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Wer von einem möglichen Waffenstillstand in der Ukraine an der Schweizer Börse profitieren oder verlieren könnte - eine Auslegeordnung.
Symbolbild: Verhandlungen zwischen USA, Ukraine und Russland (2025).
IMAGO/IlluPicsWerbung
Die Signale aus Genf klangen am Sonntagabend hoffnungsvoll. Nach mehrstündigen Verhandlungen zwischen Vertretern der Ukraine, der USA und europäischen Staaten zeigten sich die Gesprächsteilnehmer zuversichtlich, dass ein Waffenstillstandsabkommen in der Ukraine eintreten könnte. Man wolle «idealerweise bis Donnerstag» zu einem Abschluss kommen, so US-Aussenminister Marco Rubio.
Doch die Finanzmärkte haben die Genfer Gespräche bislang kaum interessiert. Der Schweizer Aktienmarkt, gemessen am Leitindex SMI, legte am Montag um 0,36 Prozent auf 12'678,5 Punkte zu. Auch die Einschätzung von Experten fällt überraschend nüchtern aus - allen voran Christian Gattiker, Leiter Research bei Julius Bär.
«Ein Waffenstillstand in der Ukraine würde die Schweizer Börse wahrscheinlich nicht dramatisch beeinflussen», schreibt Christian Gattiker auf Anfrage von cash.ch. Der Grund liegt in der Natur der europäischen Wirtschaftsprobleme: Diese sind nur teilweise durch den Krieg verursacht. Strukturelle Herausforderungen wie schwaches Produktivitätswachstum, demografische Probleme und fehlende Wettbewerbsfähigkeit würden durch einen Friedensschluss kaum beeinflusst.
Dennoch erwartet Gattiker positive Impulse. Ein Waffenstillstand könnte «die Risikostimmung auf den Finanzmärkten unterstützen». Dies würde sich auch auf den Schweizer Markt übertragen, wenn auch in moderatem Ausmass. Die Risikoprämien bei Aktien dürften sinken, was zu einer leichten Aufwertung führen könnte. Von einer dramatischen Rallye ist allerdings nicht auszugehen.
Die grössten Hoffnungen richten sich auf den Wiederaufbau der Ukraine. Die Dimensionen sind beeindruckend: «Der Wiederaufbau könnte tatsächlich ein Milliardengeschäft werden», schätzt Gattiker. Die Kosten für den Wiederaufbau der von Russland angegriffenen Ukraine werden auf mindestens 524 Milliarden US-Dollar über die kommenden zehn Jahre geschätzt. Das geht aus einem gemeinsamen Bericht der ukrainischen Regierung, der Weltbank, der Europäischen Kommission und der Vereinten Nationen hervor.
Doch diese auf den ersten Blick gewaltige Summe relativiert sich schnell. Setzt man die jährlichen 50 Milliarden Dollar in Relation zu den Jahresumsätzen der europäischen Bauindustrie von mehr als 1,75 Billionen Dollar (Stand 2020), ergibt sich lediglich eine marginale Steigerung von etwa 3 Prozent pro Jahr. «Es ist daher unwahrscheinlich, dass europäische und Schweizer Bauunternehmen in den nächsten Jahren grösseren Rückenwind durch ein potenzielles Waffenstillstandsabkommen erfahren werden», so die defensive Einschätzung des Research-Leiters.
Trotz der gedämpften Erwartungen identifiziert Gattiker drei Schweizer Unternehmen, die vom Wiederaufbau profitieren könnten: «Holcim, Sika und Implenia könnten vom Wiederaufbau profitieren, da sie im Bereich der Bau- und Konstruktionsmaterialien tätig sind.» Auch eine Studie der britischen Investmentbank Barclays sieht Holcim als mögliche Börsengewinnerin bei einem Waffenstillstand.
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Holcim als globaler Baustoffkonzern mit Hauptsitz in Zug verfügt über umfassende Erfahrung in Osteuropa. Das Unternehmen könnte bei der Lieferung von Zement und anderen Basismaterialien für den Wiederaufbau eine wichtige Rolle spielen. Der Aktienkurs von Holcim bewegt sich weiter positiv in Richtung neues Allzeithoch von über 73 Franken. Derzeit kostet eine Aktie 71 Franken.
Sika, der Zuger Spezialchemie-Konzern, ist auf Baustoffe für Infrastrukturprojekte und Gebäudesanierung spezialisiert. Die Produkte des Unternehmens kommen bei komplexen Bauprojekten zum Einsatz und könnten gerade bei der Modernisierung zerstörter Strukturen gefragt sein. Die Sika-Aktie zeigt sich derzeit im Aufwärtswind und notiert bei 152,35 Franken. Dennoch hat der Kurs seit einem Jahr gut ein Drittel verloren.
Implenia als grösster Schweizer Baudienstleister könnte bei Grossprojekten eine Chance erhalten. Allerdings stellt die geografische Distanz zur Ukraine eine Herausforderung dar. Das Unternehmen müsste seine Präsenz in der Region ausbauen, um vom Wiederaufbau substanziell profitieren zu können. Derzeit kostet eine Implenia-Aktie 60,70 Franken - fast doppelt so viel wie zu Jahresbeginn.
Andere Schweizer Unternehmen, die theoretisch ebenfalls vom Wiederaufbau profitieren könnten - etwa Geberit im Bereich Sanitärtechnik, Georg Fischer bei Rohrleitungssystemen oder Kühne+Nagel in der Logistik -, nennt Julius Bär nicht explizit als Top-Kandidaten.
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Während Bautitel als potenzielle Profiteure gelten, könnten Unternehmen mit Rüstungsbezug unter Druck geraten. «Schweizer Unternehmen mit Rüstungsbezug könnten tatsächlich durch einen Waffenstillstand belastet werden, da die Erwartungen bezüglich Verteidigungsausgaben vorübergehend sinken könnten», schreibt Gattiker.
Allerdings bleibt die Situation komplex und schwer vorhersehbar. Experten gehen davon aus, dass europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben auch nach einem möglichen Waffenstillstand in der Ukraine nicht zurückfahren werden. Die geopolitischen Spannungen und das gewachsene Bewusstsein für die Notwendigkeit einer starken Verteidigung sind nicht einfach verschwunden. Zudem haben sich die NATO-Mitgliedstaaten an ihrem Gipfel 2025 verpflichtet, bis spätestens 2035 ihre Verteidigungsausgaben auf jährlich 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen.
Konkrete Einschätzungen zu einzelnen Schweizer Titeln mit Rüstungsbezug - etwa Cicor, das Elektronikkomponenten für Verteidigungssysteme herstellt, oder Huber+Suhner mit seiner Verbindungstechnik - gibt Julius Bär nicht ab.
Über die direkten Wiederaufbau-Profiteure hinaus stellt sich die Frage nach indirekten Gewinnern. Sinkende Energiepreise könnten die Kaufkraft der Konsumenten stärken, während eine verbesserte Wirtschaftslage in Europa der exportorientierten Schweizer Industrie zugute komme. Auch die allgemeine Konsumentenstimmung dürfte sich aufhellen.
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Doch auch hier bleibt die bereits im Februar 2025 veröffentlichte Analyse von Julius Bär zurückhaltend. Laut Gattiker dürfte ein Waffenstillstand die bereits erwähnte Risikostimmung auf den Finanzmärkten unterstützen, was wiederum zu einer verbesserten Konsumentenstimmung führen könnte. Konkrete Schweizer Aktien oder Sektoren, die davon besonders stark profitieren würden, werden nicht genannt.
Dies deutet darauf hin, dass die indirekten Effekte für den Schweizer Aktienmarkt schwer zu quantifizieren sind. Die Verbesserung der allgemeinen Stimmung dürfte sich breit über verschiedene Sektoren verteilen, ohne dass einzelne Titel klar herausstechen. Für Anleger bedeutet dies: Ein allgemeiner, aber moderater Auftrieb bei Schweizer Aktien ist wahrscheinlicher als spektakuläre Kursgewinne bei einzelnen Titeln.
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