Guten Tag,
Nach dem Bulcke-Abgang muss ein Schweizer den Nahrungsmittelmulti aus den Schlagzeilen und wieder auf Touren bringen. Schafft er das?
Nestlés neuer CEO: Philipp Navratil gilt intern als «No Bullshit»-Typ.
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Am Anfang steht ein Auftragsmord: Eine Revolverkugel befördert einen spanischen Geheimdienstler ins Jenseits; Täter sind die Russen, die längst die Spionagezentrale in Madrid unterwandert haben. Nun aber holt eine Nation zum Gegenschlag aus. «El Centro» heisst der Agententhriller, der demnächst in Spanien zu sehen ist. Produziert hat den Streifen Pablo Isla.
Er ist Eigentümer von Fonte Films und liebt den grossen Bogen: Verrat gegen Heldentum, Gut gegen Böse. Filmfan Isla ist – nach dem Rücktritt von Paul Bulcke – auch neuer Präsident von Nestlé. Das Sagen aber hatte er bereits Anfang Jahr, wie Recherchen zeigen.
Denn längst war Bulcke im Verwaltungsrat in Ungnade gefallen. Zu lange hatte er das Gremium ignoriert und seine Entscheide durchgedrückt. So wars beim überstürzten Abgang des früheren CEO Mark Schneider, so wars bei der Wahl dessen Nachfolgers Laurent Freixe. Als der Aktienkurs gleichwohl immer stärker einbrach, verlor Präsident Bulcke das Vertrauen. Nun übernahm der Verwaltungsrat, zuvorderst Vizepräsident Isla, der im April offiziell Bulckes Nachfolge hätte antreten sollen.
Der studierte Jurist mischte sich seit Anfang Jahr überall ein, heisst es intern, zuletzt bei der Wahl des neuen Konzernchefs. Dieser war neu zu berufen, weil Amtsinhaber Freixe über eine Liebesbeziehung mit einer direkt unterstellten Mitarbeiterin gestolpert war. Es war Isla, der schon früh auf den 49-jährigen Philipp Navratil setzte und ihn dem Verwaltungsrat schmackhaft machte, wie Recherchen zeigen. Auch der Umstand, dass mit dieser Wahl eine ganze Generation von Nestlé-Managern – diejenige über fünfzig Jahre – leer ausgeht, trägt seine Handschrift. Mit seinem ersten und wohl wichtigsten Personalentscheid geht Isla voll ins Risiko.
Denn Navratil gilt nach Nestlé-Standards als Youngster, einer, der nie eine der drei Länderzonen verantwortete, in denen der Multi weltweit seine Milliardenumsätze bündelt. Für den von Traditionen geprägten Weltkonzern, der 2026 das 160-Jahr-Jubiläum feiert, ist das revolutionär. Auch dass der Neue erst seit Anfang Jahr in der Geschäftsleitung sitzt, ist ein Bruch mit den Gepflogenheiten. Doch Isla wollte keinen Traditionalisten, keinen Nestlé-Lifer, der schon auf die sechzig zugeht, sondern einen Neustart mit einem Frischen. Mit Navratil.
Es ist nicht das erste Mal, dass Isla das Überraschende wagt. Als er nach 17 Jahren als gefeierter Chef des spanischen Modeimperiums Inditex (Zara, Massimo Dutti, Oysho) zurücktrat, übergab er das Relais einem unbekannten 45-Jährigen. Der hatte zwar als Staatsanwalt und als Rechtschef der Banco Santander gedient, im beinharten Textilgeschäft aber war er ein Neuling, als ihn Isla zum Nachfolger berief.
Mit der Wahl von Philipp Navratil orchestriert Pablo Isla – «el discreto», wie ihn Spaniens Medien nennen – den zweiten Generationensprung in seiner Laufbahn, nun bei Nestlé.
Die neuen Machtzentren am Genfersee heissen Isla und Navratil: Sie werden Nestlé in den nächsten zehn Jahren prägen, davon sind Nestlé-Insider überzeugt.
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Navratil ist ehrgeizig und entscheidungsfreudig, ein «Shaper», zupackend, initiativ, ein «No bullshit»-Typ. Den Plan von Vorgänger Freixe – «Forward to Basics» – wird er zwar nicht schubladisieren, schliesslich hat das Unternehmen die Strategie bei seiner Ernennung bekräftigt. Aber viel mehr Drive muss sein: mehr Digitalisierung, mehr Kooperation, mehr Tempo, mehr Innovation, mehr Sparen.
Viele glauben daran, besonders die U-50-Generation bei Nestlé ist von Navratils Wahl begeistert. Dabei ist er nicht unbeleckt, immerhin bringt er 24 Dienstjahre mit, arbeitete in Problemmärkten wie Honduras, wo er das Kinderheim El Refugio von SVP-Nationalrat Thomas Matter mit Naturalgaben alimentierte.
Zudem hat er in den letzten Jahren die milliardenschwere Partnerschaft mit Starbucks in rund achtzig Ländern lanciert. Das war kein Kaffeekränzchen, denn einerseits konkurrenziert er damit Nestlé-Produkte, und zum anderen gilt es, Rücksicht zu nehmen auf Partner Starbucks – denn die Verträge sehen bei Entscheiden Einstimmigkeit vor.
Navratil, der jahrelang als Verbindungsoffizier zu den Amerikanern fungierte, kennt die Starbucks-Chefs persönlich – und weiss auch, wie lukrativ die Beziehung ist. 4 Milliarden Franken spielt sie ein; die Combo mit den Kaffeebrauern aus Seattle ist eine Wachstumsstory, wie sie Nestlé dringend braucht.
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Gleichzeitig ist der Neue in der Zentrale nicht der abgebrühte Manager, der in seiner Karriere durch die Welt tingelte und alles besser weiss. «Er hat einen offenen Blick», sagen mehrere Kaderleute. In Meetings in der Konzernzentrale sei er einer der wenigen, die Althergebrachtes hinterfragen würden und für unkonventionelle Lösungen zu haben seien, erzählt man sich auf den Gängen.
Schliesslich sei Navratil eine gute Kombination seiner beiden Vorgänger, sagt einer, der das Nestlé-Personal bestens kennt: Hier Schneider, der auf Innovation und Dynamik drückte und dabei die weniger dankbaren Dinge wie Markenpflege vernachlässigte, dort der visionslose Laurent Freixe, der auf alte Tugenden und Megamarken wie Kitkat oder Purina setzte.
Navratil hat das, was Schneider abging: die nötige Portion Stallgeruch. Aber ohne die Defizite von Freixe: Der Franzose war einer, der mit allen konnte, doch ein harter Entscheider war er nie. Bei Navratil dürfte das anders sein. Kurzum: Die neue Hierarchie bei Nestlé – «designed in Spain, produced in Switzerland» – ist der Versuch, Aufbruch und Tradition nach zwei Anläufen in Balance zu bringen.
Die nächste Wortmeldung aus Vevey – die Publikation des dritten Quartalsberichts am 16. Oktober – wird wohl durchzogen ausfallen: Da wird Navratil erstmals vor Publikum auftreten und andeuten, wohin seine Reise geht. Schliesslich dürfte er im November an einem Kapitalmarkttag seine Asse auf den Tisch legen. Im Programm «Nestlé Reloaded» werden Effizienz, Innovation, Kooperation, Wachstum, Sparen und Tempo zuoberst stehen.
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Starbucks 2018 kaufte Nestlé das Recht, diverse Starbucks-Produkte im Detailhandel zu verkaufen, und zwar weltweit. Diese Global Coffee Alliance zwischen den Weltkonzernen ist auf Expansionskurs. In der Schweiz sind Starbucks- Nespresso-Kapseln bei Coop und Migros zu kaufen. Nun ist Nestlé daran, die vielfältigen Produkte unter dem Starbucks-Brand in China und in Indien zu lancieren. Das Potenzial ist gross, zumal die Einkommen in den Metropolen rasch zulegen.
Nespresso George Clooney sorgte mit «What else?» weltweit für Aufmerksamkeit. Nun soll Nespresso mit neuen Kaffeegetränken einem jüngeren Publikum schmackhaft gemacht werden. In den USA und in Kanada wirbt der kanadische R’n’B-Musiker und Schauspieler The Weeknd (Bild). Er soll der Gen Z den Pistachio Iced Coffee näherbringen.
Perrier Das Wasserportfolio ist prominent gefüllt: Perrier, San Pellegrino, Vittel, Acqua Panna und weitere mehr. Wichtig ist die Konzentration auf Premiummarken, auch für die Positionierung von Nestlé. Doch Ärger gibts in Frankreich: Das Unternehmen soll unzulässige Verfahren zur Wasserbehandlung (Mikrofiltration) eingesetzt haben; Marken wie zum Beispiel Hépar und Contrex stehen in der Kritik. Der Umsatz des Wassergeschäfts ist klein, der Managementaufwand gross.
Kitkat Der Weg einer britischen Schokoladenmarke zur globalen Kultmarke im Nestlé-Portfolio ist wegweisend. Heute ist Kitkat ein «Billionaire Brand» mit über 1 Milliarde Umsatz – eine globale Marke, die auf regionale Vorlieben reagiert und Trends früh antizipiert. Einen nächsten Schritt wagt Kitkat mit der Formel 1 – diesen Herbst in São Paulo und Mexico City, nächstes Jahr weltweit. Dabei sind Social Media und Nachhaltigkeit zentral. Ein Vorbild für mehr Agilität und Innovation.
Transparenz Nach den Wirren sind Erklärungen gefragt. In der Bringschuld steht CEO Navratil beim Personal und bei den Investoren. Dass sie – im Gegensatz zu auch schon – mitreden, zeigt Bulckes forcierter Abgang. Ein Schritt zur Transparenz ist der Publikumszugang der architektonisch wertvollen Zentrale.
Der Milliardenkonzern mit über 2000 Produkten in 180 Märkten hat es nötig. Der legendäre Nestlé-Chef Helmut Maucher brachte die Malaise bereits vor vierzig Jahren auf den Punkt: «Mehr Pfeffer und weniger Papier.» Neue Action versprach dieser Tage Finanzchefin Anna Manz an der Barclays Global Consumer Staples Conference in Boston: «Das Tempo wird erhöht.» Sie sagte es zweifellos in Absprache mit Navratil.
Diese Tempoerhöhung könnte die 337 Fabriken treffen, die der Riese weltweit betreibt. Bereinigungen und Personalabbau sind denkbar. Zwar nicht im grossen Stil – das wäre nicht Nestlé-like –, aber Maschinen werden Menschen ersetzen. «Wir müssen schlanker werden», sagt ein Nestlé-Kader.
Das gilt ebenso für das üppige Hauptquartier in Vevey. Auch beim Fussabdruck gibt es Sparpotenzial. Dass man nicht lokal, sondern im Minimum regional produziert, wie man das beim Hackfleisch aus Soja von Garden Gourmet schon tut, liegt auf der Hand.
Zusammenlegen und Personalkosten sparen – das ist nichts Neues, das kennt man aus der Schweiz. Etwa bei der Teigfabrik von Leisi und Buitoni in Wangen bei Olten. Da wurde der Personalbestand innert zehn Jahren um einen Drittel reduziert.
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Angewiesen ist Navratil auf Stephanie Pullings Hart, die Frau fürs Operative. Eine «formidable Dame» nannte sie Schneider, als er sie von New York als Chief Operating Officer nach Vevey lockte, um dort den Nestlé-Motor mit künstlicher Intelligenz auf Speed zu trimmen. Die Chefmechanikerin aller Produktionen spielt bei Navratils Fitnessprogramm eine entscheidende Rolle; schon in den nächsten Wochen soll die eine oder andere News anstehen.
Viel verspricht sich Navratil auch von den Service-Centern rund um den Globus, in denen Produktion und Dienstleistungen aus nationalen Märkten gebündelt werden. Da hilft die digitale Vernetzung, die seit der Corona-Pandemie vorangetrieben wird. Die Datenharmonisierung über den Konzern ist nun so weit gediehen, dass Administrativkosten sinken.
Der Fortschritt materialisiert sich auch in der zentralen Markenkommunikation, bei der dank KI-Software Verpackungen und Social-Media-Anzeigen innert Minuten modifiziert werden können. Navratil wird all diese länderübergreifenden Kooperationen in Marketing und Produktion noch stärker einfordern.
Auch Markttrends will er früher aufspüren, um das Sortiment à jour zu halten. Vorgemacht hat es Kitkat mit den Ruby-Schokolade-Linien, vermarktet mit dem Slogan «La vie en rose». Verpasst hat man dagegen den Dubai-Schokoladen-Hype, der seit 2024 in den sozialen Medien dreht. Da reagierte die Marketingabteilung von Lindt & Sprüngli agiler und räumt vor den Augen des Konkurrenten vom Genfersee bis heute ab.
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Das soll sich ändern, heisst es bei Nestlé. Unterstützt wird der neue CEO bei der Suche nach mehr Agilität durch die Techhäuser Nvidia und Microsoft. Es gibt viel zu tun: Die Zielvorgabe aus dem Jahr 2022, wonach der E-Commerce bis 2025 von 14 auf 25 Prozent steigen soll, hat man nicht erreicht. Aktuell steht man bei 20,2 Prozent.
Dafür hat es beim Megatrend mit dem kalten Kaffee («Cold Brew») geklappt, auf dem Navratil – damals Schirmherr des Kaffeegeschäfts – frühzeitig surfte. Eben wurden Cold-Brew-Konzentrate in den USA lanciert, auch der Roll-out in China und Indien läuft, vorab mit Ready-to-Drink-Angeboten in Delhi, Bangalore oder Mumbai. Und für die Liebhaber des edlen Kaffeegenusses von Nespresso gibts kalten Kapselkaffee mit Vanille- und Kokosnussgeschmack.
Beim gesamten Portfolio steht ein Makeover an, denn über zweitausend Marken sind global kaum zu stemmen. «Less is more» war auch die Devise von Freixe. Wie das geht und dass man damit erfolgreich sein kann, hat die Königsklasse der Konsumgüterindustrie gezeigt. Procter & Gamble halbierte das Portfolio von 160 auf 80: Was nicht mehr den Konsumgewohnheiten entsprach und in Konkurrenz zu billigen Eigenmarken stand, war nicht mehr gefragt.
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Damit aber tut man sich bei Nestlé schwer, weil hier Grösse über allem steht. Ein alter Zopf sind die vielen lokalen Glacemarken, die Nestlé noch immer führt, in Kanada oder Lateinamerika, obwohl das Glacegeschäft seit mehr als einem Jahrzehnt über Froneri läuft, ein Joint Venture mit einem französischen Private-Equity-Haus.
800 Millionen Franken Umsatz kämen da noch immer zusammen, sagt Vontobel-Analyst Jean-Philippe Bertschy. «Es wäre sinnvoll, diese Aktivitäten in Froneri zu integrieren», sagt er. Das Glace-Joint-Venture verkauft Marken wie Häagen Dazs, Mövenpick und Drumstick, und zwar mit Erfolg.
Wie gemächlich mitunter der Stil des Hauses bei der Begradigung des Portfolios ist, zeigt das Beispiel der US-Babynahrungsmarke Gerber, die Nestlé 2007 eintütete. Zum Paket gehörte auch Gerber Life Insurance, eine Versicherung für Kind und Kegel, die allerdings kaum ins Kerngeschäft eines Nahrungsmittelherstellers passt; doch getrennt hat man sich vom Portfolio-Fremdling erst elf Jahre später, unter Schneider.
Auch die Diätmarke Jenny Craig geisterte jahrelang durchs Hauptquartier, ohne je auf Touren zu kommen; erst 2013 entschied man sich zum Verkauf. Später meldete die US-Firma Insolvenz nach Chapter 7 an.
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Ohne harte Schnitte wird es nicht gehen, auch bei den Kosten. Freixe wollte bis 2027 die Summe von 2,5 Milliarden Franken eliminieren, doch dabei wird es unter Navratil nicht bleiben. Die Zeit drängt, wenn der Aktienkurs bei knapp über 70 Franken dümpelt und die Schuldenlast 60 Milliarden Franken beträgt.
Da stehen Konkurrenten wie Mars, Kraft Heinz und Danone besser da: Bei der Debt-Equity-Ratio, die das Verhältnis zwischen Schuldenstand und Börsenbewertung auslotet, liegt Danone nach einem scharfen Sparprogramm bei 0,56 Prozent – bei Nestlé sind es 1,41 Prozent. Nur Unilever liegt höher.
Auch bei der Kultur stellen sich Fragen: Nestlé brüstet sich, eine starke Firmenkultur zu haben, die sich über Jahrzehnte als vorteilhaft erwiesen habe. Schwer zu vermitteln ist intern allerdings, dass ausgerechnet Firmenveteran Freixe über zwei Jahre eine Liebesbeziehung mit einer Direktunterstellten verheimlichte, diese beförderte und ganz nebenbei den Verwaltungsrat belog.
Da hat Navratil viel Vertrauen ins Management aufzubauen, wo man etliche Wechsel zu verdauen hat. Innert dreizehn Monaten ist nun der dritte CEO am Werk, der zweite Präsident, dazu eine neue Personalchefin, ein neuer Investor-Relations-Chef und zwei neue Länderchefs (China und Amerika). Und die Finanzchefin, die ist erst seit März 2024 an Bord.
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Es sind ganz viele Abenteuer, die der Nahrungsmittelkoloss mit Philipp Navratil aktuell durchlebt. Eigentlich wäre dies alles ein Fall für Fonte Films von Produzent Pablo Isla. Der Titel des Streifens: «Die Zentrale II». Diesmal nicht in Madrid, sondern an der Avenue Nestlé 55 in Vevey.
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