Guten Tag,
Nur Gott weiss, ob er noch weiss, wo ihm der Kopf steht. So viele flehen ihn derzeit um Beistand an - im Krieg gegen andere.
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Ein blutiges Vogelbein hängt aus der zerfetzten grünen Hose, der irakische Mann trägt das zerrupfte Vögelchen auf seinen Armen, die Hände sind blutverschmiert, der blutige Kopf mit den versengten, geschlossenen Lidern hängt resigniert zur Seite. Aber das Vögelchen in dem billigen lila Pullover scheint noch zu leben. Es ist ein kleines Mädchen, das Vogelbein ist der noch am Knie hängende Schienbeinknochen, der Rest fehlt. Am unteren Rand des Bildes lassen nackte Füsse weitere Tote und Verletzte erahnen. Collateral damage done by the «greatest military force on earth» (Bush) im Rahmen eines «Aktes der Humanität» (Rumsfeld), im Auftrag der frömmsten aller christlichen Nationen.
«Facts» und «Stern» haben das Foto gezeigt ? in den amerikanischen Journalen sucht man solches vergeblich. Fast alle stehen in «the greatest nation on earth» im Krieg zusammen und üben Selbstzensur und Medienkontrolle, die an sehr dunkle Zeiten im alten Europa erinnern. «Time» hat sich mit dem Foto eines Jungen ohne Arme und mit verbranntem Bauch schon sehr weit vorgewagt und wurde dafür auch kritisiert. Aber immerhin waren die Armstümpfe noch eingebunden.
Die Kriegsvögel der grossartigen Armee fliegen von vielen Gebeten getragen. Die Israelis beten für den Erfolg der US-Soldaten. Die Prediger und Fundamentalisten der grossen Nation beten öffentlich am Fernsehen, und inbrünstig wird auch im Weissen Haus gebetet. Wer allzu oft die Bibelstunde versäumt, wird ermahnt. Ob das Wort «Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen» ein beliebtes Thema ist, darf aber bezweifelt werden. Man fragt sich, ob Cheney für Ölbrände gebetet hat, da er ja indirekt an deren Löschung verdient, und ob Wolfowitz und Perle inbrünstig den nächsten ersehnten Befreiungsschlag, jenen gegen Syrien, herbeibeten oder beten, dass endlich Massenvernichtungswaffen gefunden werden. Millionen Moslems beten jeden Freitag für das Gegenteil, nämlich den Tod der verhassten Amerikaner, während US-Piloten beten, dass ihre Bomben treffen. Zürcher Rechte, Nette und Linke vereinten sich im Grossmünster und beteten für den Frieden, während Osama in seiner Höhle vermutlich um Unterstützung für ganz fürchterliche Scheusslichkeiten fleht.
Da müsste man doch eigentlich ganz langsam, aber sicher verrückt werden. Und ganz oben, über allem, muss man ob solch widersprüchlicher Botschaften schon ganz konfus sein, weil alle sich auf die dort angesiedelte höhere Macht verlassen. Bush weiss, dass sein Land mit den «finest people of the world» «God?s own country» ist, und Saddam verlässt oder verliess sich «einzig auf Gott den Allmächtigen und Grossen» (Originalton seines letzten Interviews).
Persönlich meine ich, der oberste Weltenlenker habe schon lange resigniert, spätestens im Dreissigjährigen Krieg, als Fraktionskämpfer der christlichen Religion die Hälfte der europäischen Bevölkerung für die eine oder andere Partei verbrannten, erschossen, aufhängten oder pfählten. Die Erkenntnis war wohl, dass man/Gott sich da besser heraushalte. Der Eindruck entstand wahrscheinlich schon während der Kreuzzüge und wird heute im nordirischen Tollhaus bestätigt. Gänzlich resigniert hat wohl die höchste Gewalt, als im Ersten Weltkrieg Geweihte seiner katholischen Fraktion sowohl französische als auch deutsche wie österreichische und italienische Kanonen zur Erzielung grösstmöglicher Effizienz segneten. Auch Arafat und Sharon dürfen wohl nicht auf allzu viel überirdischen Support zählen, obwohl man sie regelmässig bei religiösen Übungen sieht.
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Wenigstens das altmodische Europa hat nun zumindest für den Moment aus dieser heillosen Verwirrung gelernt. Für einmal darf man Chirac und Schröder wirklich mögen, und sogar Putin bekommt menschliche Züge. Das alte Europa ist vielleicht tatsächlich etwas differenzierter und vielleicht auch eine Spur menschlicher als andere Weltgegenden. Und statt zu beten und zu bomben, versucht es, etwas für die Leidenden zu tun, und tut es. Schliesslich sind die Médecins Sans Frontières, das Rote Kreuz und auch der Obdachlosenbus von Pfarrer Sieber zutiefst europäische Kreationen.
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