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Kolumne Makro: Kreatives Manko

Warum kultivieren wir nicht den Mangel und freuen uns an dem, was wir nicht haben? Ein Plädoyer für die Knappheit.

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Eine der grössten Sorgen in der Geschäftswelt ist es, Situationen von Knappheit zu vermeiden. Beim Auftauchen potenzieller Defizite, bei drohender Unterversorgung und dem Verdacht auf Angebotsengpässe jeglicher Art reagiert die Mehrzahl der Wirtschaftssubjekte mit Angstschweiss. Ganz allgemein treiben Mangelsituationen den Homo oeconomicus zur Verzweiflung.

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Dabei trägt vieles, was wir im Verlauf unseres Erwerbslebens tun, zum Entstehen von Knappheitssituationen bei und sorgt damit, ökonomisch betrachtet, für Armutsverhältnisse. Immer öfter scheint es zu passieren, dass wir in unserem angestrengten Kampf gegen die Knappheit eine höhere Form des Mangels erzeugen: Defizite an Lebensqualität machen sich bemerkbar.

Eingebunden ins Räderwerk einer Fünftagewoche, hecheln die meisten von uns zeit ihres Lebens den Weg der materiellen Bereicherung entlang und werden dabei ? trotz Reizüberflutung und verbreitetem Übergewicht ? niemals wirklich satt. Schlimmer noch: Dadurch, dass wir in ständiger Sorge um unser materielles Wohl gegen vermeintliche Versorgungslücken anrennen, verschwenden wir die beschränkte Lebenszeit und ein endliches Reservoir an Talent und schöpferischer Energie.

Warum drehen wir den Spiess nicht einmal um und messen Reichtum an dem, was wir nicht haben? Keine Karriereleiter, die es um jeden Preis zu erklimmen gilt. Keinen Status spendenden Achtzylinder in der Garage. Kein Feriendomizil an der Côte. Weniger Hektik. Kein Herzinfarkt. Zu den immateriellen Gütern, die unser Leben bereichern könnten, gehört ein Zuwachs an Redlichkeit. Machen wir uns nichts vor: Kommt Diebstahl in unserer Alltagsrealität nur deshalb nicht vor, weil wir uns in gegenseitigem Einvernehmen nicht als Diebe bezeichnen? Wohl kaum.

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Eine Gesellschaft, die Knappheit bei augenfälliger Überproduktion zum Dogma erhebt, darf sich nicht wundern, wenn sich im Rahmen dieser Ideologie auch widerrechtliche Transaktionen zum integralen Bestandteil entwickeln. Schon kleine, vermeintlich harmlose Schummeleien ? nur zu gern tun wir diese als Charakterschwäche ab ? wirken auf das Anreizsystem in einer Marktwirtschaft zersetzend. Wird indessen versucht, die Spitzengehälter von ein paar raffgierigen Topmanagern zum Massstab einer vermeintlichen Angebotslücke zu verklären, so erhebt man die Abzockerei dadurch in den Rang einer
Wissenschaft.

Resultat unserer kollektiven Fixierung auf den Mangel ist eine Art «Antireichtum», eine gestörte Balance zwischen Gier und Verzicht, die ihren Ausdruck in einer Vielzahl von Kompensationsstrategien findet. Man denke nur an all die Ressourcen, die von Wirtschaftssubjekten rund um den Globus investiert werden, um mit selbstzerstörerischen Tendenzen, fehlendem Selbstwertgefühl, Langeweile, Depression oder emotionaler Armut umzugehen.

Vor dem Hintergrund solcher Limitierungen vermag es tröstlich zu sein, wenn wir uns gelegentlich vor Augen halten, dass es zwischen Himmel und Erde kaum etwas gibt, das zu besitzen sich langfristig lohnt. Vielleicht gehört der Luxus, sich für ein paar Stunden vom Prozess der kollektiven Knappheitsbewältigung abzukoppeln und das Mobiltelefon ausgeschaltet zu lassen, am Ende dazu.

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In unserem steten Bemühen um Existenzsicherung versäumen wir es allzu oft, zu differenzieren, von welchem Konto wir etwas «abbuchen». Und viel zu selten machen wir uns klar, dass es unter Knappheitserwägungen womöglich vorteilhafter wäre, von gewissen Kostbarkeiten ? Gesundheit, intakter Umwelt, Seelenfrieden ? weniger zu verbrauchen. Mit anderen Worten: Es wäre oftmals klüger, naturgegebene Reichtümer in ihrer ursprünglichen Form zu belassen, anstatt diese in nichts zu verwandeln.

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