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Zeitökologie: Mehr Zeit für die Zeit

Die Zeit bloss managen zu wollen, mache keinen Sinn, finden die Zeitexperten Michel Baeriswyl und Ivo Muri. Es sei Zeit für einen neuen Umgang mit der Zeit.

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Im Leben dieses Mannes dreht sich alles um die Zeit. Das begann bei Ivo Muri schon im Kindesalter. Sein Vater, Jakob Muri, baute in den Sechzigerjahren in Sursee die landesweit ersten funküberwachten Quarz-Turmuhren, und der kleine Ivo begleitete ihn regelmässig in abgelegene Dörfer zur Montage neuer Kirchenuhren.

«Damals», erinnert sich Ivo Muri, «hatte Zeit noch mit Qualität zu tun. Es spielte keine Rolle, ob wir für die Arbeit einen Tag länger benötigten. Hauptsache, es funktionierte alles einwandfrei, wenn wir abreisten. Heute stehen die Aussendienstmitarbeiter unter enormem Zeitdruck. Die Störungsmeldungen erreichen sie auf dem Handy, noch bevor sie zu Hause sind – und die eingesparte Zeit hat sich verflüchtigt.»

In Sursee, wo Ivo Muris Vater noch Zeit zur Genauigkeit hatte, baute Muri junior in den letzten Jahren ein Kompetenzzentrum für Zeit auf: Insgesamt fünfzig Angestellte verteilen sich auf diverse Firmen.

Eine davon ist die Zeit AG, die Personal- und Zeitmanagementsysteme entwickelt und vertreibt. Die Software, die in Sursee entsteht, versucht laut Muri eine Antwort zu geben auf die aktuellen Bedürfnisse der Unternehmen nach Flexibilität und Mobilität. Neben mobiler Zeiterfassung via Internet, Handy, PDA oder Smartphone gehören dazu auch Terminals, die zur Information und zur Befragung der Mitarbeiter eingesetzt werden können. «Für die meisten Unternehmen», so Muri, «sind die arbeitenden Menschen die wichtigste Ressource. Es geht darum, sie optimal einzusetzen und ihre Arbeit untereinander zu koordinieren. Die neuen Zeitsysteme dienen nicht mehr in erster Linie der Kontrolle, sondern der präzisen Planung innerhalb eines Betriebs.»

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Ivo Muri befasst sich aber auch philosophisch mit Zeit. Im Jahr 2002 gründete der Betriebswirt, der 1998 den Zentralschweizer Jungunternehmerpreis erhielt, in Gondo VS ein Institut für Zeitwirtschaft und Zeitökologie namens Zeit und Mensch. Ihm als Unternehmer habe man zunächst nicht geglaubt, dass er es ernst meine mit neuen Ideen für die Zeitwirtschaft, sagt Muri: «Man warf mir vor, dass ich doch nur meine Erfassungssysteme verkaufen wolle.»

Das Institut mit Geschäftsstelle in Sursee ist ein Denk- und Lehrforum, in dem über die aktuellen und künftigen Anforderungen nachgedacht wird, die der Arbeitsmarkt bezüglich der Faktoren Zeit und Mensch stellt. Die vielfältigen Facetten des Themas Zeit werden interdisziplinär erforscht, Wissen gebündelt und in Form von Seminaren und Publikationen in der Öffentlichkeit verbreitet. Noch hat das Institut nicht den gewünschten Effekt erzielt. Doch immerhin startete im Rahmen eines Nationalfondsprojekts eine Zusammenarbeit mit der Universität Basel, es ergaben sich ein paar Beratungsmandate, und es fanden nebst einem ersten Seminar zwei internationale Expertentagungen statt.

«Die Menschen haben vergessen, was Zeit ist», sagt Muri. «Für uns ist Zeit die Uhr. Wenn ich aber zu einem Inuit sage, ich hätte keine Zeit, meint er, ich hätte keine Uhr. Zeit ist für ihn Leben.» Zeitexperte Muri ist überzeugt davon, dass Phänomene wie Arbeitslosigkeit, die 36-Stunden-Woche oder Working Poors mit gesichertem Wissen über die Zeit hinterfragt werden könnten. Und so würden neue Lösungen gefunden. «Ein paar Tausend Franken, investiert in die Zeitforschung, könnten Probleme lösen helfen, die uns heute Milliardenkosten bescheren», glaubt Muri und kämpfte folgerichtig schon im Jahr 2000, zur Gründungszeit der Universität Luzern, für einen Lehrstuhl für Zeitforschung. Bislang vergeblich.

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Junge Disziplin

Dass Zeitwirtschaft und -ökologie sich als feste universitäre Disziplinen noch nicht durchgesetzt haben, erstaunt Michel Baeriswyl nicht. Der 43-jährige Sozialpsychologe befasst sich seit über zehn Jahren mit dem Phänomen Zeit. Im Jahr 2000 erschien sein Buch «Chillout – Wege in eine neue Zeitkultur»*, in dem der Zürcher die Tempoexzesse der Nonstopgesellschaft beschreibt und aufzeigt, wie diese seiner Meinung nach in eine ökonomische, soziale und ökologische Sackgasse führen. Seit Erscheinen seines Buches habe sich die Problematik noch verschärft, meint Baeriswyl: «Mehr Effizienz, mehr Zeitdruck, mehr Zeitnot, mehr Nachtarbeit, mehr Entrhythmisierungen – die damit verbundenen Gesundheitsschäden haben weiter zugenommen.»

Bereits im Jahr 2000 zeigte eine Seco-Studie, dass Stress pro Jahr volkswirtschaftliche Kosten von mehr als vier Milliarden Franken verursacht. Für Baeriswyl steht fest, dass unser falsches Zeitverständnis mit der Entwicklung der Uhrzeit zusammenhängt. Das Problem sei, dass wir nicht mehr unterschieden zwischen mechanischer Zeit und der individuellen Ereignis- und Erlebniszeit. «Wir rennen nur noch der gemessenen Zeit nach und achten zu wenig auf den Satz ‹Alles hat seine Zeit›, wie er in der Bibel steht. Ein Satz übrigens, dessen Richtigkeit von der modernen Naturwissenschaft längst bestätigt wird.»

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Baeriswyl plädiert nicht für eine grundsätzliche Verlangsamung, sondern für eine neue Zeitkultur, welche die Eigendynamik der Natur respektiert und sich auf die Abstimmung zwischen natürlichen und kulturellen Rhythmen und Eigenzeiten einlässt.

Zum Beispiel der Schlaf: Noch vor hundert Jahren schliefen die Menschen durchschnittlich neun Stunden pro Tag. In den Sechzigerjahren waren es noch acht, heute gerade mal siebeneinhalb Stunden. Und die Zahl der Manager, die sich damit brüsten, mit fünf Stunden Schlaf auszukommen, steigt.

Zeitdefizit als Statussymbol

«Ich habe keine Zeit» ist einer der bei uns am häufigsten geäusserten Sätze. Baeriswyl bezeichnet ihn als gesellschaftlich legitimierte Ausrede, als Statussymbol mit der Message: «Ich bin wichtig.» Er habe das oft selbst ausprobiert. Sagte er, er habe genug Zeit, irritierte er sein Gegenüber. «Die Leute meinen, der ist krank, arbeitslos, faul – oder es stimmt sonst was nicht.» Dass sich viele im permanenten Stress befinden und diesen auch noch zu geniessen vorgeben, hat für Baeriswyl mit der Angst vor Leere und Ruhe zu tun. Einen Grund dafür sieht er auch in der Multi-Options-Gesellschaft: «Wir könnten permanent viel mehr unternehmen, als wir je Zeit dafür haben werden. Das führt zu einem Defizitgefühl. Man meint ständig, etwas verpasst zu haben.»

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Zeit-Workshops mit Kaderleuten hat Baeriswyl als wenig bereichernd erlebt. «Es war sehr frustrierend, weil ich zunehmend den Eindruck erhielt, dass die Leute nicht wirklich etwas verändern wollen. Ich hatte das Gefühl, an eine Wand zu reden. Die Manager wollen Tipps, und zwar so schnell wie möglich. Der Ausweg aus der persönlichen Beschleunigung kann sicher nicht schnell vor sich gehen», weiss der Zeitforscher.

Stattdessen befasst sich der Wissenschaftler aus Sicht des Gesellschaftstheoretikers und Kulturphilosophen mit dem Phänomen Zeit. Und da ist er durchaus nicht nur pessimistisch. «Wir leben seit gut 250 Jahren in einem Industriesystem, das nun langsam in eine andere Richtung zielt. Das ist ein langer gesellschaftlicher Prozess, wie es auch die Industrialisierung war.» Vermehrt vorhandene wissenschaftliche Fakten aus den Gebieten der Chronobiologie, der Psychologie und der Soziologie trügen zu dieser Entwicklung bei.

Das sieht auch Zeitexperte Ivo Muri so. Seine ablehnende Haltung etwa gegenüber längeren Ladenöffnungszeiten kann als altmodisch verstanden werden. Für Muri ist es die Einsicht, dass Zeitstrukturen Gesellschaftstrukturen bilden. «Noch Anfang der Sechzigerjahre traf sich in Sursee um 17 Uhr das ganze Dorf auf der Strasse. Feierabend bedeutete, dass man den Abend feierte.»

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Flexibilität braucht viel Planung

Die heutigen, oft grenzenlos flexiblen Strukturen machten die Menschen zunehmend orientierungslos. Die Frage nach der Flexibilität klammere aus, dass man sich diese nur durch einen gigantischen Zusatzaufwand an Planung und Koordination erkaufe. So mag auch Muri den Managern in seinen Seminaren nicht zeigen, wie sie ihre Agenden optimal führen könnten. «Es geht um eine Bewusstseinsveränderung zu kollektiver Zeitplanung und Zeitverantwortung», so Muri.

Michel Baeriswyl appelliert an den politischen Gestaltungswillen. «Wir müssen uns bewusst sein, wo wir Freiheiten haben und wo die Gesellschaft determiniert ist. Absurderweise suchen wir die Freiheit oft dort, wo es sie nicht geben kann, und geben sie dort auf, wo wir sie eigentlich hätten. Wir sind nun einmal abgestimmt auf einen natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus. Diesen permanent zu ignorieren, kann auf die Länge nicht aufgehen.»

Gegenbewegungen zur Nonstopgesellschaft wie etwa Slow Food oder Dark Sky Switzerland – eine Organisation, die gegen die Lichtverschmutzung und «das schleichende Verschwinden des Sternenhimmels» kämpft – stimmen Baeriswyl optimistisch, dass der Wille zur Verbesserung des Zeitbegriffs wächst. Die noch immer weit verbreitete Skepsis gegenüber Teilzeitarbeit ist für ihn Beispiel für ein «Rückzugsgefecht in Krisenzeiten. Was heisst schon Teilzeitarbeit? Es geht doch darum, eine individuelle und gesellschaftliche Balance zu finden zwischen Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit, zwischen Eigenzeit und fremd bestimmter Zeit», findet er: «Vollzeit ist bloss eine gesellschaftliche Konvention, kein Naturgesetz.»

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