«Liberalisierungen scheitern am Zuwenig, nie am Zuviel»
Für den Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Gary Becker führt trotz den zunehmenden Protesten kein Weg an der Globalisierung im Zeichen der freien Marktwirtschaft vorbei.
BILANZ: Professor Becker, die Proteste von Seattle, Göteborg und Genua waren Gewinnwarnungen für den Kapitalismus. Wenn jetzt selbst ein Chicago-Boy wie Sie konstatiert, seine Liebe zum freien Markt sei abgekühlt, muss einem überzeugten Marktwirtschaftler da nicht angst und bange werden? Gary S. Becker:
Alles bestens also, weitermachen wie bisher?
Die internationale Protestgeneration heizt Ihrer Meinung nach Politikern und Konzernchefs zu Recht ein?
Die Demonstranten glauben Blair und seinen Kollegen freilich nicht mehr.
Sehen Sie die Gefahr, dass die Terroranschläge gegen die USA die Stimmung auch innerhalb der amerikanischen Bevölkerung gegen die Globalisierung anheizen könnten?
Ihr Landsmann Samuel P. Huntington von der Harvard University hat die These aufgestellt, dass die Zeit der Konflikte zwischen Ideologien und Nationalstaaten abgelöst werde durch einen Konflikt der Zivilisationen.
Aber Sie müssen doch zugeben, dass im Vakuum der entideologisierten, vollends säkularisierten Wirklichkeit, in der allein die Ökonomie zu zählen scheint, das Bedürfnis nach Sinn und radikaler Kritik wächst.
Sie erhielten 1992 den Nobelpreis für das Theorem, dass auch ausserhalb des Marktes das gesamte menschliche Verhalten nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ausgerichtet sei und mathematisch dargestellt werden könne. Haben Sie damit nicht selbst eine Ideologie des Homo oeconomicus geschaffen?
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Ist Ihr Ansatz, den Menschen als eine Fabrik zu sehen, die streng nach ökonomischen Grundsätzen «Produkte» wie Kinder, Geborgenheit und Einkommen herstellt, für viele Menschen nicht dennoch die Klimax einer kalten, über alle menschliche Aktivitäten gelegte Ökonomie, gegen die man sich jetzt wehrt?
Und wenn Pierre Bourdieu, einer der Vordenker der Protestbewegung, heute eine Art Gegenreformation zur Vision einer alles durchdringenden Macht des Marktes ausruft …
Wird die Protestbewegung an dieser Widersprüchlichkeit scheitern?
Stimmt es Sie aber nicht auch besorgt, dass in den letzten Jahren Konglomerate entstanden sind, die über alle Klima- und Zeitzonen rund um die Uhr produzieren – gross, mächtig, kaum mehr steuerbar?
Das mag sein, aber selbst die scheinbar übermächtigen Konzernbosse zeigen sich doch überfordert. Cornelius Herkströter, Präsident des Ölgiganten Royal Dutch / Shell, beklagte, die Lösung politischer und ökologischer Probleme werde statt von Regierungen heute von Leuten wie ihm eingefordert. Dabei habe er gar kein Mandat, diese Aufgaben zu übernehmen.
Stichwort Finanzmärkte: Selbst Berufsspekulanten wie George Soros fordern, dass das globale Kasino mehr Kontrolle benötigt.
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Laut Soros sind die weltweiten Kapitalströme ihrem Wesen nach instabil.
Um die Finanzmärkte zu bändigen, fordern die Globalisierungskritiker eine weltweite Steuer auf alle Devisengeschäfte, die so genannte Tobin-Tax. Macht das Ihrer Meinung nach Sinn?
Die Kritik der Globalisierungsgegner erscheint wenn auch unausgegoren, so doch zumindest gut gemeint.
Spätestens seit New York und Washington wissen die westlichen Demokratien, dass der religiöse Fundamentalismus viel hässlicher ist, als es die Anti-Globalisierungs-Bewegung jemals sein könnte.
Wie werden die Vereinigten Staaten auf die Herausforderung reagieren?
Und dann? Sehen Sie die Gefahr, dass in den USA die Forderung nach einem neuen Protektionismus laut werden könnte?
Ihr Kollege Robert Samuelson warnt, dass sich andere Regierungen im Gefolge einer grossen Rezession gezwungen sehen könnten, wieder Schutzzölle gegen die ausländische Konkurrenz zu erheben. Spätestens damit würde die Globalisierung implodieren.
Die Entwicklungsländer leiden unter den teilweise unüberwindbaren Handelshürden, welche die Industrieländer errichtet haben.
Sind freier Markt und Globalisierung der einzige Gegenentwurf zu Armut und Unterentwicklung?
Das beste Gegenbeispiel ist doch Argentinien. Hier hat man seit den Siebzigerjahren auf die Strategien der Chicago-Boys gehört – und schlitterte von einer Krise in die nächste. Präsident Fernando De la Rúa verkündete zuletzt wieder einmal drakonische Sparmassnahmen, um die Zahlungsunfähigkeit zu verhindern.
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Was beweist das?
Kritiker behaupten, mit ihrem Engagement in Südamerika betrieben die Vereinigten Staaten heute wieder eine versteckte Form des Kolonialismus und hätten die Hilfen des Internationalen Währungsfonds an weit reichende Zugeständnisse geknüpft.
Solange steile Wachstumsraten die Herausbildung staatenloser Wirtschaftsräume abfederten, hielt sich der Unmut in Grenzen. Nicht ganz zufällig geht die neue Protestbewegung mit einer Wirtschaftsentwicklung einher, die dramatisch wirkt: Binnen weniger Monate stürzte das Wachstum in den Vereinigten Staaten von fünf auf unter ein Prozent ab.
Sind die gescheiterten Start-up-Unternehmer bis auf weiteres für den Kapitalismus verdorben? Eben noch galten sie als megacool, heute sind sie die grosse Lachnummer.
Quer durch Europa und in Asien haben viele Länder begonnen, das Wachstum ihrer eigenen Hightechstandorte durch staatliche Unterstützung zu fördern. Ist Ihnen das ein Dorn im Auge?
Was lässt sich von staatlicher Seite dennoch tun?
Für Regierungen ist es erfahrungsgemäss schwieriger, künstliche Hindernisse abzubauen, als grosszügige Förderprogramme ins Leben zu rufen.
Ihr Glaube an die Regulierungskräfte des Marktes in Ehren, aber neben dem Vorzeigeobjekt Silicon Valley gibt es in Kalifornien ja auch das Musterbeispiel einer total fehlgeschlagenen Liberalisierung: den Strommarkt.
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Was sagen Sie den Kritikern, die Kalifornien als Beispiel anführen, dass Deregulierung partout nicht funktioniert?