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Essay: Tempo 30 in informationsberuhigten Zonen

Zeitprobleme: Der Konflikt zwischen der heute technisch möglichen Schnelligkeit und der im Menschen angelegten Langsamkeit treibt wunderliche Blüten.

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Vor gar nicht allzu langer Zeit wurden Briefe noch von Hand geschrieben und dann per Pferdekutsche und Segelschiff an ihren Bestimmungsort gebracht. Schreibmaschine, Eisenbahn und Dampfschiff beschleunigten den Vorgang, vom Flugzeug ganz zu schweigen. Aber: Noch in den Fünfzigerjahren musste ein Briefschreiber gut und gerne drei Wochen warten, bis die Antwort aus Übersee eintraf. Heute klicken wir das «Send»-Feld an – und schicken das E-Mail spätestens nach einer Stunde noch einmal ab, wenn die Antwort aus Neuseeland bis dahin ausgeblieben ist.

Will heissen: Im vorelektronischen Zeitalter waren Raum und Zeit noch miteinander verknüpfte Grössen. Um die räumliche Entfernung zu überwinden, brauchte es Zeit – im Zuge der technischen Entwicklung zwar stetig weniger, aber immer noch Zeit. Streng genommen, braucht es auch im elektronischen Zeitalter Zeit, um den Raum zu überwinden, denn die Bits und Bytes haben ebenfalls eine Reisegeschwindigkeit, wenn auch eine für den Menschen nicht mehr wahrnehmbare.

Biologisch unmöglich

Praktisch erleben wir heute in der Informationsübermittlung die Gleichzeitigkeit. Der einzige Störfaktor in dieser schnellen neuen Welt ist der Mensch selber, denn der muss die elektronisch transportierten Informationen erst einmal verfassen oder lesen, und beides verschlingt mehr Zeit als der Transport.

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Der Konflikt zwischen der technisch möglichen Schnelligkeit und der im Menschen angelegten Langsamkeit treibt wunderliche Blüten. Er führt erstaunlicherweise nicht dazu, dass man die Technik einfach Technik sein lässt, wenn sie für den Menschen zu schnell wird. Sondern dazu, dass man nun versucht, auch den Menschen zu beschleunigen. Zwar haben technische Umwälzungen – von der Erfindung des Rades über die Schrift bis zur Telefonie – schon immer die Arbeitsweise der Menschen verändert und meist beschleunigt. Neu am elektronischen Zeitalter ist jedoch, dass die Beschleunigung gegen unendlich tendiert, dass der Transport von Informationen praktisch gar keine Zeit mehr in Anspruch nimmt. An dieses Tempo kann sich die Arbeitsweise des Menschen nicht mehr anpassen, es ist biologisch unmöglich. Und es wäre, mit Verlaub, kulturell unerwünscht.

Eine Flut von Informationen

Denn die Schnelligkeit der Übermittlung bedeutet auch, dass alle Informationen überall gleichzeitig verfügbar sind. Der Einzelne hat es also nicht nur mit spezifisch für ihn verfassten Mitteilungen zu tun, sondern mit einer Flut von Informationen, von denen er allenfalls einen kleinen Bruchteil wirklich benötigt. Die Zeit, die wir mit dem schnelleren Transport einsparen, verwenden wir nicht darauf, die Informationen auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen, zu interpretieren und dann in unseren Erfahrungsschatz einzubauen, sondern darauf, noch mehr Informationen zur Kenntnis zu nehmen.

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Das wiederum heisst, dass uns für jede der immer zahlreicher eintreffenden Informationseinheiten immer weniger Zeit zur Verfügung steht. Wir sind zunehmend unfähig, die vielen Informationen nach ihrer Bedeutung zu gewichten; wir verlieren die Übersicht. Wir haben immer mehr Informationen, aber wir sind immer schlechter informiert.

Das liegt daran, dass es in dieser rasend schnellen und unaufhörlich rauschenden Informationsflut kein Vorher und kein Nachher mehr gibt. Eine Information kann gar keine Vorgeschichte haben – um die herauszufinden, fehlt uns die Zeit; und sie kann keine Folgen in der Zukunft haben – um über die nachzudenken, fehlt uns ebenfalls die Zeit.

Als Martin Luther 1517 seine 95 Reformationsthesen an die Kirchentüre zu Wittenberg heftete, hatte er etliche Jahre des inneren Kampfes um den richtigen Glauben und des äusseren Kampfes gegen den Ablasshandel hinter sich. Bis sich seine Thesen in Europa verbreitet hatten, gingen einige Jahre ins Land. Und bis der katholische Klerus flächendeckend zurückschlagen konnte, brauchte er einige Jahrzehnte. Heute hätte Martin Luther eine Website und könnte seine Thesen ohne weiteres ins Netz hängen, wo sie innert Sekunden weltweit Verbreitung fänden. Und der Vatikan könnte Minuten später seine Position ebenfalls weltweit bekannt machen. Die Menschheit wäre auf diese Weise zwar informiert, wüsste aber nichts über die Vorgeschichte und ahnte nichts von den epischen und zuweilen auch kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Widersachern, aus denen sich erst jene Positionen herausbildeten, die bis ins 21. Jahrhundert nachwirken sollten.

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Will heissen: Die Wirklichkeit der Gegenwart als Folge vorangehender und als Grundlage zukünftiger Prozesse zu verstehen, wird immer schwieriger. Uns wird letzten Endes nichts anderes übrig bleiben, als die Informationsflut zu verlangsamen.

Wir bauen heute Automobile, deren technisch mögliche Höchstgeschwindigkeit weit über alles Erlaubte hinausgeht Doch keiner darf in der Schweiz mehr als 120 fahren, und in vielen Wohngebieten gar nur 30. Das zeigt, dass es möglich ist, technische Systeme zu entschleunigen, dass technische Systeme nicht stets alles sollen machen dürfen, was sie können.

Wenn wir mit «Tempo 30 in informationsberuhigten Zonen» mehr (Zeit-)Raum für das Denken über Vergangenheit und Zukunft gewönnen, dann würden wir vielleicht auch unsere Gegenwart wieder ein wenig besser verstehen.

Gerd Löhrer ist Redaktor bei BILANZ.

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