Guten Tag,
Verzögerungen bei der Vergütung, Bürokratie: Das Pharmaland Schweiz schafft es nicht mehr, seine eigene Bevölkerung zuverlässig zu versorgen.
 
 Im Schweizer Medikamentenschrank herrscht die grosse Leere.
Keystone, Joseph Khakshouri – Montage: ShutterstockWerbung
Es war ein Eklat, wie man ihn in der Schweiz selten gesehen hat: Im Juni nahm Roche das Krebsmedikament Lunsumio vom Markt, nachdem der Konzern sich mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht auf einen Preis hatte einigen können. Seither finanziert CEO Thomas Schinecker die Behandlungen aus der Konzernkasse. Es geht um ein paar Dutzend Patienten mit einer besonders schweren Form von Blutkrebs, für die das Medikament aus Basel eine Frage des Überlebens ist. Der Pharmakonzern, der einspringt, wenn alle anderen Sicherungen ausfallen – das ist die neue Realität im Gesundheitswesen.
Dabei ist Lunsumio kein Einzelfall, sondern nur ein besonders krasser. Der Spareifer des BAG trifft alle Pharmakonzerne, die neue Therapien entwickeln und dafür Milliarden – mittlerweile sind es 4 bis 6 Milliarden Dollar pro neuem Medikament – springen lassen. Ein Konzern soll bei einem Krebsmedikament einen Abschlag von 80 Prozent gegenüber dem Ausland machen, als Vergleichsgrösse wird eine längst generische und deshalb besonders günstige Hormontherapie herangezogen. In einem anderen Fall verwies Bern auf eine jahrzehntealte Chemotherapie, um den Preis möglichst weit nach unten zu drücken. Dabei geht es um eine seltene, sehr aggressive Krebserkrankung, bei der die neue Therapie die Überlebenschancen um ein Vielfaches erhöht. Doch das hält das BAG nicht davon ab, beim Preis auf die Bremse zu treten.
Exorbitante Rabattforderungen vonseiten der Behörden, endlose Verhandlungsrunden in Bern, die auch nach Monaten, wenn nicht Jahren, nicht zum Ziel führen. Die Pharmaindustrie und Bern liegen in einem Dauerclinch, die Nerven liegen blank. Ein Pharmakonzern hat eine neue Therapie im Angebot, die bei Patienten mit schwerem Asthma, bei dem alle anderen Medikamente versagen, greift, doch das BAG geht auch hier einen Sonderweg und stutzt den Kreis möglicher Bezüger gegenüber dem Zulassungsentscheid von Swissmedic und gegenüber der Vergütungspraxis im Ausland zusammen. Und auch das kommt vor: Eine bahnbrechende Stoffwechseltherapie wird in den medizinischen Leitlinien explizit empfohlen und im Ausland fast ausnahmslos vergütet. Nur die Schweizer Behörden in Bern sind auch nach vier Jahren noch nicht am Ziel.
Bern bremst. Das Bundesamt schreibt Prävention gross, mit Programmen wie «Love Life», «Stopp Hepatitis» oder «Impfen schützt» kämpfen die Beamten gegen Infektionskrankheiten, man monitort den Alkohol- und Tabakkonsum, selbst der UV-Schutz ist gesetzlich verankert. Doch wenn es um die Zulassung neuer Impfstoffe geht, also Prävention par excellence, dann kann es dauern. Ein Impfstoffhersteller spricht von «auffälligen Verzögerungen» bei der Verfügbarkeit, in einem Fall habe es ganze sechs Monate gebraucht, bis der Impfstoff in die Spezialitätenliste (SL) aufgenommen worden sei. Dabei habe man sich doch so schnell auf einen Preis geeinigt.
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Die Versorgung mit neuen Therapien zeigt Schwächen, das lassen auch die Indikatoren erkennen, die seit Jahren nur eine Richtung kennen: nach unten. 174 neue Wirkstoffe hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zwischen 2020 und 2023 zugelassen, doch in der Schweiz sind – Stand Januar 2025 – nur 47 Prozent voll verfügbar, stehen also auf der Spezialitätenliste und werden damit ohne Wenn und Aber von den Krankenkassen vergütet. 2018 lag der Vergleichswert noch bei 64 Prozent.
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Mit dem neuen Wert platziert sich die Schweiz im europäischen Vergleich auf Rang sieben, knapp vor Bulgarien – dessen Gesundheitssystem gilt als «herausgefordert» und spielt bei Qualität und Zugang ansonsten ein paar Ligen weiter unten als das schweizerische. Besonders prekär ist die Situation ausgerechnet bei den seltenen Krankheiten; diese Patienten sind besonders verletzlich. 11 der 39 neuen Wirkstoffe gegen seltene Krankheiten waren Anfang Jahr garantiert verfügbar. Ein schlechtes Zeugnis für ein Gesundheitssystem, von dem Politiker gern sagen, es sei «das beste der Welt».
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Auch beim Faktor Zeit sieht es düster aus. Die Dauer zwischen dem Zulassungsentscheid durch Swissmedic und dem Vergütungsentscheid durch das BAG nimmt zu, die Durststrecken werden immer länger. Nur noch 6 Prozent der neuen Medikamente schaffen den Sprung in die SL innerhalb der vom Gesetzgeber vorgesehenen Frist von sechzig Tagen. 2015 lag die Quote noch bei 68 Prozent.
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Besonders dramatisch ist die Situation in der Onkologie, einem Feld, in dem die Therapiefortschritte in den vergangenen Jahren besonders gross waren. Ganze 278 Tage verstreichen inzwischen, bis der Vergütungsentscheid zu einem neuen Krebsmedikament steht. Bei innovativen Medikamenten, die oft in lebensbedrohlichen Situationen zum Einsatz kommen, entspricht das nicht dem, was man sich von einem Gesundheitswesen wie dem schweizerischen wünscht. Zumal es mit jährlichen Kosten von mittlerweile 100 Milliarden Franken und deutlich mehr als 1000 Franken pro Kopf kostenmässig in der Kategorie Rolls-Royce spielt.
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In der Zwischenzeit behilft man sich mit Artikel 71 des Krankenversicherungsgesetzes, er regelt die Vergütungen, wenn der Entscheid aussteht. 27 Prozent der zwischen 2020 und 2023 in Europa neu zugelassenen Wirkstoffe werden inzwischen auf dieser Basis von den Krankenkassen vergütet. Gewiss, meistens funktioniert die sogenannte Einzelfallverfügung. Eine pragmatische Lösung, schliesslich will sich niemand den Vorwurf gefallen lassen müssen, er enthalte schwer kranken Patienten eine Behandlung mit einem lebenswichtigen Medikament vor. «Die Patienten und Patientinnen brauchen sich keine Sorgen zu machen», sagt deshalb das BAG, mit der Spezialitätenliste und der Vergütung im Einzelfall habe die Schweiz zwei «sehr starke Säulen zur Vergütung». Damit könnten neue Medikamente sogar vor der Swissmedic- und der EMA-Zulassung vergütet werden. «Das gibt es in keinem anderen europäischen Land.» Zudem: Noch immer beträfen 80 Prozent der Vergütungsentscheide auf Basis von Artikel 71 nicht zugelassene Medikamente.

4 bis 6 Milliarden Dollar kostet es, eine neue Therapie zu entwickeln: Daten zu einer neurologischen Studie.
Getty Images/Science Photo Library RF
4 bis 6 Milliarden Dollar kostet es, eine neue Therapie zu entwickeln: Daten zu einer neurologischen Studie.
Getty Images/Science Photo Library RFWerbung
Das sieht man bei der Pharmaindustrie weniger gelassen. Der als Ausnahmebestimmung gedachte Artikel 71 werde immer häufiger zum Ventil für einen dysfunktionalen Vergütungsprozess, heisst es hier. Mit all den Folgen, die das für die Involvierten hat. Ärzte und Ärztinnen schieben Extraschichten, um Anträge an Krankenkassen für Therapien zu schreiben, an deren medizinischem Nutzen eigentlich niemand zweifelt, Pharmafirmen beschäftigen ganze Teams, die sich ebenso wie die Krankenkassen um die Preisverhandlungen im Einzelfall kümmern. Und schliesslich sind da auch noch die Patienten, die nicht nur mit einer möglicherweise schweren Diagnose fertig werden müssen, sondern auch mit der Unsicherheit, ob sie die Therapie, die sie brauchen, auch wirklich bekommen.
Das Schweizer System zeigt Risse, die Stimmung kippt. Das gilt ganz besonders jetzt, wo Donald Trump ein Pharmaunternehmen nach dem anderen dazu zwingt, seine Preise in den USA zu senken, um die «Unwucht» im Verhältnis mit Europa, wie sie ein Insider nennt, zu beheben. So steigt der Druck auf Europa und damit auch auf die Schweiz. Der Spielraum sei ausgereizt, heisst es. Einfach so weiterzufahren, sei nicht mehr möglich, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden.
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Ursache der Krise ist eine Politik, die sich richtiggehend auf die Medikamentenpreise eingeschossen hat. Seit Jahren jagt ein Kostensenkungsprogramm das nächste, 1,5 Milliarden Franken wurden so aus dem System genommen. Die Medikamentenkosten liegen gemäss Bundesamt für Statistik seit Jahren stabil bei etwas über 10 Prozent der Gesundheitskosten – und das bei geradezu explodierenden medizinischen Fortschritten. An Brustkrebs Erkrankte haben heute dank neuen Therapien eine viel höhere Überlebensrate als noch vor ein paar Jahren, das Gleiche gilt für Prostatakrebspatienten. Genetisch bedingte Krankheiten, die noch vor wenigen Jahren zu schwersten Behinderungen oder gar zum Tod führten, lassen sich heute gut behandeln, wenn nicht sogar heilen. Bei Alzheimer gibt es erste Durchbrüche und bei Parkinson erste, leise Hoffnungen.
Mehr Medizin für weniger Geld – während Jahren ging das gut. Doch nun mehren sich die Anzeichen, dass die Dinge aus dem Lot geraten, die Versorgung leidet. Ein «Pain Point» sind aus Sicht der Pharmaindustrie die therapeutischen Quervergleiche, die bei der Preisfestsetzung herangezogen werden. Das BAG berufe sich gerne auf möglichst alte und ergo besonders günstige Therapien, heisst es bei der Pharmaindustrie. Es halte sich an die Verordnungen und stütze sich auf etablierte Therapien, heisst es beim Bundesamt. Und bei den Krebstherapien lägen die Preise für neue Therapien 80 Prozent über den Preisen bestehender Therapien.
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Klar ist: Es geht besser. Das zeigt Deutschland. Der Nachbar im Norden mag für umständliche Regulierungen stehen, doch bei der Vergütung neuer Medikamente stellt er alle in den Schatten. Neun von zehn Therapien, die von der EMA zwischen 2020 und 2023 zugelassen worden waren, wurden Anfang 2025 auch von den Krankenkassen vergütet. Möglich macht dies ein Prozedere mit klaren Regeln mit maximal vier Verhandlungsrunden à vier Stunden in sechs Monaten. Kommt es zu keiner Einigung, entscheidet ein Schiedsgericht. Zudem gibt es klare wissenschaftliche Kriterien, nach denen entschieden wird, welche Vergleichstherapien bei der Preisfestsetzung herangezogenen werden. Helfen würde auch eine provisorische Preisfestsetzung, doch damit beisst die Industrie in Bern auf Granit.
Stattdessen dreht man munter weiter an der Sparschraube, diesmal mit einem «Kostenfolgemodell». Die Logik dahinter: Pharmafirmen müssen einen Teil ihrer Umsätze wieder abliefern, wenn diese eine bestimmte Schwelle überschreiten. Noch brütet man darüber, wann die Guillotine fallen soll, aber im Grundsatz steht der Entscheid: Wer Medikamente entwickelt, die gut wirken und deshalb häufig verschrieben werden, soll bestraft werden. Ob das die Kosten dämmt? So viel Erfolgs- und Innovationsfeindlichkeit ist selbst in Bern selten. Als Medizinstandort verliert die Schweiz bereits heute an Terrain, die Zahl der klinischen Studien sinkt. Damit schwinden die Chancen, dass Patienten Therapien erhalten, die noch nicht zugelassen sind. Ob das die Bevölkerung, auf die sich die Sparmeister in Bern berufen, wirklich will?
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