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Diagnose: Tote winken nicht

Auf dem Weg nach oben gehen manche über Leichen. Und folgen wir nicht gerade selbst diesem Urinstinkt, schauen wir andern dabei gerne zu.

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Ein Toter lag im eisigen Jetstream auf dem Südsattel des Mount Everest, um ihn herum zerfetzte Zeltreste, leere Sauerstoffflaschen und anderer Schrott. Zwanzig Meter entfernt trotzten neue Zelte dem Orkan auf fast 8000 Metern. Dort lagerten sieben holländische Bergsteiger und schmolzen auf einem Gaskocher Schnee zu Wasser.

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Als einer sein Zelt verliess, um Nachschub zu holen, sah er den toten Mann, der schon seit Stunden dalag. Und der nun mit dem rechten Arm winkte. Ein toter Mann winkt? Der Holländer flüchtete zurück ins Zelt, wo er den Kollegen Bericht erstattete. Es entwickelte sich eine Diskussion darüber, ob der Mann, ein Inder, noch lebe und ob sein Winken wohl eine Aufforderung zur Hilfeleistung bedeute. Man wusste es nicht so recht. Also funkte man ins Basislager und fragte die dort anwesenden Ärzte, ob Tote sich bewegen könnten. Nein, wurde geantwortet, Tote bewegten sich nicht, also müsse der Mann noch leben. Man einigte sich darauf, dass der Mann sowieso verloren sei, solche Unterkühlung könne niemand überleben. Und blieb in den warmen Schlafsäcken liegen. Als die Gruppe am Morgen danach zum Gipfel aufbrach, winkte der tote Mann nicht mehr. Er war ohne letzte menschliche Geste gestorben.

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Henry Barber, genannt «Hot Henry», einer der führenden amerikanischen Kletterer der Siebzigerjahre, versuchte 1978 am Kilimandscharo eine neue Aufstiegsroute. Rob Taylor, sein Partner, stürzte mit einem zusammenbrechenden Eiszapfen einige Meter ab und brach sich das Bein. Barber liess ihn dort zurück, meldete eineinhalb Tage später den Rangers am Fuss des Berges das Unglück und reiste nach Europa, um an einer Sportmesse für seine Marke zu werben. Nach fünf Tagen wurde der Verletzte dann doch noch lebendig geborgen.

Solche Geschichten gibt es viele. Glücklicherweise aber auch Tröstliches: So retteten drei Amerikaner und drei Sherpas im Mai 2001 am Everest in einer Höhe von 8700 Metern zwei Bergsteiger, die dem Tode nahe waren, und verzichteten damit auf ihren eigenen Erfolg. Andere Retter starben gar bei Hilfsaktionen. Vielen war und ist es wichtiger zu helfen, anstatt zu triumphieren.

Verhaltensmuster von Bergsteigern ähneln jenen von Ärzten, Priestern, Politikern, Metzgermeistern oder Journalisten – inklusive ihrer weiblichen Pendants. Sie spiegeln die menschliche Gesellschaft.

Charaktereigenschaften sind breit verteilt. Mittendrin ein grosser Haufen Mittelmässiger. Eingerahmt werden diese auf der einen Seite von den ganz oder recht Ehrenwerten, bei denen das Evolutionsprinzip «Jeder frisst jeden» von einem menschlichen Anstrich überdeckt wird. Auf der anderen Seite sind die Schufte, die ihre Urinstinkte wie weiland ausleben.

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Alles wird für die Verbesserung der Rangordnung getan. Das Prinzip der Methoden unterscheidet sich nicht – ob in den Slums von Rio oder bei der Wahl von Chefärzten, Ordinarien oder Bankdirektoren.

Und wir, die Zuschauer, betrachten die grausig schönen Schauspiele fasziniert und spüren erregtes Prickeln. Beim öffentlichen Köpfen oder dem chinesischen Genickschuss heutzutage genauso wie einstmals in der römischen Arena. Bei Kreuzigungen, beim Verbrennen, Pfählen, Hängen, Guillotinieren. Beim Anblick aggressiver Kampfkühe. Bei Fuchsjagden. Oder bei brennenden Zwillingstürmen. Und wenn die eigene Mannschaft nicht gewinnt, wird geschlagen, zertrümmert und noch mehr getrunken.

Hier zu Lande unterhält uns zurzeit eine Hahnenkampfversion Swiss light. Das Politkabarett um die künftige Zusammensetzung des Bundesrates, das mit abenteuerlichem Demokratieverständnis, mit Profilmarkierung mittels Präsenz bei Rindvieh- und Ziegenshows, mit Sesselklebern und Depression angereichert ist, stellt für einmal Giacobbo & Co. weit in den Schatten. So fragt man sich, ob man in Bern mit der Lampe nach Menschen zu suchen hat. Aber nein, wir, die Homines sapientes, sind so.

Zum Glück gibt es auch noch Pfarrer Sieber und die Heilsarmee.

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