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Essay: Das Kleinbürgerliche der Konsequenz

«Eigener Geschmack ist so selten wie eigenständiges Denken und genauso wertvoll.» Adam Bronstein: «Tagebuch eines Kapitalisten»

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Wie schäme ich mich heute über die Finsternisse meiner Geschmacklosigkeit. Wie in Dantes «Divina Comedia» waren es Kreise der Hölle. Der einzige Trost liegt darin: sie wurden mit zunehmendem Alter kühler und blasser. Sollte ich hundert Jahre alt werden, werde ich vielleicht noch einen Tag vollendeten Geschmacks erleben. Dann würde ich sagen können, ich sei – auch in Fragen des Interiors – zweimal gut gewesen: einmal als Kind, einmal im höchsten Alter.

Gegen den Einrichtungsstil des Kindes, das ich war, ist weder theoretisch noch praktisch etwas einzuwenden. Nach übereinstimmender Aussage meiner Eltern war ich ein Berserker. Noch heute besingen sie meinen Egoismus und Gestaltungswillen. Ich ordnete alle meine Möbel neu an, also den Zeichentisch, das Kinderbett und die wahnsinnig wichtigen Regale, in denen neben den Standardwerken «Pippi Langstrumpf» und «Hadschi Bradschi Luftballon» eigentlich nur Koala-Bären und die Modelle nachtschwarzer Gangsterlimousinen standen.
Bei der Neuordnung der Möbel zeigte ich vermutlich einen kindlich-unverdorbenen Instinkt für Feng Shui, den man später als Erwachsener erst wieder mühselig lernen muss. Die Wände und der Fussboden trugen im buchstäblichen Sinne meine Handschrift. Ich bemalte sie mit den Gestalten meiner Fantasie. Viele Jahre später, als ich bereits die Hochschule besuchte, kam man dahinter, dass ich selbst die Unterseite meines Tischchens bemalt hatte.

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Kurzum: alles war mein eigener Stil. Dieses Selbstbewusstsein habe ich nie wieder erreicht. Und, wie ich fürchte, auch meine Freundinnen und Freunde und Leserinnen und Leser nicht.
Es ist ein Fluch des Erwachsenwerdens, die egoistische Unbekümmertheit der Kindheit zu verlieren. Später schielt man nach rechts und links. Es wird wichtig, was andere denken. Dies ist das Ende der Unschuld. Wie in der Paradies-parabel der Christen wirst du dir deiner Nacktheit bewusst, fängst an, dich zu bekleiden. Kleidung und Einrichtung sind dann immer auch Maske und Rollenspiel.

Kurzum: nach der Kindheit beginnt die Epoche der Fremdbestimmung, der viele zeitlebens nicht entrinnen. Du richtest dich nicht mehr so ein, wie du dich am wohlsten fühlst. Sondern so, wie man sich einrichtet. Das Wort man ist das Schlüsselwort einer geistesarmen Schickimicki-Gesellschaft. Deren Uniformität wird dadurch überdeckt, dass sie in Zeitung und TV als geschmacksbildender Teil der Bevölkerung gefeiert wird. Das Gegenteil ist der Fall. Ich weiss, wovon ich rede. Ich wurde in viele dieser Wohnungen geladen. Als ich diese Einladungen noch annahm, entdeckte ich, wie schön eine unverdorbene Almhütte, ein japanisches Teehaus oder das verrückte Atelier eines verarmten Künstlers sein können. Denn jene anderen Wohnungen und Häuser waren nicht für ihre Bewohner eingerichtet, sondern für Besucher.

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Die fremdbestimmten Wohnräume zeigen einige Todsünden, die man als Aussenstehender sofort spüren kann.
Todsünde 1: Schwärmerei und Signale. Bei Teenagern entzückend, bei Erwachsenen peinlich. Betagte Frauen deuten mit dem teuer gerahmten Poster des nackten Rudolf Nurejew unverminderte Sinnlichkeit an. Betagte Herren beweisen mit Einstein, Russell oder Bellow an der Wand ihre geistige Tiefe.

Todsünde 2: Angeberei. Hierzu ein beklemmendes Beispiel: Ein Neureicher, der eine kleine frühe Picasso-Zeichnung mit einer eigens geätzten Kupferplatte als solche kenntlich machte. Welch ungeschick- ter Aufwand. Die Dummen interessiert es nicht, die Klugen hätten eh gefragt.

Todsünde 3: Stilreinheit. Geistloses Strebertum enger Geister, die nie die Frische des Unreinen und Multikulturellen fühlten. Der Gegenpol sind die Sauhaufenwohnungen internationaler Souvenirsammler. Man hat da die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Todsünde 4: Farbreinheit. Die billigste Art, schein-originell zu sein.

Bin ich mit dieser grausamen Aufzählung ein Feind der Einrichtungsberater und Einrichtungshäuser? Ganz im Gegenteil. Sie sind grosse Hilfen, um das interessanteste Neue und qualitativ Beste im Rahmen des eigenen Geschmacks zu finden. Man darf ihnen nur nicht übel nehmen, dass sie auch dann antworten, wenn ein reicher, armselig Fremdbestimmter fragt, was gerade gefragt ist.

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Helmut A. Gansterer ist Herausgeber des Wirtschaftsmagazins «Trend» in Wien.

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