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Jean-Paul und Martine Clozel greifen nochmals an: Doch anders als Actelion soll Idorsia ein langfristig unabhängiges Unternehmen bleiben.
Florence Vuichard
Architekturliebhaber: Martine und Jean-Paul Clozel im Treppenhaus ihres zweiten Idorsia-Laborgebäudes, eines Baus der Architekten Herzog & de Meuron.
Remo Buess für BILANZWerbung
Allschwil, Hegenheimermattweg 91. Der weisse, rechteckige Bürobau ist leicht zu übersehen, ganz im Gegensatz zum auffälligen Actelion-Hauptsitz gleich nebenan, einer Herzog-&-de-Meuron-Komposition aus aufeinandergestapelten, verglasten Balken.
Es waren Martine und Jean-Paul Clozel, die den extravaganten Fremdkörper in diese gesichtslose Gewerbestrasse haben stellen lassen. Vor knapp drei Jahren haben sie sich wieder davon getrennt, um im besagten unspektakulären älteren Actelion-Gebäude mit Idorsia nochmals neu anzufangen. Die kleine Rakete oben auf der Fassade gibt schon mal die Richtung vor, wohin die Reise mit der zweiten Firma führen soll: hoch hinaus.
Dieses Ziel haben die Clozels mit Actelion bereits einmal erreicht. Stolze 30 Milliarden Dollar blätterte Johnson & Johnson 2017 hin, um das vom Ärzteehepaar 1997 gegründete Biotechunternehmen zu schlucken. Das ist einer der teuersten Firmenkäufe der letzten zehn Jahre mit Schweizer Beteiligung.
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Die Erwartungen an das zweite Unternehmen der Clozels sind dementsprechend gross, die Wetteinsätze hoch: Die Idorsia-Titel gehörten im vergangenen Jahr mit einem Plus von über 80 Prozent zu den Gewinnern des hiesigen Aktienmarktes. Und sie haben seitdem weiter zugelegt.
Idorsia schlägt auf dem Börsenparkett auch alle Vergleichsindikatoren – und zwar um ein Mehrfaches. Der Druck sei diesmal fast grösser als bei Actelion, betont Jean-Paul Clozel. «Wenn man nichts hat und scheitert, sagen alle: ‹Das war ja zu erwarten.› Wenn man aber schon viel erreicht hat und dennoch scheitert, ist der Fall für alle klar: Dann werden alle uns die Schuld geben und sagen, wir hätten Fehler gemacht.»
«Idorsia soll kein Remake von Actelion werden, sondern eine Fortsetzung mit neuem Ende. »
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Bis jetzt haben die Clozels alles richtig gemacht – und alles zusammen, seit sie sich beim Medizinstudium in Nancy kennengelernt haben: Gemeinsam gingen sie zu Weiterbildungszwecken nach Kanada und in die USA, arbeiteten als Kardiologe respektive Kinderärztin und Spezialistin für Frühgeburten und wechselten dann gemeinsam in die Forschung, gemeinsam gingen sie zu Roche nach Basel – und dann in die Unabhängigkeit.
Was sie verbindet, sind Mut, Ausdauer, Geduld, gegenseitiger Respekt und Vertrauen, wie sie festhalten. Und die Liebe zur Wissenschaft sowie als Ärzte der Antrieb, Antworten zu finden auf medizinische Bedürfnisse.
Die Rollen sind klar verteilt: Martine Clozel agiert im Hintergrund, leitet die Forschungsabteilung, Jean-Paul Clozel tritt gegen aussen auf, führt das operative Geschäft der Firma, stellt sich der Presse und den Aktionären.
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Oder in den Worten von Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der die beiden kennt, weil sein Sohn mit einer der Töchter der Clozels studiert hat: «Sie ist die Tüftlerin, das wissenschaftliche Gewissen der Firma, er übersetzt ihre Befunde in den Markt. Das Resultat ist ein Unternehmerpaar mit einer aussergewöhnlichen Geschichte.»
Der erste Streich: Die Actelion-Startcrew André Mueller, Jean-Paul Clozel, MartineClozel, Walter Fischli und Thomas Widmann (oben v.l.).
ZVGDer erste Streich: Die Actelion-Startcrew André Mueller, Jean-Paul Clozel, MartineClozel, Walter Fischli und Thomas Widmann (oben v.l.).
ZVGBei den grundsätzlichen Fragen sind sich die Clozels einig, sonst aber kommen sie auch mal zu unterschiedlichen Einschätzungen. So ist sie etwa zwischendurch etwas bestimmter und zuversichtlicher, was die Entwicklung eines Medikaments angeht, er etwas skeptischer – vielleicht auch deshalb, weil er sich als Firmenchef um viele operativen Fragen kümmern muss. «Aber letztlich bekommt Martine meistens recht», sagt er und schmunzelt.
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Die Clozels starten mit Vorschusslorbeeren in ihre zweite Selbstständigkeit. Doch Idorsia soll kein Actelion-Remake werden, sondern eine Fortsetzung, und zwar eine mit einem anderen Ende.
Schliesslich ist diesmal so ziemlich alles anders als vor 20 Jahren: Diesmal starteten sie mit einer gut gefüllten Forschungspipeline, rund 650 Angestellten, zwei Gebäuden mit modernen Labors sowie einem Unternehmenskapital von einer Milliarde Franken, einer Art Mitgift von Johnson & Johnson. Und sie wurden von Anfang an von einem eingespielten Managementteam begleitet, einem mit einem «Track Record», wie Bruno Milesi von der Vermögensverwaltung Milesi Asset betont, «der Erfolge vorweisen kann».
Und diesmal haben die Clozels Vorkehrungen getroffen, um langfristig unabhängig zu bleiben und sich nicht wieder von aktivistischen Investoren in die Enge treiben zu lassen. Sie haben den Grossteil der rund 1,5 Milliarden Franken, die sie für ihr Fünf-Prozent-Actelion-Paket erhalten hatten, wieder investiert und gut 28 Prozent an Idorsia gekauft.
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Eine Lehre aus der Vergangenheit: «Ich habe zwei Jahre lang mit dem Hedgefonds Elliott auf dem Buckel verbracht», sagt Jean-Paul Clozel. «Ich will nicht, dass uns das nochmals passiert. Nie wieder.» Der Hedgefonds kritisierte so ziemlich alles: das selbstsichere Auftreten der Clozels, obwohl diese nur noch einen kleinen Anteil an Actelion hielten, den aus seiner Sicht unnötig luxuriösen Firmenhauptsitz, den Umstand, dass die neuen Medikamente zu lange auf sich warten liessen – und den damals eher enttäuschenden Börsenkurs.
Der zweite Streich: Jean-Paul und Martine Clozel wollen mit Idorsia die Fortsetzung von Actelion schreiben.
Remo Buess für BILANZDer zweite Streich: Jean-Paul und Martine Clozel wollen mit Idorsia die Fortsetzung von Actelion schreiben.
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Den Kampf gegen Elliott haben die Clozels gewonnen, Actelion haben sie im Sommer 2017 dann trotzdem verloren. «Wir haben nicht verkauft, wir wurden gekauft!», betonen beide unisono. «Wir wollten nicht verkaufen.»
Ihren Widerstand haben sie aus zwei Gründen aufgegeben: Weil der Preis schlicht und einfach zu hoch war, als dass der Verwaltungsrat unter dem damaligen Actelion- und heutigen Idorsia-Präsidenten Jean-Pierre Garnier das Angebot von Johnson & Johnson noch hätte ablehnen können; und weil sie die Möglichkeit erhielten, Idorsia zu gründen. Es ist ihre zweite Chance: wieder in Allschwil, wieder im Quartier, wo alles anfing. Oder jedenfalls fast.
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Der Grundstein für Actelion wurde schon zwei Jahre vor dem Eintrag ins Handelsregister gelegt, ein paar Kilometer weiter westlich, in der Garage der Clozels, einem einfachen Raum ohne Möbel und mit Naturboden.
Sie arbeiteten zu Randstunden und waren zu viert: das Ehepaar Clozel, der Kardiologe Thomas Widmann, der erste Chef von Actelion, der im Sommer 2019 nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben ist, sowie der Biochemiker Walter Fischli, der seit der Pensionierung 2012 mit seiner Walter-Fischli-Stiftung Talente und Forschungsprojekte am Schnittpunkt von Musik und Wissenschaft fördert und mit seiner Altos Venture Jungunternehmen mit Startkapital und Wissen zur Seite steht. «Wir vier haben uns gut ergänzt, haben uns gegenseitig unterstützt. Und wir haben uns sehr gut verstanden», erinnert sich Martine Clozel.
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Vier Freunde mit grossen Plänen. Es war der Start einer «aufregenden» Geschichte: «Wir konnten alles selber machen, von Grund auf», sagt Martine Clozel, «from scratch.» Start- up-Romantik wie im Bilderbuch, doch auch «ein Schock», wie Jean-Paul Clozel ergänzt. Ein Sprung vom wohlbehüteten Dasein im Grosskonzern mit allen Annehmlichkeiten und Sicherheiten ins «kalte Wasser der Unabhängigkeit».
Preisträger: 2008 erhält Jean-Paul Clozel den Preis als «World Entrepreneur Of The Year» von EY.
ArchivPreisträger: 2008 erhält Jean-Paul Clozel den Preis als «World Entrepreneur Of The Year» von EY.
ArchivDie vier kannten sich von ihren gemeinsamen Forschungsjahren in der Herz-Kreislauf-Abteilung bei Roche. Sie taten sich aber zunehmend schwer mit ihrer Position im Grossbetrieb, die Unzufriedenheit nahm zu.
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Der Konzern hatte einen neuen Forschungschef geholt, der Bereich wurde neu strukturiert, ihr Arbeitsfeld zurückgestuft. Die Forscher verbrachten bald mehr Zeit damit, ihre Projekte vor irgendwelchen Firmengremien zu rechtfertigen, als für ihre Projekte selbst zu arbeiten. «Da haben wir uns gesagt: Es hat keinen Sinn zu versuchen, Roche zu ändern – wir müssen uns ändern», sagt Jean-Paul Clozel. Gesagt, getan.
1997 gründeten die vier Actelion, wandten sich an Roche und hofften auf einen finanziellen Zustupf. Doch der designierte Roche-Chef Franz Humer winkte ab. «Er hat uns gesagt, es sei besser, wenn wir frei seien», erinnern sich die Clozels. Und so hat Roche keinen einzigen Franken in Actelion investiert.
Auch sonst wollte zu Beginn niemand so richtig Geld aufwerfen. Jean-Paul Clozel räumt ein, dass sie alle eigentlich keine Ahnung gehabt hätten, wie man so etwas anpackt. Wohl auch deshalb holten die Forscher als fünften Mann einen Finanzexperten an Bord: André Mueller. Bis dahin hatte Jean-Paul Clozel einige «schlaflose Nächte», wie er sagt. Auch wegen ihrer privaten Situation: Die Clozels waren zwei ziemlich komfortable Roche-Löhne gewohnt und hatten plötzlich gar nichts mehr. Und das mit drei Kindern im Teenageralter. «Es war Borderline.»
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«Bei Netzwerkanlässen der Schweizer Wirtschaft trifft man das Ärztepaar selten an. »
1997 zogen die Jungunternehmer nach Baselland, genauer nach Allschwil, in die mit heute gut 21 000 Einwohnern grösste Ortschaft im Kanton, eingeklemmt zwischen Frankreich, Basel-Stadt und drei kleineren Baselbieter Gemeinden.
Die Wahl ergab sich aus Walter Fischlis Joggingroute: Diese führte durchs Allschwiler Gewerbequartier, wo er jeweils an einem leer stehenden Gebäude vorbeikam, das sich als Actelions erstes Domizil anbot und sich dann zum Innovationszentrum entwickelte. Ein Glücksfall für die Gemeinde: Das Biotechunternehmen legte den «Grundstein für den Aufbau des Life-Sciences-Clusters mit vielen hoch qualifizierten Arbeitsplätzen», wie die Gemeindepräsidentin Nicole Nüssli betont.
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In der Folge sind weitere Firmen zugezogen, die Einwohnerzahl ist gewachsen, das Steuersubstrat ebenfalls, Investitionen wurden getätigt – etwa in ein neues Schulhaus oder in den Strassenbau. Allschwil ist zum grössten Einzahler in den innerkantonalen Finanzausgleich aufgestiegen. «Ohne Actelion wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen», sagt Nüssli.
Eine Entwicklung, die auf dem 75 000 Quadratmeter grossen Land des Bürgerspitals Basel-Stadt, wo bis vor nicht zu langer Zeit noch Schrebergärten waren, weitergeht: Das Schweizerische Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) war die erste Institution, die hier einen Neubau errichtete. Viele weitere folgten, etwa der Ableger des Innovationsparks in der Nordwestschweiz. Marcel Tanner, langjähriger Swiss-TPH-Direktor und Präsident der R. Geigy Stiftung, spricht von einem «Kristallisationspunkt» – mit biomedizinischer und medizintechnischer Grundlagenforschung, Start-ups, Kompetenzzentren und Firmenwie Actelion und Idorsia, aber auch Polyphor oder Abbott.
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Innert 20 Jahren sei der dörfliche Charakter aus dem Gewerbegebiet Hegenheimermattweg in Allschwil verschwunden, sagt Nüssli, «heute herrscht hier ein ganz anderer Groove». Und die Gemeindepräsidentin setzt grosse Hoffnungen auf Idorsia.
Denn nur dank dieser Neugründung konnten die rund 700 Jobs in der Forschung und Entwicklung in der Region gehalten werden. Johnson & Johnson jedenfalls hatte in der Folge der Actelion-Übernahme nicht wirklich ein Interesse daran, eine weitere Forschungsstätte zu betreiben, wie Jean-Paul Clozel betont. Was der US-Konzern wollte, waren die drei profitablen Medikamente Opsumit, Zavesca und allen voran der Blockbuster Tracleer. Deren globale Absatzzahlen dürften dank der Verkaufsmacht von Johnson & Johnson noch weiter steigen, schätzt Vermögensverwalter Bruno Milesi.
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1955 Jean-Paul Clozel und Martine werden in Frankreich geboren. Sie kommen beide aus dem Nordosten Frankreichs, sie aus einer Forscherfamilie, er aus einer Familie von Kleinhändlern.
1975 Beide gehen zum Medizinstudium an die Universität von Nancy, wo sie sich kennenlernen. Er wird Kardiologe, sie Kinderärztin und Spezialistin für Frühgeburten. Beide absolvieren Weiterbildungen in Kanada und den USA.
1980 Die Clozels kommen zurück nach Europa und arbeiten auf ihrem jeweiligen Fachgebiet als Ärzte.
1984 Fokussierung auf Forschung: Sie gehen als Postdocs zurück an die University of California in San Francisco.
1985 Der Pharmakonzern Roche stellt Jean-Paul und Martine Clozel in seiner Forschungsabteilung ein. Das Paar zieht mit seinen mittlerweile drei Kindern in den Grossraum Basel.
1997 Gründung von Actelion zusammen mit Walter Fischli und ThomasWidmann.
2000 Börsengang von Actelion.
2008 Martine Clozel erhält den höchsten französischen Orden, den «Chevalier dans l’Ordre de la Légion d’Honneur» für ihre wissenschaftlichen Leistungen. Im gleichen Jahr erhält Jean-Paul Clozel den EY-Preis «World Entrepreneur Of The Year».
2017 Actelion-Übernahme durch Johnson & Johnson. Als Spin-off gründen die Clozels Idorsia. Sie bringen das Jungunternehmen gleich an die Börse, sichern sich aber gut 28 Prozent der Aktien. Johnson & Johnson ist mit rund 9 Prozent beteiligt.
2018 Martine Clozel erhält einen Ehrendoktor von der ETH Lausanne (EPFL).
Die Clozels leben heute im Kanton Baselland, unweit vom Allschwiler Gewerbequartier. Nur gut zehn Minuten dauert ihr Arbeitsweg mit dem Velo. Seit 2014 haben die beiden nebst dem französischen auch einen Schweizer Pass. Bei den Skirennen, die Martine Clozel so gerne schaut, drückt sie den Fahrern und Fahrerinnen beider Nationen die Daumen; beim Fussball hingegen schlägt ihr Herz weiterhin für «Les Bleus». Privatreden die Clozels Französisch, in der internationalen Forscher-Community Englisch, Deutsch brauchen sie nicht. Dieses sei auch äusserst mangelhaft, wie sie beide lachend zugeben.
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Unverständlich sind ihnen auch die Gepflogenheiten der direkten Demokratie, mit all den Initiativen, Vorschlägen und Gegenvorschlägen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, über die hierzulande alle paar Monate abgestimmt wird. Es liegt an den verklausulierten Fragestellungen mit Zwei- oder gar Dreifachverneinungen, aber auch an den hiesigen Eigenheiten, die für Leute, die in Frankreich aufgewachsen sind, wo alles zentralistisch in der Hauptstadt entschieden wird, ziemlich rätselhaft bleiben.
Mit Kopfschütteln jedenfalls beobachten die Clozels etwa die vielen Doppelspurigkeiten der zwei Basel und wundern sich über die «harte Grenze» zwischen den beiden Halbkantonen, die 1832 durch die Abspaltung der Landgemeinden entstanden sind. Damals war dies eine Antwort auf die Dominanz der noch aristokratisch regierten Stadt, heute bleiben nur noch die Animositäten. Jedenfalls scheiterten sämtliche Versuche zur Wiedervereinigung, zuletzt im Herbst 2014, als der Landkanton die Fusionsinitiative mit 68 Prozent ablehnte.
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Bei allen wichtigen Life-Sciences-Events sind die Clozels dabei, und sie wirken auch immer wieder als Sponsoren, wie Marcel Tanner anerkennend festhält. Bei den üblichen Netzwerkanlässen, wo sich viele Exponenten der Schweizer Wirtschaft gerne tummeln, trifft man das Ärztepaar hingegen seltener an. Johann Schneider-Ammann, der als Wirtschaftsminister an vielen solchen Treffen teilgenommen hat, sagt, dass er sie wohl kaum kennengelernt hätte, wenn es die Verbindung über ihre Kinder nicht gegeben hätte. Er habe ihnen dann später ein Mandat in einem Gremium angeboten, doch sie hätten abgelehnt mit der Begründung, sie müssten sich fokussieren. «Das ist wohl auch Teil ihres Erfolgsrezepts», sagt Schneider-Ammann, «man sollte nicht auf zu vielen Hochzeiten tanzen.»
Viele haben von ihnen gehört, die wenigsten kennen sie persönlich. In der Tat mischt sich das Ärztepaar kaum ein ins lokale, soziale oder politische Leben. «Wir arbeiten viel», sagt Martine Clozel. Das hohe Arbeitsethos ist auch jene Qualität, die Jean-Paul Clozel an der Schweiz fast am besten gefällt. «Arbeit ist hier ein Wert; die Leute arbeiten gerne», sagt er. «Wir haben kaum Absenzen, alle leisten vollen Einsatz und schauen auch mal an einem Wochenende im Labor vorbei.» Lob gibts auch für den sozialen Frieden, für die vergleichsweise effizienten Behörden, die guten Universitäten und das grundsätzlich wirtschaftsfreundliche Klima. «Wir sind sehr dankbar.»
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Die Geschichte von Actelion, betonen sie, sei nur in der Schweiz möglich gewesen, präziser: nur im Grossraum Basel. Einer Region, in der dank der Geschichte von Roche und Novartis ein besonderes Mikroklima herrsche. Hier gebe es eine lange Geschichte von Innovation, Basel sei die Stadt der Intellektuellen, die Stadt des Theologen und Humanisten Erasmus von Rotterdam. Hier sei das Epizentrum der pharmazeutischen Chemie – «es ist in der Luft, in der Atmosphäre», sagt Martine Clozel. Hier sprechen alle die gleiche wissenschaftliche Sprache, hier versteht man sich. Und hier kommen die gesuchten Fachkräfte gerne hin, weil sie vor Ort bei Bedarf auch den Arbeitgeber wechseln können. Ein Biotop, in dem auch Idorsia gedeihen soll.
Nachbarn: Das Spin-off Idorsia startet in einem früheren Actelion-Gebäude, gleich neben dem spektakulären Actelion-Hauptsitz.
ArchivNachbarn: Das Spin-off Idorsia startet in einem früheren Actelion-Gebäude, gleich neben dem spektakulären Actelion-Hauptsitz.
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34 Nationen vereint das Jungunternehmen unter seinem Dach, rund ein Drittel stammt aus der Schweiz, ein Grossteil kommt aus Deutschland und Frankreich, der Rest aus ganz Europa oder von weiter weg. Noch hat Idorsia kein einziges Produkt auf dem Markt, noch schreibt die Firma rote Zahlen, im vergangenen Jahr belief sich der Verlust auf knapp 500 Millionen Franken. «Pharmazeutische Forschung ist immer mit Risiko verbunden», sagt Martine Clozel. «Man begibt sich auf Neuland, und bis die ersten Resultate vorliegen, braucht es 10, 15, ja zum Teil 20 Jahre.»
Doch Idorsia ist kein richtiges Start-up: Auf dem Papier ist die Firma zwar keine drei Jahre alt, doch sie kann auf 20 Jahre Erfahrung und Forschungsarbeit zurückgreifen, auf 20 Jahre Erfolge und Misserfolge: Denn in der Actelion-Anfangsphase waren die ersten klinischen Resultate negativ, es gab Rückschläge, mehrere sogar. Eine Erfahrung, die Jean-Paul Clozel im Nachhinein als positiv wertet: «Es ist gut zu wissen, was Niederlagen sind.» Und sie gäben einem die Chance, Fehler nicht mehr wiederholen zu müssen.
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«Das erste Idorsia-Medikament soll spätestens im Januar 2022 auf den Markt kommen. »
Wenn alles nach Plan läuft und die klinischen Tests der Phase III erfolgreich abgeschlossen werden können, soll im Dezember 2021 oder spätestens im Januar 2022 das Schlafmittel, das derzeit unter dem generischen Namen Daridorexant geführt wird, auf den Markt kommen. Als erstes Medikament aus dem Hause Idorsia. Elf weitere Präparate stecken in der klinischen Entwicklungsphase (siehe «Grosse Versprechen» unten). Weitere sollen aufgenommen werden, wie Martine Clozel betont.
Idorsias Ausbaupläne werden auch physisch vorbereitet. Die Erweiterung des modernen Laborgebäudes, das wie der Actelion-Hauptsitz aus der Werkstätte ihrer Lieblingsarchitekten Herzog & de Meuron stammt, ist in Planung. Zudem hat sich Idorsia eine weitere Parzelle im Allschwiler Gewerbequartier gesichert. «Reaching out for more», lautet auch unbescheiden die Kernbotschaft des bunten Markenauftritts, zu dem auch die kleine Rakete auf der Hausfassade gehört, die Martine Clozel so gut gefällt.
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In die Gestaltung des Logos flossen all die Charaktereigenschaften, die Idorsia ausmachen sollen: «energiegeladen, kreativ, neugierig, fröhlich, jung, erfrischend, stimulierend, aktiv» – die Clozels kommen aus dem Aufzählen gar nicht heraus.
Bei der Wahl des eigentlichen Namens hingegen war der Spielraum eng und die Zeit knapp. Vor dem für Mitte Juni 2017 geplanten Spinoff musste ein Name her, weshalb die Clozels auf Nummer sicher gehen wollten und auf einen zurückgriffen, den sie sich schon früher gesichert hatten, wenn auch für ein Medikament. Heute erkennen findige Angestellte in Idorsia ein Akronym für «I Do ReSearch In Allschwil».
Das klinische Portfolio von Idorsia umfasst derzeit zwölf Wirkstoffe zur Therapierung von neurologischen, kardiovaskulären und immunologischen Erkrankungen sowie einigen seltenen Krankheiten.
In der Phase III, in der für die Zulassung in Studien die Wirksamkeit ermittelt wird, hat Idorsia vier Wirkstoffe:
• Daridorexant gegen Schlaflosigkeit
• Aprocitentan gegen behandlungsresistenten Bluthochdruck
• Clazosentan zur Prävention gegen Blutgefässverengungen nach einer Gehirnblutung durch Erweiterung der Kopfarterien
• Lucerastat zur Behandlung von Patienten mit Morbus Fabry, einer seltenen, angeborenen Stoffwechselkrankheit In der Phase II, in der die Wirksamkeit getestet wird, hat Idorsia drei Wirkstoffe:
• Cenerimod gegen die immunologische Erkrankung systemischer Lupus erythematodes, die alle Organe befallen kann
• Selatogrel zur Prävention von Schäden infolge eines selbst erkannten akuten Herzinfarkts
• ACT-774312 gegen Nasenpolypen In der Phase I, in der die Verträglichkeit für den menschlichen Körper getestet wird, hat Idorsia fünf Wirkstoffe:
• Sinbaglustat gegen seltene Erkrankungen des zentralen Nervensystems
• ACT-539313 gegen psychische Erkrankungen
• ACT-709478 gegen Epilepsie
• ACT-1004-1239 auf dem Gebiet der Immunologie und Krebsimmuntherapie
• ACT-1014-6470 in der Immunologie
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Bei Actelion war das anders. Damals suchten die Firmengründer bewusst nach einem Namen, der «Dynamik, Drive, Aufbruch und Fortschritt» ausstrahlt. Es war letztlich ihr Sohn, der am Familientisch auf Actelion gekommen sei, wie die Clozels erzählen. 2016 hat Thomas Clozel, ein Onko-Hämatologe und Arzt wie seine Eltern, seine eigene Firma gegründet: Owkin.
Das Start-up hält Büros in Paris und New York und will mittels künstlicher Intelligenz die Forschung verbessern, die Kunden sind Krebszentren und Pharmafirmen in Europa und den USA. Die beiden Töchter absolvierten eine Managementausbildung. Sophie arbeitet heute bei Roche, Sarah hat Archipel Store gegründet, eine Firma für natürliche Kosmetika mit einer Boutique in Genf und einem Onlineshop. Die Anziehungskraft von Pharma und Unternehmertum erfasst offensichtlich die ganze Familie.
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Reden die Clozels über ihre Firmen und ihre Arbeit, dann sprechen sie immer wieder vom «medizinischen Bedürfnis», davon, Antworten zu finden auf medizinische Probleme, von den Patienten, die sie als Ärzte nicht heilen konnten. Ein Umstand, der sie auch nach Rückschlägen zum Weitermachen motiviert habe – bei Actelion ebenso wie bei Idorsia. Es sei «ein Privileg, als CEO anhand von wissenschaftlichen anstatt von unternehmerischen Faktoren Entscheide treffen zu können», sagt Jean-Paul Clozel.
Das heisst: Erstens würden nur Medikamente entwickelt, die auch wirklich ein Bedürfnis abdeckten. Zweitens helfe das wissenschaftliche Wissen bei der Abwägung von Risiken, etwa bei möglichen Nebenwirkungen. Und drittens sei die Grösse des potenziellen Marktes kein entscheidendes Kriterium für die Entwicklung eines Medikaments. Für Idorsia seien auch kleine Märkte interessant, sagt der Chef. «Es ist für einen Wissenschaftler unerträglich, wenn seine Arbeit, an der er zehn Jahre gearbeitet hat, nicht entwickelt wird, nur weil der mögliche Profit als zu klein angesehen wird.»
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Grundsätzlich setzen die Clozels auf Themen, die von der Konkurrenz vernachlässigt werden, wie etwa den Schlaf, zu dem heute nur wenige grosse Firmen forschen. «Zum Teil waren wir Pioniere», sagt Martine Clozel, etwa auf dem Gebiet des Lungenhochdrucks oder bei der Autoimmunerkrankung Lupus. «Als wir hier angefangen haben zu forschen, hat sich niemand darum gekümmert.» Die Frage bleibt, wieso Johnson & Johnson das Ehepaar hat ziehen lassen. «Zu Beginn wollten sie uns behalten», geben die Clozels zu, «aber wirklich nur zu Beginn.»
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Schnell habe sich der US-Konzern überzeugen lassen, dass er durch den Verzicht auf das Forschungslabor vor allem Kosten spare. Und sollte das Idorsia-Experiment glücken, dann profitieren die Amerikaner ebenfalls vom Erfolg. Denn derzeit halten sie eine Beteiligung von 9 Prozent, die sie über eine Wandelanleihe auf bis zu 29 Prozent erhöhen können. «Der Deal war gut für alle», sagt Martine Clozel: für die Aktionäre, für die Angestellten, für die Patienten, für Johnson & Johnson.
Und natürlich für das Unternehmerpaar selbst und ihren Neustart. Und wer weiss, vielleicht lassen sie in Allschwil bald den nächsten Bau von Herzog & de Meuron hochziehen.
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