folge haben, dass die Menschen ihr Arbeitsangebot reduzieren», sagt Brülhart.

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So wie Reto Widmer. Oder Peter und Karin Fischer (Namen geändert). Er arbeitet als Gymnasiallehrer in Vollzeit, sie hat ein Teilzeitpensum als Assistentin in einer Arztpraxis. Dann erbt Peter Fischer von seinen Eltern die Summe von 400’000 Franken. Kein Riesenvermögen, doch es reicht, dass Peter Fischer kürzertreten kann – der Lehrerjob hat ihn ausgelaugt. Mit 60 Jahren tritt er die Teilpensionierung an und reduziert sein Pensum auf 50 Prozent. Seine Frau arbeitet weiter. Ohne die Erbschaft wäre das nicht möglich gewesen.

Wer erbt, arbeitet weniger

Brülhart hat berechnet, wie stark das Arbeitsangebot auf Erbschaften reagiert. Demnach sinkt das kumulierte Arbeitseinkommen pro 100’000 Franken Erbe über die darauffolgenden fünf Jahre um knapp 3000 Franken. Sprich, zusätzliche 10 Prozent an geerbtem Vermögen reduzieren das Arbeitsangebot im Schnitt um 0,5 Prozent. «Diese Reaktion ist besonders ausgeprägt bei Frauen um die 40 sowie bei Männern und Frauen über 55», sagt Brülhart.

Erben

«Wegen Erbschaften reduzieren Menschen ihr Arbeitspensum»

Der Lausanner Volkswirtschaftsprofessor untersucht die Folgen der Erbschaftswelle. Und sorgt sich um die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Der Lausanner Ökonom gilt als einer der Topexperten in der Schweiz zum Thema Erbschaften. Seine Ergebnisse decken sich mit einer Studie aus Schweden, die die Ökonomen Arash Nekoei und David Seim durchgeführt haben: Demnach reduzieren Erben ihr Arbeitspensum im ersten Jahr nach Erhalt der Erbschaft um durchschnittlich 1 Prozent.

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Kommt der Trend bereits in den Personalabteilungen an? Eine Umfrage bei Grosskonzernen wie Roche, Post, SBB und Migros führt ins Nichts. Denn ob jemand geerbt hat und sich deswegen die Frühpensionierung leisten kann, wird nicht erfasst. Laut SBB ist der Anteil der Beschäftigten, die in Teilzeit arbeiten, gestiegen. Ob dies mit Erbschaften zu tun hat, ist aber nicht bekannt, so ein Sprecher.

Auch bei den befragten Banken ist das Thema bisher kein Massenphänomen. «In der Beratungspraxis erleben wir vereinzelt, dass jemand dank einer Erbschaft früher in Pension geht», die Fälle seien aber selten, sagt Karl Flubacher, Geschäftsleiter Nordwest- und Westschweiz beim Vorsorgeberater VZ. «Wir raten davon ab, erwartete Erbschaften in die eigene Pensionsplanung einzuberechnen. Denn die Höhe der Erbschaft kann sich deutlich verringern – etwa wenn bei einem Elternteil später hohe Pflegekosten anfallen.»

80 Prozent wollen in Frühpension

Laut einer Studie der früheren Credit Suisse wünschen sich aber 80 Prozent der befragten Kunden die Frühpensionierung, wenn sie die Möglichkeiten dazu hätten. Und die Chance, früher aufzuhören, steigt nun dank der seit Jahren rollenden Erbschaftswelle. Der Ökonom Hans Kissling hat hochgerechnet, dass bis Mitte 2030 in der Schweiz etwa 178’000 Personen eine Erbschaft von mehr als 1 Million Franken erwartet.

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Kommentar Holger Alich wundert sich über die UBS.

Geldflut mit Nebenwirkungen

Es wird mehr vererbt, als die AHV pro Jahr auszahlt. Die Anreiz- und Verteilungswirkung von Erbschaften ist kritisch zu sehen.

Aber wie kommt diese Geldflut zustande? Die wachsenden Volumen der Erbschaften sind ein Spiegelbild der steigenden Vermögen in der Schweiz. Wo mehr privates Vermögen vorhanden ist, kann mehr vererbt werden. Und mit einer Sparquote von rund 19 Prozent erreichen Schweizerinnen und Schweizer Spitzenwerte. Zudem blieben Schweizer Vermögen von Kriegen und Enteignungen aufgrund sozialistischer Experimente verschont. Letzteres erklärt zum Beispiel, warum im Westen Deutschlands das Durchschnittserbe wesentlich höher ist als in Ostdeutschland.

Immobilien treiben Wert der Erbschaften nach oben

Ein zentraler Vermögenswert in der Schweiz sind Immobilien. Und deren Wert steigt seit längerer Zeit jedes Jahr ungebremst. Hinzu kommt die gut ausgebaute Altersvorsorge, die erlaubt, dass nicht alles Ersparte im Alter aufgebraucht werden muss. Beides führt dazu, dass die Summe der Erbschaften mittlerweile dem Doppelten dessen entspricht, was die AHV jedes Jahr ausschüttet. Teilt man die für dieses Jahr zu erwartende Erbschaftssumme von 100 Milliarden durch die jährlich zu erwartenden Todesfälle von 70’000, so ergibt sich ein durchschnittlicher Nachlass von gut 1,4 Millionen Franken.

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Doch gerade in Sachen Erbschaften sind solche Durchschnittsbetrachtungen trügerisch. Denn sie blenden aus, wie ungleich die Vermögen in der Schweiz verteilt sind. Laut Steuerdaten hält das reichste Prozent der Haushalte über 40 Prozent des gesamten Privatvermögens. Entsprechend konzentriert sich auch die Erbschaftswelle auf einige wenige: Rund 1 Prozent der Erben erhält einen Drittel der gesamten Erbmasse. 10 Prozent bekommen rund drei Viertel.

Zementieren Erbschaften damit also die Ungleichheit in der Schweiz? Ja und nein. Die Antwort auf diese Frage hänge vom Zeithorizont ab, wie Ökonom Brülhart erklärt: «Im Moment des Erbgangs verteilen sich die Vermögen zunächst sogar breiter.» Denn stirbt der letzte Elternteil, verteilt sich der Nachlass meist auf mehrere Kinder. So gesehen würden Erbschaften die Vermögensungleichheit sogar verringern.

In der dynamischen Betrachtung sieht das Bild allerdings wieder anders aus, wie auch die eingangs zitierte Studie aus Schweden zeigt. Vereinfacht ausgedrückt werden kleinere Erbschaften eher konsumiert, beispielsweise durch den Kauf eines neuen Autos – oder eben durch die Reduktion des Arbeitspensums.

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Ein Banker hat dazu ein Extrembeispiel: Ein Kunde mit einem Depot von 5 Millionen Franken war verstorben. Der Banker fuhr zu dessen Witwe und Tochter, um sie über den Nachlass zu informieren. Als ihn das Navigationssystem zur Adresse führte, glaubte er, sich verfahren zu haben: Er stand vor einer hässlichen Mietskaserne. «Als die Frau und die Tochter erfuhren, wie viel Geld sie erben, rasteten sie vollkommen aus», erinnert sich der Banker. Der Mann hatte das Vermögen vor seiner Familie verborgen – bis zu seinem Tod. Ihr ganzes Leben waren sie knapp bei Kasse gewesen, fuhren nie in die Ferien, waren nie im Restaurant. «Mit dem Erbe haben sie all das nachgeholt», so der Banker. «Und die Frau hat ihren Job aufgegeben.»

Anders gehen dagegen vermögende Haushalte mit Erbschaften um, denn sie erhalten meist auch die grösseren Erbschaften. Diese Haushalte konsumieren ihre Erbschaft nicht, sondern nutzen sie, um das eigene Vermögen weiter zu mehren. «In der mittleren Frist ist es daher in der Tat so, dass Erbschaften die Vermögensungleichheit zementieren oder gar verstärken», sagt Brülhart.

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Deshalb sind Erbschaftssteuern immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Ein radikaler Vorschlag der Jungsozialisten hierzu kommt am 30. November zur Abstimmung: Die Initiative fordert, Nachlässe und Schenkungen von mehr als 50 Millionen Franken mit 50 Prozent zu besteuern. Hierbei geht es allerdings weniger um die Verteilungsgerechtigkeit als um den Klimaschutz. Denn die Superreichen seien «verantwortlich für die Klimakrise und zerstören unsere Lebensgrundlagen», wie es auf der Juso-Website zur Begründung des Vorhabens heisst.

Initiative macht Firmeneignern grosse Sorgen

Schon weit vor dem Abstimmungstermin hat die Initiative für erhebliche Unruhe unter Wohlhabenden gesorgt. Gemäss den Ergebnissen einer Umfrage der Unternehmensberatung PwC unter 224 Familienunternehmen würden 78 Prozent der Befragten bei Annahme des Vorschlags einen Wegzug oder eine vorgezogene Vermögensübertragung innerhalb der Familie ins Auge fassen. So könnten am Ende die Wegzüge dazu führen, dass der Staat sogar weniger Steuern einnimmt, wie ein Gutachten von Ökonom Brülhart im Auftrag des Finanzdepartements zeigt.

Unabhängig von der Aufregung um die Erbschaftssteuer-Initiative ist das Thema Erben für Banken längst zum Schlüsselfaktor geworden: «Bereitet eine Bank das Thema Nachlass nicht aktiv vor, besteht das Risiko, dass die Kundenbeziehung nach dem Tod des Kunden von den Erben beendet wird», sagt UBS-Experte Viana. «Viele Kunden sind Unternehmer. Die Nachfolge in der Firma haben sie aufgegleist – aber nicht diejenige in ihren sonstigen Vermögensverhältnissen», sagt Peter Raskin, CEO der Privatbank Bergos. Um das heikle Thema Nachlass anzusprechen, sei indes «enormes Fingerspitzengefühl» nötig.

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Wenn in den Beratungsgesprächen das Thema Erbschaft angesprochen wird, müssen aber auch die künftigen Erben miteinbezogen werden. Und Frauen haben bekanntlich eine höhere Lebenserwartung als Männer. Daher gehen Erbschaften in erster Linie an die Witwen. «Frauen halten immer grössere Anteile an den globalen Vermögen, sie fühlen sich aber in der Bankberatung oft missverstanden», sagt Emma Wheeler, die bei der UBS in der Sparte Vermögensverwaltung das Programm «Women’s Wealth» verantwortet. Laut einer Studie von McKinsey wechseln daher 70 Prozent der Frauen ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes die Bank.

Banken müssen anders beraten

Um die Partnerinnen rechtzeitig einzubeziehen, hat die UBS ein eigenes Schulungsprogramm aufgesetzt. Mittlerweile wurden weltweit 900 Kundenberaterinnen und -berater geschult. «Wir wollen nicht die Frauen ändern, sondern die Finanzindustrie», sagt Wheeler. In der Anlageberatung hätten Frauen andere Prioritäten, «sie verlangen in der Regel eine umfassende Vertrauensbeziehung, die sich auf das Erreichen von Lebenszielen fokussiert».

Die Banken versuchen zudem, auch die Kinder vermögender Kunden frühzeitig an Bord zu holen. So hat die Bank Bergos eigene Communitys ins Leben gerufen, in denen sich die Vertreter der nächsten Generation unter Gleichgesinnten zu Themen wie Anlage oder Unternehmertum austauschen können. Denn weil die Menschen immer älter werden, werde beim Nachlass mittlerweile auch mal eine Generation übersprungen, erzählt Banker Raskin.

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Bei Reto Widmer ist das anders, denn er hat keine Kinder. Und mit seinem Erbe von gut 1 Million Franken ist er für Privatbanken kein lohnendes Ziel. Dafür geniesst er einen vorgezogenen Ruhestand. Und gönnt sich ein kleines bisschen Luxus: Er ist in eine grössere Wohnung mit 3,5 Zimmern gezogen.

Der Volkswirtschaftsprofessor Marius Brülhart lehrt und forscht an der Universität Lausanne unter anderem zur Finanzpolitik, zu Steuern und zu Ungleichheit. Dabei beschäftigt er sich zum Beispiel auch mit dem Thema Erbschaften und deren ökonomischen Folgen.

Über die Autoren
Holger Alich

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