Guten Tag,
Die Firma krankte an ihrer viel beschworenen Kultur. Jetzt wagen zwei frische Männer den Neustart. Die gebeutelten Aktionäre dürfen hoffen.
Beschleunigter Aufstieg: Nestlé-CEO Philipp Navratil (l.) und der zukünftige VR-Präsident Pablo Isla.
William Gammuto, Getty ImagesWerbung
Es herrscht bekanntlich Ruhe im Auge des Hurrikans. Bei Nestlé scheint sogar die Sonne.
Die Zentrale in Vevey direkt am majestätischen Genfersee, die Spätsommersonne glitzert, der Blick schweift pulssenkend ins Wallis und nach Frankreich. Es ist der Tag nach dem Rücktritt des langjährigen Steuermanns Paul Bulcke. Der Y-förmige Glasbau, von dem Lausanner Architekten Jean Tschumi Ende der 1950er-Jahre konzipiert, wirkt mit seinem lichtdurchfluteten Entrée noch immer überraschend modern. Ein grosser Bildschirm neben dem Empfangsdesk nennt das Tagesprogramm: «Brand Showcase» um 14 Uhr, «Global All Hands» um 15 Uhr, und dann, pünktlich um 16.30 Uhr, der «After Work Apero WellNes». So viel Entspannung muss sein, auch nach dem Abgang des intern beliebten Bulcke. Nestlé kreiste schon immer im eigenen Orbit.
Heute ist ein besonderer Tag: Einmal im Jahr stellen Markenvertreter die Innovationen in diesem «Brand Showcase» vor: Nescafé in Flüssigform, Kitkat-Riegel als Rennwagen für das anstehende Formel-1-Sponsoring, neue Maggi-Zutaten für den Air Fryer, frische Vitaminpillen. Ein Ort mit Symbolkraft: Der oberste Stock, eine Etage über den Chefs, beherbergt die Ausstellung zu den Weltmarken des Konzerns. Botschaft: Die Stars sind die Marken, die Chefs nur ihre Bewahrer und Entwickler. 159 Jahre Konzerngeschichte thronen über der Belegschaft.
Mehr als 2000 Nestléaner arbeiten in der Campus-artigen Anlage, die Gänge füllen sich, viele verstauen die Produkte in eigens produzierten Stofftaschen mit dem Aufdruck «We make Nestlé» und 13 zeitlosen Attributen von «Perform» bis «Safe». Und mittendrin: ein Zwei-Meter-Mann, der mal hier eine Frage stellt, da ein Gespräch führt – der neue Chef. Eine Stunde später stellt sich Philipp Navratil erstmals per Video im «Global All Hands»-Meeting der Belegschaft vor. Bei Nestlé heisst das: Mehr als 270’000 Mitarbeitende rund um die Welt können sich einwählen.
Auch der neue Präsident federt über den Gang: Pablo Isla, im dunkelblauen Anzug von Massimo Dutti, der Edelmarke des spanischen Textilriesen Inditex, den er so lange geprägt hat. Der 61-Jährige schwärmt vom neuen CEO, den er selbst ausgesucht hat. Navratil leitete am Vortag, noch vor Bulckes Abgangsverkündung, seine erste Konzernleitungssitzung, und den Bald-Präsidenten erreichten positive Feedbacks über den energiestarken, fast noch jugendlichen 49-Jährigen, der gerade acht Monate zuvor in das zwölfköpfige Führungsgemium aufgestiegen und abrupt Chef geworden war von deutlich erfahreneren Weltmanagern: keine Allüren, fokussiert, mehr Empfang als Sendung, aber durchaus bestimmt. Die freudige Analyse des Präsidenten: Persönlichkeitsentwicklung durch Bedeutungszuwachs.
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Tragisches Ende von zwei langen Nestlé-Karrieren: Der abtretende Präsident Paul Bulcke (l.) und Ex-CEO Laurent Freixe.
Fabrice Coffrini / AFP, Samuel SchalchTragisches Ende von zwei langen Nestlé-Karrieren: Der abtretende Präsident Paul Bulcke (l.) und Ex-CEO Laurent Freixe.
Fabrice Coffrini / AFP, Samuel SchalchDirekt nach der Ernennung Navratils bezog der in Machtfragen durchaus beschlagene Isla ein Büro im fünften Stock, und das liess bei Bulcke die Erkenntnis reifen, zusätzlich zu unschönem Aktionärsdruck, den für April geplanten Abschied auf Ende September vorzuziehen. Dann wird das Chairman’s Office, direkt neben dem CEO-Büro gelegen, für Isla frei. Doch schon jetzt spricht das neue Führungsduo täglich miteinander, manchmal mehrmals. Hilfreich: Navratil lebte 15 Jahre in Lateinamerika und ist mit einer Spanierin verheiratet, die Familiensprache mit den zwei Teenager-Kindern ist Spanisch – und jetzt auch die Arbeitssprache mit seinem Präsidenten. Der bisherige CEO Laurent Freixe war mit seinen 63 Jahren nur ein Übergangskandidat, der 71-Jährige Bulcke ritt in die Abendsonne. Das neue Führungsduo bietet eine Perspektive von zehn Jahren. Das Ziel nach all den Turbulenzen: Aufbruchstimmung. Endlich.
Den Sommer hatte sich Isla anders vorgestellt. Die Ferien verbrachte er mit seiner Familie traditionell in Mallorca, die drei erwachsenen Kinder waren zwar nur noch selten dabei, doch die Insel bot einen willkommenen Kontrast zu dem rauen Klima im Nordwesten Spaniens – von der Kleinstadt Oleiros nahe der galizischen Stadt La Coruña hatte er 17 Jahre Inditex gesteuert, er pendelte alltags zwischen seinem dortigen Anwesen und seiner Heimatstadt Madrid. Die sommerlichen Wochen an der Mittelmeersonne waren sein Refugium.
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Doch nach einer fünfwöchigen Untersuchung oblag ihm am 1. September eine dornige Aufgabe: Er musste Konzernchef Freixe feuern. Nach Mark Schneider war es innerhalb von zwölf Monaten bereits der zweite Rausschmiss an der Spitze des Konzerns, der so lange als Olymp der europäischen Firmenwelt gegolten hatte.
Nach dem CEO Mark Schneider (vorn) verliessen auch China-Chef David Zhang (l.) und Amerika-Vormann Steve Presley den Nahrungsmittelkonzern.
Getty Images, Markus Bertschi für Bilanz, PRNach dem CEO Mark Schneider (vorn) verliessen auch China-Chef David Zhang (l.) und Amerika-Vormann Steve Presley den Nahrungsmittelkonzern.
Getty Images, Markus Bertschi für Bilanz, PRZwar stand Isla da formell noch nicht in voller Verantwortung, Präsident war noch immer Bulcke. Isla hatte aber die Präsenz erhöht und war als Vizepräsident und Chef des Nominationsausschusses bereits der starke Mann. Zwei Wochen später war Bulcke dann auch formell Geschichte – und am Ende des Schicksalssommers stand ein Spanier plötzlich an der Spitze des weltgrössten Nahrungsmittelkonzerns: Pablo Isla Álvarez de Tejera.
Der Skandal brachte Nestlé rund um die Welt hässliche Schlagzeilen: Freixe hatte eine Affäre mit einer Untergebenen verschwiegen und damit gegen den von ihm selbst noch im April unterzeichneten Code of Conduct verstossen. Das Verhältnis hatten die Anwälte von Bär & Karrer in ihrer forensischen Untersuchung bestätigt, nachdem eine interne Abklärung kein Ergebnis gebracht hatte. Freixe hatte das Verhältnis gegenüber Bulcke und Isla geleugnet, auch schriftlich stritt er es ab, was dem Führungsduo Argumente für den fristlosen Rausschmiss lieferte.
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Die Beweislage war aus Sicht des Verwaltungsrats so erdrückend, dass die Lohnzahlungen für Freixe sofort eingestellt wurden, trotz einer Kündigungsfrist von zwölf Monaten. Ein rechtliches Nachspiel zeichnet sich ab – es geht um ein Zehn-Millionen-Jahressalär.
Besonders für Bulcke ist der Abgang tragisch. Der joviale Belgier verkörperte mit seinen 46 Jahren Firmenzugehörigkeit Nestlé-Kultur in Konzentratform, und dazu zählte auch hohe Integrität: In Bezug auf amouröse Eskapaden war er unverdächtig. Er hatte seine Jugendliebe geheiratet, gemeinsam war die Familie um die Nestlé-Welt gezogen. «Seine Mätresse ist Nestlé, und es ist die einzige», lachte Marilène Bulcke, wenn mal wieder Gerüchte über verschiedene Liebeleien aus der Zentrale kamen. Der Sitz im beschaulichen Vevey mit seinem grossen Nationalitätenmix war schon immer auch eine Balz-Hochburg. Viele Mitarbeitende kamen ohne soziale Kontakte in die Schweiz, ausser Nestlé gibt es kaum internationale Firmen, und das Nachtleben zwischen Montreux und Lausanne ist – milde formuliert – unspektakulär. Der Hauptsitz war die grösste Paarbörse der Region. Auch der neue Chef Navratil traf hier in jungen Jahren seine Frau, eine Spanierin aus Barcelona – aber sie war ihm nicht unterstellt.
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Es kam immer wieder zu Problemen, doch sie wurden intern geregelt. Als in den 1990er-Jahren die Engländerin Gill Lewis, als Quereinsteigerin und erste Frau im Topmanagement ein symbolträchtiger Zugang, ausgerechnet als HR-Chefin einem Mitarbeiter zu nah kam, löste der damalige Patron Helmut Maucher das Problem auf seine Art: Lewis wurde still verabschiedet. Drei Dinge dürfe man nie wechseln, so sein Diktum an die Manager, in dieser Reihenfolge: «Frau, Religion und Nationalität.» Seinem Nachfolger Peter Brabeck, der in Chile seine Frau kennengelernt hatte, seinen Aufstieg aber amourös durchaus gerüchteumweht vollzog, gab der Patriarch die klare Vorgabe: Wer bei uns Chef werden will, muss eine intakte Ehe haben. Der Grandezza-Österreicher verstand die Botschaft.
Pablo Isla in jungen Jahren als Inditex-Chef 2009.
AFP via Getty ImagesPhilipp Navratil 2025.
PRHauptsitz in Vevey: Die globale Zentrale für 2000 Marken.
Education Images/Universal Images Group via Getty ImagesDer Patriarch und sein Ziehsohn: Helmut Maucher (r.) forderte, dass seine Manager Frau, Religion und Nationalität nicht wechseln sollten. Sein Nachfolger Peter Brabeck verstand die Botschaft.
KeystoneZara-Gründer Amancio Ortega machte seine Tochter 2021 zur Präsidentin.
Getty ImagesSie wachte zuvor über die Showräume.
Auch Bulcke verdankte seinen Aufstieg Maucher – und setzt auf dem Präsidentenstuhl dessen patriarchalische Haltung bei Liebesdingen fort. Zwar wurde 2012 die interne Whistleblower-Hotline «Speak up» eingeführt, um Missbrauchsfällen nachzugehen. Doch in der Konzernleitung war hier keine harte Hand zu spüren. Schon als es 2015 um die Nachfolge von Bulcke ging, leuchteten bei Freixe, einem von drei internen Kandidaten, rote Lampen. Er hatte sich von seiner französischen Frau, mit der er zwei Kinder hatte, scheiden lassen, und es gab Gerüchte über eine Affäre mit einer polnischen Nestlé-Mitarbeiterin, die ihm einst als Ungarn-Chef unterstellt war und später unter Freixe in Vevey für die Region Europa arbeitete. Der Code of Conduct untersagte seit 2007 «eine direkte oder indirekte Berichtslinie zwischen einem Mitarbeitenden und ihrem oder seinem Partner». Bereits damals, so erzählte es Bulcke im kleinen Kreis, hatte Freixe die Beziehung auch auf Nachfragen nicht zugegeben. So viel Nestlé-Ethos war dann aber schon: Freixe heiratete die Mitarbeiterin, die dann Nestlé verliess und heute bei der Kommunikationsagentur Publicis in Lausanne arbeitet. Vor einem Jahr zeigte er sich noch mit ihr bei einem Firmenfest.
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CEO war der Franzose nicht geworden, der scheidende Präsident Brabeck drückte den deutschen Gesundheitsmanager Mark Schneider durch, von dem er sich den grossen Aufbruch in den höhermargigen Gesundheits- und Wellnessbereich versprach. Auch mit intaktem Privatleben hätte der nicht als Dynamiker geltende Freixe kaum eine Chance gehabt. Aber förderlich waren die Eskapaden nicht.
Doch im August letzten Jahres setzte Bulcke den lange so erfolgreichen Schneider handstreichartig ab, weil er durch den amerikanisierten Portfolio-Optimierer die Nestlé-Kultur der permanent-liebevollen Markenpflege gefährdet sah. Es war ein radikaler Schritt, der so gar nicht zur langfristigen Nestlé-Kultur passte, zumal Schneider trotz Turbulenzen am Kapitalmarkt noch immer einen guten Ruf genoss. Und auch Bulcke hatte als CEO mehrfach die kommunizierten Ziele nicht erreicht.
Doch es ging um mehr. Traditionell war der CEO bei Nestlé auch Mitglied des Verwaltungsrats und stieg nach acht bis zehn Jahren ohne Abkühlung zum Präsidenten auf, so viel Widerstand gegen die Corporate-Governance-Puristen leistete sich Nestlé. Jetzt war Schneider weg – und der Weg auf den Nestlé-Thron für Isla frei.
Bulcke hatte schnell eine spezielle Nähe zu Isla entwickelt. Der Spanier, damals noch Inditex-Chef, war 2018 über den langjährigen Axa-Lenker Henri de Castries in den Verwaltungsrat gekommen. Der Franzose war als Lead Director und Vizepräsident die starke Person in dem Kontrollgremium. Auch Bulcke, lange für Nestlé in Lateinamerika unterwegs, sprach mit Isla Spanisch, und beide ähnelten sich vom Naturell her: Sie brauchten nicht die grosse Bühne – Shoperöffnungen etwa mied Isla bei Inditex konsequent. Als BILANZ Bulcke 2023 in die «Hall of Fame» der Schweizer Wirtschaft aufnahm, wählte Bulcke Isla als seinen Laudator, und der pries ihn mit warmen Worten: Vertrauen, Zuneigung und Bewunderung empfinde er für Paul.
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Isla folgte de Castries im April 2024 als klare Nummer zwei. Die Absetzung Schneiders vollzog das Duo fast im Alleingang, was Schneider, selbst VR-Mitglied, im kleinen Kreis heftig kritisierte. Unter de Castries, so die Lesart, wäre eine breitere Debatte möglich gewesen. Der Verwaltungsrat, durchaus bestückt mit Koryphäen wie Ex-Apple-Finanzchef Luca Maestri oder Ex-Ahold-Lenker Dick Boer, hatte hier sicher nicht geglänzt: Freixe wurde in einer Hauruck-Aktion auf den Schild gehoben – ohne eingehende Beleuchtung seiner amourösen Vergangenheit, von der ausser Bulcke allerdings auch niemand wusste.
Doch der Alleingang erhöhte den Druck auf das Kontrollgremium, als neuer Lead Director war Isla besonders gefordert. Die Berater von Egon Zehnder wurden mandatiert für ein Assessment interner Nachfolgekandidaten, auch externe wurden gesichtet. Isla fand seinen Favoriten: Philipp Navratil. Einziger valabler Gegenkandidat war der Franzose Guillaume Le Cunff, der vor Navratil die Nespresso-Sparte geleitet hatte und als Europa-Chef formal eigentlich vor ihm lag. Doch der Bretone wirkte zu selbstbewusst, während Navratil die von Isla geschätzte «Humbleness» verströmte: Die Sache kommt vor dem Ego. Für Navratil schloss sich ein Kreis: Er war als 25-Jähriger nach dem HSG-Studium zum Assessment für eine Audit-Position nach Vevey gefahren. Damals war er überrascht, dass er ein Angebot bekam – er hatte ein schlechtes Gefühl. Dieses Mal hatte er ein gutes Gefühl – und schob sich klar an die erste Stelle. Freixe, selbst auch Mitglied des Verwaltungsrats, liess im kleinen Kreis bereits verlauten, dass Navratil sein Nachfolger werde – aber erst in zwei bis drei Jahren. So sah es auch Isla.
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Doch die Eskapaden holten Freixe ein. Bulcke konnte kaum überrascht gewesen sein, als er Mitte Mai einen anonymen Brief erhielt, in dem Freixe einer neuen Affäre mit einer Unterstellten bezichtigt wurde – der Mann aus Paris blieb in Liebesdingen französisch libertär unterwegs. Langjährige Weggefährten erlebten den sonst so umgänglichen Präsidenten extrem angespannt. Die Aktionäre hatten ihn nur mit 85 Prozent wiedergewählt. Im Verwaltungsrat stiegen die Zweifel am wenig dynamischen Freixe, der distanziert führte: Er pflegte etwa – anders als Schneider und neu Navratil – nicht das Du mit den Angestellten. Der Kurs näherte sich nach kurzem Hoch der tristen 70-Franken-Marke und lag damit 20 Prozent unter dem Wert bei Schneiders Abgang. Der Druck stieg, das Grummeln im Verwaltungsrat zog an, jetzt ploppte bei Bulcke auch noch die Affäre seines Protegés Freixe auf, eine grosse persönliche Enttäuschung. Mit Isla stand der Nachfolger bereit. Bulcke gab seinen Abgang für 2026 bekannt, ein Jahr vor Erreichen der Alterslimite von 72 Jahren.
Die Vorwürfe gegen Freixe löste man nach traditioneller Nestlé-Art: Die Marketingspezialistin aus der Türkei verliess die Firma im Frühsommer. Dass sie sich mit der Beziehung zum Chef intern brüstete, kursierte auf den Gängen und schadete Freixe massiv. Doch dieses Mal klappte der alte Nestlé-Weg eben nicht: Die anonymen Anschuldigungen stoppten nicht, der «Speak up»-Kanal wurde deutlich stärker genutzt – mehr als 100 Mitarbeitende hatten wegen Meldungen über diesen Kanal im letzten Jahr das Unternehmen verlassen. Als am 27. Juli ein Artikel bei «Inside Paradeplatz» zur Affäre des CEO erschien, blieb Bulcke nichts anderes übrig, als eine externe Untersuchung zu starten. Fünf Wochen später war Freixe weg.
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Bulckes Abgang symbolisiert das definitive Ende der lange zum Mantra verklärten Nestle-Kultur. Bulcke wollte sie mit aller Macht erhalten. Mit dem Veteranen Freixe sollte die gute alte Zeit zurückkehren, ausgedrückt in dem Retro-Motto «Forward to Basics». Am Ende stolperte er über die Schattenseiten: Das grosszügige Wegschauen bei Personalproblemen wie internen Affären gehörte eben auch dazu.
Doch für das neue Führungsduo bedeutet das Drama eine grosse Chance: mehr Radikalität beim Neustart. Externe Beratung erhält es in diesen Tagen grossflächig. Wie in der Pandemie alle zu Virusexperten mutierten, so liefern jetzt Journalisten und Analysten ungefragt eine stetige Flut an Strategieempfehlungen und Schlachtplänen, obwohl bisher niemand mit dem neuen Führungsduo gesprochen hat und das Firmenreich mit 2000 Marken von Tiefkühlpizza bis Hundefutter, davon mehr als 30 mit Umsätzen von über einer Milliarde Franken, mit Schnellanalysen von aussen kaum zu durchdringen ist.
Selbst der edle «Economist», der sonst die Schweiz-Berichterstattung auf dem Niveau von Albanien hält, gönnte sich eine Seite zum Nahrungsmittelriesen und wusste genau, was verkauft werden soll: das ewige Sorgenkind Wasser natürlich, die Kindernahrungsmarken Gerber und Illuma sowie die chinesische Schokoladenmarke Hsu Fu Chi. Andere Ideen: Warum nicht das Eisgeschäft, ohnehin schon in einem Joint Venture, separat an die Börse bringen, wie es gerade Unilever mit Ben & Jerry’s vorexerziert? Oder gar das Kronjuwel Kaffee abspalten? Und, natürlich: die L’Oréal-Beteiligung von 20,1 Prozent – sie steht mit gerade 8,7 Milliarden in den Büchern, ist aber fast 40 Milliarden wert. Ein Festhalten sei ein «Verrat an den Aktionären», ätzt ein Ex-Konzernleitungsmitglied.
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Wie grotesk die Spekulationen teils sind, zeigt ein Artikel bei «Inside Paradeplatz». Das Portal titelte «Nestlé wie CS?» und nannte tiefes Eigenkapital und hohe Verschuldung als vergleichbare Krisensymptome. Die CS litt nach jahrelangem Missmanagement an einem gigantischen Vertrauensverlust, der zum grössten Bank-Run der Finanzgeschichte führte. Nestlé könnte allein mit dem Verkauf der L’Oréal-Beteiligung ihre im Branchenvergleich ohnehin nicht hohe Verschuldung massiv senken und erzielt jedes Jahr einen weitgehend ungefährdeten Betriebsgewinn von mehr als 15 Milliarden Franken. Und ein Kunden-Run wie bei einer Bank ist bei einem Konsumgüterhersteller schlicht nicht möglich. «Wir freuen uns über jeden Store-Run», lächelt ein hochrangiger Mitarbeiter. Panikmodus herrscht nicht in Vevey, allem Aktionärsfrust zum Trotz.
Die Signale von Isla und Navratil sind dann auch eindeutig: Einen Big Bang wird es nicht geben. Die Strategie, so hatte Nestlé beim Abgang von Freixe betont, bleibt bestehen. Das Motto ist vor allem: Operative Exzellenz – wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Hier hatte «Low-Energy-Laurent», wie er mancherorts genannt wurde, nicht gepunktet, vielleicht auch durch seine amourösen Ablenkungen, wie heute spekuliert wird. Die Herausforderung bleibt: Der Nahrungsmittelmarkt wächst mit etwa zwei Prozent pro Jahr, Nestlé strebt ein organisches Wachstum von vier Prozent an. Dass der Konzern von diesem Wert die letzten sechs Quartale entfernt lag, teilweise massiv, ist der Hauptgrund für den Aktieneinbruch. Mehr Geld ins Marketing, Stärkung der Kernbrands, Sanierung der 18 definierten Underperformer – das ist der mühsame Weg durch die Ebene. Hier sehen Isla und Navratil die Hauptaufgabe: Durch konsequentes Managen den Vier-Prozent-Wert erreichen, und das kontinuierlich über einen längeren Zeitraum – nur das schafft Vertrauen an der Börse. Es bedeutet aber auch: ein Ende der Harmonie. Als Schneider das Rechnungszentrum Globe aus Kostengründen von Vevey nach Barcelona verschob, jammerten die Traditionalisten. Freixe mied harte Schnitte. Er machte auch Schneiders Einstieg in die Dezentralisierung rückgängig. Sein Vorgänger hatte die USA und China als eigenständige Regionen definiert und den Spartenchefs Steve Presley und David Zhang die Präsenz vor Ort gestattet. Freixe ging auf die alte Lösung zurück und beorderte die Zonenchefs nach Vevey. Beide gingen – und mit ihnen viel Erfahrung. Dass jetzt ein Deutsch-Libanese das wichtige China-Geschäft leitet, ist kein Fortschritt.
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Ein «Weiter so» ist zu wenig. Wie einsam die dünne Luft an der Spitze ist, wird Navratil in Rekordzeit erfahren.
Das Motto lautet: keine Tabus. Aber es bezieht sich vor allem auf Sparprogramme und Effizienzübungen. Hauruck-Massnahmen wie Abspaltungen oder Grossverkäufe sind kaum zu erwarten. Anders als Freixe plant Navratil dann auch nicht drei Monate nach Antritt einen Kapitalmarkt-Tag. Sein Dilemma: Die Märkte erwarten Signale, damit sich das Aktienfazit der UBS zum Halbjahr nicht festsetzt – «Cheaper for longer». Am 16. Oktober präsentiert er erstmals Quartalszahlen, im November folgt die Führungsretraite. Ein «Weiter so» ist zu wenig. Wie einsam die dünne Luft an der Spitze ist, wird Navratil in Rekordzeit erfahren.
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Und so ist ein Nestlé-Investment vor allem eine Wette auf das Führungsduo, das im Alter zwölf Jahre auseinanderliegt, aber wichtige Gemeinsamkeiten aufweist. Beide sind mit der Firmenwelt gross geworden: Islas Vater hatte hohe Positionen in verschiedenen spanischen Unternehmen wie Renfe oder Lactaria Española, Navratils Vater, ein Österreicher, arbeitete bei McKinsey und der Textilhandelsfirma Uhag. Isla, grosser Filmfan und eingefleischter Real-Madrid-Anhänger, ging auf die Jesuitenschule, wo er seine Frau kennenlernte, und studierte Jura. Navratil, mit seiner Schwester am Zürichberg aufgewachsen, studierte in St. Gallen. Seine Mutter, eine Italienerin mit argentinischen Wurzeln, arbeite als Gynäkologin, der weite Horizont lag in der Familie: Nach St. Gallen wählte Navratil nicht etwa die enge Berater-Banker-Schiene, sondern die grosse Welt bei Nestlé: Nach einigen Jahren im internen Audit, die ihm viele Einblicke in das weite Reich brachten, ging es mit der Familie erst nach Panama, dann nach Honduras und schliesslich Mexiko, wo er das Kaffeegeschäft zu neuen Höhen trieb.
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Was beide verbindet: hohe Loyalität zu ihrem Arbeitgeber – abseits der grossen Zentren. Navratil verbrachte sein gesamtes Berufsleben bei Nestlé, Isla zögerte 2004 nicht, als man ihm nach Stationen in Madrid den Chefposten von Inditex in La Coruña anbot, für viele stolze Hauptstädter tiefste Provinz.
Und: Fokus auf Exekution – mit Primat auf internem Wachstum. Isla bildete mit dem Inditex-Gründer Amancio Ortega eine der erfolgreichsten Symbiosen der Firmenwelt. Ortega, der 1975 in La Coruña den ersten Zara-Shop eröffnet hatte, kam jeden Tag ins Büro, um über Schnittmuster und Schaufensterdekorationen zu brüten, der Zahlenmensch Isla ordnete das Reich und expandierte rasant: Mehr als 4000 Läden eröffnete der Textilkonzern unter seiner Ägide, heute zählt Inditex 6500 Shops in 95 Ländern. Die Marke Zara bekam Schnellboote wie Zara Home, Berksha oder Pull & Bear zur Seite gestellt, gleichzeitig war sie schon früh sehr modern: Local Sourcing war nicht nur ökologisch wertvoll, sondern verkürzte auch die Lieferketten und erlaubte es Zara, Trends zügig umzusetzen – im Vergleich zum ewigen Rivalen H&M hatten die Spanier stets die Nase vorn. Schnellboote statt Tanker – davon kann auch Nestlé mehr brauchen.
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Die Börse honorierte es: In Islas Regnum stieg der Kurs um 900 Prozent. 2018 und 2019 kürte ihn die «Harvard Business Review» zum «Best Performing CEO» der Welt. Bulcke sah den kurzzeitigen Höchststand der Aktie von 130 Franken immer als Übertreibung, taxiert aber den fairen Wert schon bei mehr als 100 Franken – aktuell dümpelt er weiter in den tiefen Siebzigern. Isla nennt keine Zahlen, aber lässt keine Zweifel: Das Potenzial ist gross.
Auch Navratil glänzte bei der Umsetzung. Mexiko war der grösste Kaffeemarkt im Nestlé-Reich, die Marke Nescafé als heimische Marke fest verankert. Um die lokale Verbundenheit zu demonstrieren, liess Navratil Fotos der Kaffeebauern auf die Etiketten drucken – ein Entscheid, der ihm in der Zentrale erstmals grössere Aufmerksamkeit einbrachte. Er war es auch, der die neuen Starbucks-Kaspeln in 90 Ländern ausrollte – in gerade zwei Jahren. Beide sind Frontmenschen, die sich über Resultate und nicht über Titel definieren.
Nestlé ist beim Umsatz fast drei Mal so gross wie Inditex. Für Isla ist das ein Quantensprung.
Doch sie müssen sich finden. In Spanien werden die grossen Firmen aus dem Verwaltungsrat geführt, Isla war lange als exekutiver Chairman der starke Mann. Dass Navratil nicht wie seine Vorgänger sofort in den Verwaltungsrat einzieht, ist ein Bruch mit der Tradition – und stärkt Isla. Der winkt zwar ab: Er habe keinerlei Ambitionen auf die operative Führung. Aber er sieht seinen Posten als Vollzeitjob und wird in die Schweiz ziehen. Und bei allem Erfolg bei Inditex: Nestlé ist vom Umsatz fast drei Mal so gross, statt neun Marken führt es 2000. Es ist auch für den Spanier, der nie ausserhalb seines Heimatlandes gewohnt hat, ein Quantensprung.
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Dass Isla überhaupt zu Nestlé gekommen ist, liegt an einer speziellen Geschichte, die auch von amourösen Verwicklungen am Arbeitsplatz handelt. Ortega hatte sich lange vor Islas Eintritt bei Inditex in eine seiner Angestellten verliebt und sich von seiner ersten Frau, mit der er zwei Kinder hatte, scheiden lassen. Die zweite Ehefrau schenkte ihm die Tochter Marta, unwidersprochen sein Lieblingskind, und sie führte er schon früh in die Firma ein: Sie durchlief verschiedene Abteilungen und trat auch in den Verwaltungsrat ein. Vor drei Jahren übernahm sie den Präsidentenposten. Für den erfolgreichen Isla war kein Platz mehr. Man trennte sich im Frieden, Isla bezeichnet Ortega weiterhin als seinen «Leadership Hero». Dass allerdings der von ihm präferierte CEO nicht bleiben konnte, führte in spanischen Medien zu Spekulationen, dass doch nicht alles ganz so harmonisch zuging.
«Ich werde mein ganzes Leben bei Inditex verbringen», hatte Isla einst gesagt. Der Abgang des damals 57-Jährigen im November 2021 klang da wie eine Kampfansage: «Ich werde nicht in den Ruhestand gehen.» Jetzt greift er noch mal an.
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