Guten Tag,
Zahlen Sie noch Steuern, oder sind Sie bereits am Optimieren? Solidarität ist zum Unwort geworden. Wir leben im Zeitalter der Einzelkämpfer.
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Einer meiner Bekannten, pensionierter Bankdirektor und FDP-Mitglied, hat es kürzlich auf den Punkt gebracht. Er habe am 16. Mai 2004 dreimal mit Nein gestimmt, weil aus seiner Sicht alle Vorlagen faule Kompromisse und damit gar nicht mehrheitsfähig gewesen seien.
Ausserdem sei er es leid, immer die Bedürfnisse anderer in den Vordergrund zu stellen und somit zu seinen Ungunsten zu stimmen. Natürlich wisse er, dass diese Haltung seinem eigenen Wohl kurzfristig dienlicher sei als dem der Allgemeinheit auf lange Sicht. Aber wer kümmere sich schliesslich heute noch darum?
Diese Meinung, und damit steht mein Bekannter nicht allein da, macht klar: Das jüngste Abstimmungsresultat war weit mehr als ein politischer Denkzettel. Das Malaise steckt viel tiefer. Der Bürger stimmt nur noch für seine Vorteile – das Volk optimiert. Doch wen wundert es? Schliesslich dienen Politik und Wirtschaft seit langem als Paradebeispiel für diese Haltung. Der Zeithorizont der meisten politisch Verantwortlichen reicht über die laufende Legislaturperiode kaum hinaus, ihr Handeln fokussiert konsequent auf die Chancen einer Wiederwahl. Nur nicht die stammwählende Klientel vor den Kopf stossen und unpopuläre Entscheidungen treffen! So entstehen Abstimmungsvorlagen, die keinem weh tun, aber auch keine Probleme lösen. Faule Kompromisse eben.
In der Wirtschaft läuft es nicht anders. Gewinnoptimierung und Befriedigung der Aktionäre sind die Zauberworte. Wen interessiert schon der einzelne Arbeitnehmer oder die Arbeitslosen? Viele Topmanager sind zu Sklaven dieser kurzfristigen Denkart geworden. Die Rendite muss stimmen, sonst ist das nächste Sesselrücken in den Vorstandsetagen bereits vorprogrammiert. Wer denkt schon angesichts der positiven Firmenbilanz darüber nach, dass der Preis dafür steigende Sozialausgaben sind, die ohnedies jeder von uns wieder mittragen muss?
Wenn dann ob der höheren finanziellen Belastung die Steueroptimierung zum Volkssport Nummer eins wird, erreicht der sozialwirtschaftliche Widerspruch seinen Höhepunkt. So beschäftigen Konzerne ganze Abteilungen mit der Erarbeitung neuer Fringe-Benefits, damit das Topmanagement in den Genuss steuerbegünstigter Entschädigungen kommt. Was Firmen recht ist, kann Privatpersonen nur billig sein. Ihre Finanzplaner optimieren mittels steuerlich vorteilhafter Kapitalanlagen, Einkäufen in die Pensionskasse und ähnlicher legaler Tricks deren Vorsorge, Vermögen und Einkommen. Wer will es dem Einzelnen verdenken, dass er versucht, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Doch wenn jeder dem Fiskus ein Schnippchen schlägt, können die Löcher im Sozialtopf kaum gestopft werden. So mutiert der neue Lohnausweis letztlich zum Steueroptimierungsmodell von Vater Staat.
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Auch in der beruflichen Vorsorge schreitet die Entsolidarisierung voran. Bauarbeiter bezahlen bereits dreimal so hohe Risikoprämien wie kaufmännische Angestellte. Wieso sollte auch ein Büromitarbeiter von den schwierigeren und gefährlicheren Arbeitsbedingungen eines Maurers tangiert werden? Natürlich ist jede Berufsgruppe für sich allein nicht überlebensfähig, deshalb muss man wohl nicht gleich die Risiken der anderen mitberappen. Ähnliche Denkmuster herrschen auch in Pensionskassen vor, die neuerdings den Rentenumwandlungssatz individuell nach Alter, Geschlecht und Status des Ehepartners berechnen.
Jedem das Seine oder «après moi le déluge».
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