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Wieso die meisten Pharma-Wirkstoffe scheitern

Die Suche nach dem nächsten Pharma-Blockbuster ist ­beschwerlich. Das Gros der ­Wirkstoffe bleibt auf der Strecke.

skü

Silvan Künzle

Symbolbild Pharma

NADEL IM HEUHAUFEN Die Suche nach einem wirksamen Alzheimer-Medikament bleibt bislang erfolglos.

Getty Images/Image Source

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Er ist der Mann, der die Spielwiese zur Verfügung stellt. Und wenn einer es weiss, dann er: «Scheitern gehört dazu», sagt Mario Jenni, CEO des Bio-Technoparks in Schlieren. 50 Unternehmen forschen am Cluster unweit von Zürich am nächsten Durchbruch. Aber erst drei Medikamente bringen Umsatz, die anderen befinden sich noch in der Entwicklung.

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Natürlich hofft Jenni, dass möglichst viele davon zum Blockbuster werden, aber er weiss auch: «Der menschliche Körper ist so komplex, dass das Gros der Wirkstoffkandidaten in der Entwicklung scheitert.» Der Misserfolg ist unmittelbar mit der Forschung verbunden. Trotzdem locken junge börsennotierte Biotech-Firmen mit riesigen Renditechancen immer wieder Kleinanleger an.

Das Risiko scheint aber nicht allen bewusst zu sein. «Nichtfachkundige reagieren stärker auf positive und negative Meldungen der Firmen», sagt Jenni.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Berg-und-Tal-Fahrt der Genfer Relief Therapeutics. Als der erste Covid-Fall im Februar 2020 in der Schweiz bestätigt wurde, notierte die Aktie bei 0,24 Rappen. Im August stieg der Pennystock bis auf 70 Rappen – ein sattes Plus von über 29'000 Prozent. Grund für das Kursrally war der Blockbuster-Kandidat Aviptadil, der zur Behandlung von Covid vorgesehen war. Spätestens nach dem ablehnenden Entscheid der US-Arzneimittelbehörde für eine Notfallzulassung zerschlugen sich die Träume. Heute ist die Aktie wieder weniger als fünf Rappen wert und einige Anleger um einiges ärmer.

Trial and Error

Aviptadil reiht sich in die Liste der jüngst gescheiterten oder zurückgeworfenen Medikamente ein. Im April kamen auch die Aktien von Molecular Partners unter die Räder, nachdem sich Novartis-CEO Vas Narasimhan negativ zum gemeinsamen Covid-Medikament Ensovibep geäussert und der US-Konzern Amgen das Ende der Zusammenarbeit bei einem Krebsmittel verkündet hatte. Beim Start-up Polyneuron Pharmaceuticals aus Basel kam es wiederum in der klinischen Studie zu seiner neuartigen Antibody-Catch-Technologie zum Stopp. Doch auch die etablierten Konzerne sind nicht gegen Rückschläge gefeit. Selbst Roche konnte mit dem Partnerunternehmen AC Immune im Juni keine überzeugenden Daten zum neuen Alzheimer-Medikament Crenezumab vorlegen.

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Aduhelm zur Behandlung von Alzheimer

UMSTRITTEN Der Hoffnungsträger Aduhelm zur Behandlung von Alzheimer wurde zum Ladenhüter.

PD
Aduhelm zur Behandlung von Alzheimer

UMSTRITTEN Der Hoffnungsträger Aduhelm zur Behandlung von Alzheimer wurde zum Ladenhüter.

PD

In der Alzheimer-Forschung zeigt sich die «Trial and Error»-Kultur besonders. In der Schweiz erkranken jährlich über 30'000 Personen an Demenz, mehr als die Hälfte davon an Alzheimer. Seit Jahrzehnten sind Forschende weltweit auf der Suche nach einem wirksamen Medikament. Alleine zwischen 1998 und 2017 gab es 146 erfolglose Versuche. Umso höhere Wellen schlug die Nachricht der umstrittenen Zulassung des neuen Alzheimer-Medikaments Aduhelm in den USA.

Der darin enthaltene Wirkstoff Aducanumab stammt von der im Bio-Technopark ansässigen Neurimmune. Hinter dem Spin-off der Universität Zürich stecken keine Unbekannten: Roger Nitsch und Christoph Hock sind renommierte Alzheimer-Forscher. Nitsch gewann 2004 den Potamkin-Preis, den «Nobelpreis der Demenzforschung». Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften und sitzt im Verwaltungsrat von Lonza. Oft standen er und sein Team kurz vor dem Durchbruch.

In den 2000er Jahren erlangten sie mit der Erprobung einer Impfung gegen Alzheimer Bekanntheit. Nach Komplikationen mussten sie das Unterfangen allerdings aufgeben. Im gleichen Zeitraum entdeckten sie, dass geistig gesunde Hochbetagte über Antikörper gegen das Alzheimer-typische Eiweiss Beta-Amyloid verfügen. Basierend auf dieser Entdeckung gründeten sie 2006 zusammen mit dem Neurowissenschaftler Jan Grimm Neurimmune. Den Forschern gelang es schliesslich, die entdeckten Antikörper im Labor nachzubauen.

Der von Neurimmune entwickelte Wirkstoff befand sich lange auf dem Weg zum Blockbuster. Erste Studienresultate des Partners Biogen waren positiv, ehe im März 2019 ein herber Rückschlag folgte. Die Zielerreichung wurde als unwahrscheinlich eingestuft und die Studie gestoppt. Nun begann die Achterbahn der Gefühle: Ende Jahr keimt wieder Hoffnung auf. Die vollständige Studienauswertung zeigt nun doch eine positive Wirkung.

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Mario Jenni

INSIDER Mario Jenni, CEO des Bio-Technoparks, verfolgt die Entwicklungen aus nächster Nähe.

ZVG
Mario Jenni

INSIDER Mario Jenni, CEO des Bio-Technoparks, verfolgt die Entwicklungen aus nächster Nähe.

ZVG

Biogen reicht Aduhelm für eine beschleunigte US-Zulassung ein. Kurz darauf wird der Wirkstoff auch in der EU eingereicht. Während Biogen für die Herstellung eine 1,5 Milliarden Franken teure Produktionsanlage für 600 Mitarbeitende im solothurnischen Luterbach baut, streitet die Fachwelt in den USA intensiv über die Wirksamkeit des Medikaments. Dann folgt der vermeintliche Durchbruch: Unter Auflagen lässt die US-Zulassungsbehörde FDA Aduhelm im Juni 2021 zu. Die Börse jubelt, und die Aktie von Biogen gewinnt innerhalb eines Handelstages knapp 40 Prozent.

Königsmörder

Doch mit dem Durchbruch ziehen bereits die ersten dunklen Wolken auf. Die Wogen gehen hoch: Austritt von Experten aus dem Expertengremium der FDA, Absprachevorwürfe zwischen Biogen und der FDA, Rücktrittsforderung an die FDA-Chefin, die wiederum eine Untersuchung gegen die eigene Behörde fordert. Die US-Regierung reagiert auf den wachsenden Druck und kündigt eine Untersuchung an. Die Ungewissheit macht sich auch bei Ärzten und Patienten breit, was sich in den Verkaufszahlen niederschlägt. Aduhelm bleibt weit unter den Erwartungen.

Die Lage spitzt sich zu: Sechs US-Privatversicherer verweigern die Übernahme der Kosten, die Aktie stürzt ab. Dann der Todesstoss: Die europäische Zulassungsbehörde verweigert die Zulassung Ende 2021. In der Schweiz zieht Biogen das Zulassungsgesuch zurück. Der Biogen-CEO Michel Vounatsos muss gehen, Biogen schreibt die Bestände ab und stampft die Vertriebsorganisation ein. Der vermeintliche Blockbuster wird zum Königsmörder.

Jenni, der Neurimmune am Bio-Technopark aus nächster Nähe verfolgen kann, ist nach wie vor von der grundsätzlich positiven Wirkung Aduhelms überzeugt: «Das Medikament löst das Eiweiss Beta-Amyloid im Hirn auf. Auch wenn dies möglicherweise nicht ursächlich ist, trägt die Ablagerung der Eiweisse zum degenerativen Prozess bei.» Ob die Erkrankung verlangsamt oder sogar gestoppt werde, müsse aber über einen längeren Zeitraum untersucht werden. «Womöglich müsste das Medikament präventiv gegen bestehende Ablagerungen verabreicht werden, bevor die ersten Krankheitssymptome auftreten.»

Scheitern ist die Regel

Die Entwicklung sei allgemein schwierig, weil gleiche Krankheitssymptome oft verschiedene Ursachen haben. Entsprechend verwässernd sei es, wenn man ein Medikament an zusammengewürfelten Personen teste. «Damit Patientinnen und Patienten von der Wirkung profitieren, müssen sie gezielter ausgewählt werden», betont Jenni. «Es werden derzeit neue Verfahren entwickelt, um die geeigneten Probanden für ein Medikament zu bestimmen. Das wird zu aussagekräftigeren Ergebnissen führen.»

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Im Bio-Technopark in Schlieren forschen 50 junge ­Unternehmen am nächsten ­Durchbruch.

PHARMA-CLUSTER Im Bio-Technopark in Schlieren forschen 50 junge Unternehmen am nächsten Durchbruch.

PD
Im Bio-Technopark in Schlieren forschen 50 junge ­Unternehmen am nächsten ­Durchbruch.

PHARMA-CLUSTER Im Bio-Technopark in Schlieren forschen 50 junge Unternehmen am nächsten Durchbruch.

PD

Abgesehen von den Nebenschauplätzen zeigt das Auf und Ab um Aduhelm, wie es um die Dynamiken in der Pharmabranche bestellt ist. Dass Hoffnungsträger auch noch in einem späten Stadium floppen, erstaunt Experten nicht. «Scheitern ist die Regel in der Pharmabranche», bestätigt auch Samuel Lanz vom Branchenverband Interpharma. Von 10'000 untersuchten Substanzen erreicht nur eine als Medikament die Marktreife. Ein Prozess, der durchschnittlich zwölf Jahre dauert und enorme finanzielle und personelle Ressourcen verschlingt. Von der Forschung und Entwicklung bis zur Marktreife kostet der Prozess im Schnitt 2,6 Milliarden Dollar. Damit ist die Entwicklung eines neuen Medikaments heute fast 15-mal teurer als noch in den 1970er Jahren.

Bis zur Marktzulassung stehen aber noch weitere Hürden im Weg. In der Schweiz benötigt Swissmedic gemäss der kürzlich erschienenen Benchmark-Studie im Schnitt 391 Kalendertage für die Beurteilung eines Zulassungsgesuchs, zehn Tage weniger als in der EU. Jedoch werden die Gesuche in der EU aufgrund der Marktgrösse fast ein halbes Jahr früher eingereicht, in den USA fast ein Jahr. 

Erschwerend kommt in der Schweiz hinzu, dass der Vergütungsprozess durch das BAG statt der wie in der Verordnung festgelegten 60 im Median rund 200 Tage dauert. Nach der Ersteinreichung kann es somit mehr als 20 Monate dauern, bis ein Arzneimittel den Patienten zur Verfügung steht. Aber auch andere Gründe können das Ende für ein Medikament bedeuten. Manchmal ist die Konkurrenz einfach schneller oder besser. Die Medikamente werden dann erst gar nicht mehr zur Zulassung eingereicht oder nachträglich zurückgezogen.

Chance Clusterbildung

Im Bio-Technopark in Schlieren zieht man trotz allem eine positive Bilanz. Mit Glycart und ESBATech verfügt man über sehr erfolgreiche Beispiele, die von Roche respektive Novartis gekauft wurden. Seit 2015 mussten gerade einmal drei Prozent der Unternehmen am Standort schliessen. Jenni führt dies auf die starken universitären Partner zurück: «Die ETH und die Universität Zürich engagieren sich stark für den Technologietransfer und die Förderung von Spin-offs, zudem gibt es verschiedene Förderinstrumente und Labs.»

Die erste Phase bis zum «Proof of Concept» finde im akademischen Umfeld statt. «In der Privatwirtschaft ist das schwieriger», ergänzt Jenni. «Wenn die Firmen ein bis zwei Jahre an den Hochschulen inkubiert wurden, übernehmen wir sie und bieten ihnen Platz für Wachstum.» Auch Lanz sagt: «Die Pharmaindustrie profitiert von Clustern.» Die kurzen Wege fördern den Austausch zwischen den Partnern. Jenni ist auch davon überzeugt, dass die Kleinräumigkeit ein entscheidender Vorteil der Schweiz ist: «Nicht einmal in Boston ist alles so konzentriert.»

Die professionell organisierte Clusterbildung wird sicherlich dazu beitragen, dass die Innovationsmaschine weiterläuft. Ein Garant, dass damit der prozentuale Anteil an Durchbrüchen steigt, ist sie aber nicht.

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