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Verluste wirken viel stärker als Gewinne: Diese Erkenntnis der Prospect Theory sollten auch Führungskräfte beherzigen.
Markus Diem Meier
Was gilt als Verlust, was als Gewinn? Es kommt immer auf den Referenzpunkt an. (Diese Illustration wurde von einem KI-Modell generiert und von einem Menschen überprüft und finalisiert.)
Tessy Ruppert / MidjourneyWerbung
Als der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2002 dem Psychologen Daniel Kahneman verliehen wurde, war das eine Sensation. Kahnemann wurde für eine Erkenntnis ausgezeichnet, die eine Grundannahme der klassischen Ökonomie infrage stellt: Diese geht davon aus, dass Menschen danach streben, einen Zustand zu erreichen, der ihren absoluten Nutzen maximiert – etwa beim Einkommen, bei ihrem Vermögen, ihrem Gesundheitszustand oder ganz allgemein bei ihren Lebensumständen.
Der 2024 verstorbene Kahneman zeigte gemeinsam mit Amos Tversky auf, dass nicht der Endzustand selbst entscheidend ist, sondern die Tatsache, wie dieser Zustand relativ zu einem Referenzpunkt wahrgenommen wird. Da Tversky bereits 1996 verstorben war und Nobelpreise nicht post mortem vergeben werden, erhielt nur Kahneman die Auszeichnung. Die gemeinsamen Einsichten gingen als «Prospect Theory» in die Wissenschaft ein – und bieten gerade Führungskräften oder Unternehmern wertvolle Unterstützung, um Entscheidungen von Mitarbeitenden, von anderen Stakeholdern und nicht zuletzt die eigenen Entscheide besser zu verstehen.
Einfaches Beispiel: das Lohnangebot für eine Jobkandidatin. Nicht die absolute Höhe des Lohnangebots ist entscheidend dafür, ob sie sich damit zufriedengibt, sondern der Vergleich mit dem Lohn, den sie im Job zuvor erhielt. Der alte Lohn ist der Referenzpunkt. Ein höherer Lohn ist dann ein Gewinn, ein tieferer Lohn ein Verlust. Und die Prospect Theory geht in einem entscheidenden Punkt noch weiter: Gewinne und Verluste im Verhältnis zu einem Referenzpunkt werden in ihrem Ausmass stark unterschiedlich wahrgenommen. Bleiben wir bei den Löhnen als Beispiel: Ein um 1000 Franken tieferer Lohn, als ihn die Jobkandidatin im Job zuvor erhalten hat, wirkt sich sehr viel stärker negativ auf ihr Befinden aus, als sich ein um 1000 Franken höherer Lohn positiv auswirkt.
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Das simple Beispiel zeigt, wie wichtig Referenzpunkte sind. Von ihnen hängt ab, ob ein Ergebnis als Verlust oder Gewinn empfunden wird. Gewinne oder Verluste sind überdies nicht zwingend monetärer Natur – im Gegensatz zum einfachen Lohnbeispiel. In jedem Fall beziehen sie sich aber auf die positive oder negative Veränderung im Vergleich zu einem individuellen Referenzpunkt.
Grosse Bedeutung hat die Prospect Theory auch für das Change-Management, also für den Umgang mit Veränderungen, wie es sie im Unternehmensalltag immer gibt. Auf Veränderungen, die Mitarbeitende als Verschlechterung gegenüber dem Status quo – ihrem Referenzpunkt – wahrnehmen, reagieren sie demnach übermässig negativ: Psychologisch ist der Verlust für sie sehr viel stärker, als es die Freude wäre, wenn Veränderungen ihnen eine gleich grosse Verbesserung bringen würden.
Und weil wahrgenommene Verluste viel stärker wirken als faktisch gleich grosse Gewinne, drohen eine starke Abwehr und ein grosser Frust Teams selbst dann zu lähmen, wenn mehr als die Hälfte von Änderungen profitiert. Die Erkenntnisse der Prospect Theory lehren, dass diese Abwehr deshalb weder als Irrationalität noch als illoyale Verweigerungshaltung abgetan werden sollte.
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In einer Welt voller Stress und Unsicherheit ist es entscheidend, die Macht unserer Gedanken zu erkennen.
Veränderungen im Geschäftsalltag sind aber unabdingbar. Um sie zu gestalten, hilft eine weitere Erkenntnis aus der Prospect Theory: Nicht nur der Status quo, sondern auch Erwartungen oder Ziele können Referenzpunkte sein, und auf beide hat das Management Einfluss. Kahneman und Tversky haben hier von «Framing» gesprochen. Damit ist gemeint, dass die Formulierung einer Aufgabe oder eines Ziels den Referenzpunkt verschieben kann.
Ein schlechtes Framing ist etwa, wenn Ziele in einer Art formuliert werden, die ein Scheitern hoch wahrscheinlich machen. Ein Beispiel sind zu hohe Umsatzziele. Werden sie nicht erreicht, wirkt das für die Teams wie ein Verlust, und der Frust wird viel grösser sein, als es die Freude wäre, wenn solche Ziele erreicht oder sogar übertroffen würden. Das droht sich negativ auf die Leistungsbereitschaft auszuwirken. Ein besseres Framing für die Umsatzziele wäre, Zwischenschritte festzulegen, die in einer angemessenen Frist auch erreichbar sind.
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Das jeweilige Zwischenziel wirkt dann als jeweils neuer Referenzpunkt und erhöht die Chance, dass die Belegschaft das Erreichte als Gewinn empfindet. Weil Verluste deutlich schlimmer empfunden werden, als faktisch gleich grosse Gewinne Freude machen würden, setzen Menschen zudem laut Kahneman und Tversky mehr aufs Spiel, um einen Verlust im Vergleich zu ihrem Referenzpunkt zu vermeiden, als sie es für Gewinne tun würden. Für das Beispiel mit den Zielvorgaben folgt daraus, dass bei einem erreichbaren Ziel mit einem grösseren Einsatz zu rechnen ist.
«Schnelles Denken, langsames Denken», Daniel Kahneman (2011)
Der 600-seitige Wälzer des Psychologen Kahneman hat es mit guten Gründen zu einem internationalen Bestseller gebracht. Er vermittelt wertvolle Erkenntnisse zu unserem Denken und Handeln. Der Titel leitet sich daraus ab, dass wir von zwei Systemen gesteuert werden: einem auf Impulsen basierenden und einem rational kalkulierenden. Wie diese Systeme interagieren, hat wesentlichen Einfluss auf unser Verhalten. Die Prospect Theory wird im vierten Teil des Buches behandelt.
«Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstösst», Richard Thaler und Cass Sunstein (2008)
Das Werk baut auf den Erkenntnissen von Kahneman und Tversky auf. Mit «nudge» (zu Deutsch: schubsen) meinen die Autoren, dass man mit einem geeigneten Framing Menschen besser dazu motivieren kann, sich in einer gewünschten Art zu verhalten, als wenn man sie dazu zwingt. Thaler hatte eng mit Kahneman zusammengearbeitet und erhielt nach dessen Auszeichnung ebenfalls den Wirtschaftsnobelpreis für das eigene Wirken.
Bedeutung haben die Prospect Theory und das richtige Framing auch für alle Arten von Verhandlungen. Es ist entscheidend, ein gewünschtes Resultat so zu «framen», dass die andere Seite dieses auf keinen Fall als Verlust empfindet. Noch grösser wird die Zustimmungsbereitschaft der Gegenseite sein, wenn eine vorgeschlagene Vereinbarung als Verminderung eines bereits bestehenden Nachteils oder Verlusts geframt wird.
Die Beispiele zeigen, dass die meisten Menschen in vielen Fällen intuitiv handeln, wie es die Prospect Theory empfehlen würde. Mit der Kenntnis der Theorie lässt sich jedoch systematisch vorgehen. Das bedeutet, dass man sich mit den Referenzpunkten anderer genauer auseinandersetzen und erst dann eine Verhandlungsstrategie planen sollte. Wichtig ist aber auch, sich für ein geplantes Angebot ebenso mit den eigenen Referenzpunkten auseinanderzusetzen, die zuweilen unbewusst sind. So vermeidet man, Angebote zu machen, die keine eigenen Zugeständnisse ermöglichen, während das Angebot auf der Gegenseite als potenzieller Verlust empfunden wird.
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Die Kenntnis der Prospect Theory und das Auseinandersetzen mit Referenzpunkten sind allerdings nicht nur für Managemententscheide von Bedeutung, sondern sie helfen generell, den Umgang mit anderen Menschen besser zu meistern, Fehler zu vermeiden und mit dem Frust bei Rückschlägen besser umzugehen.
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