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Neue Direktorin des Kunst­museums Basel

«Das Museum soll nicht nur ein Mausoleum sein»

Elena Filipovic, die erste Frau an der Spitze des Kunstmuseums Basel, bringt kalifornische Lässigkeit und europäische Ernsthaftigkeit zusammen.

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Brigitte Ulmer

<p>Die Amerikanerin lernte in ihrem multikulturellen Zuhause, zwischen verschiedenen Weltanschauungen zu navigieren.</p>

Die Amerikanerin lernte in ihrem multikulturellen Zuhause, zwischen verschiedenen Weltanschauungen zu navigieren.

Xandra M. Linsin

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Elena Filipovic lebt Widersprüche, und sie tat es schon immer: Als kleines Mädchen einer Mutter aus Ecuador und eines Vaters aus Ex-Jugoslawien, das in ihrem Elternhaus in Los Angeles mehrere Sprachen sprach. Oder heute, als erste Frau an der Spitze des Kunstmuseums Basel – das mit seiner Sammlung über acht Jahrhunderte Kunstgeschichte erzählt –, nachdem sie zehn Jahre lang zeitgenössische Kunst an der Kunsthalle Basel kuratiert hatte. Bei der 52-jährigen Amerikanerin trifft zudem kalifornische Lässigkeit auf europäische Ernsthaftigkeit, charmante Leichtigkeit, aber zugleich Verbindlichkeit im Umgang mit Menschen auf akademischen Tiefgang.

Als fünfjähriges Mädchen stand Elena Filipovic zum ersten Mal vor einem Kunstwerk, das ihr den Atem raubte.

Erzählen Sie uns von Ihrer ersten Begegnung mit Kunst. 

Elena Filipovic: Daran kann ich mich gut erinnern. Ich wurde auf einem Kindergartenausflug in ein Museum mitgenommen, in Los Angeles, wo ich aufgewachsen bin. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen in einer Familie mit Migrationshintergrund gross geworden. Bei uns gab es keine Oper, keine Kunst, keine Bücher. Dieser Museumsbesuch erschien mir magisch. Er hat mich tief bewegt. Meine Eltern erzählen, dass ich danach nur noch über dieses Museum gesprochen habe.

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Zwischen dem ersten Museumsbesuch und Ihrer heutigen Position liegt fast ein halbes Jahrhundert. War Ihr Weg geradlinig?

Nicht von Beginn weg. Mir wurde vermittelt, dass ich als Kind von Immigranten etwas Seriöses machen und darin erfolgreich sein sollte. Etwas Seriöses bedeutete: Ärztin oder Juristin werden, sicher nicht Kunsthistorikerin. Ich plante, Jura zu studieren, ich wollte Juristin für Museen und Künstler werden. 

Stattdessen wurden Sie Kuratorin. 

Am Abend, bevor ich meine Bewerbung für die Law School abschicken wollte, feierte ich mit meinen Freundinnen in einer Bar und kam mit einem Barkeeper ins Gespräch, der mich fragte, was und welche Art von Jura ich studieren wollte. Er stellte dann immer mehr Fragen: Warum Museen? Warum Künstler? Meine Antworten machten ihm klar, wie sehr ich in einem Museum sein wollte, und so sagte er: «Du willst Kuratorin sein, nicht Juristin.» Das Faszinierende war: Sein Vater war Museumsdirektor, seine Mutter Kuratorin – er wusste also genau Bescheid. Er gab mir die Worte für das, was ich tief in mir spürte. 

Sie studierten dann Kunstgeschichte, forschten in Paris zur französischen Avantgarde und zu Marcel Duchamp. 

Duchamp interessierte mich, weil er immer wieder die Normen hinterfragte, wie Ausstellungen gemacht wurden. Er kam von der Moderne, schaute zurück in die Vergangenheit und nach vorne in die Zukunft. Er pendelte zwischen Tradition und Innovation. Ich fand das faszinierend.

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<p> «Riverhead» von Helen Ffrankenthaler (1963).</p>

 «Riverhead» von Helen Ffrankenthaler (1963).

Max Ehrengruber
<p> «Riverhead» von Helen Ffrankenthaler (1963).</p>

 «Riverhead» von Helen Ffrankenthaler (1963).

Max Ehrengruber

In Paris begegneten Sie dem Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist. Welche Rolle spielte er?

Die Jahre mit Hans Ulrich waren unglaublich inspirierend. Ich war ja ursprünglich klassisch ausgebildet, aber er führte mich in die Welt der zeitgenössischen Kunst ein. Ich arbeitete mit ihm unter anderem für die Biennale-Ausstellung «Utopia Station». Gleichzeitig habe ich an meiner Dissertation über Duchamp geschrieben und nebenbei als Buchhändlerin, Lektorin, Kunstkritikerin gearbeitet. Durch die Kombination von Duchamp und Hans Ulrich habe ich verstanden, welche Möglichkeiten Ausstellungen als Form des Denkens und des Erzählens bieten. Durch ihn habe ich gelernt, wie wichtig Geschichte für die Gegenwart ist – und wie wichtig die Gegenwart ist, um Geschichte zu verstehen. 

Viele Jahre stellten Sie zeitgenössische Kunst aus, zuletzt an der Kunsthalle Basel. Als Direktorin des altehrwürdigen Kunstmuseums Basel stehen Sie nun aber einer Sammlung vor, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Ein Riesensprung. Was ist hier Ihr Ziel?

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Das Museum soll nicht nur eine Schatztruhe der Kunst, ein Mausoleum sein. Ich sehe meine Rolle darin, den Besuchenden verstehen zu helfen, dass wir von den Geschichten der Vergangenheit lernen können, aber auch, wie diese Geschichten immer wieder neu interpretiert werden. Die Sammlung muss lebendig gehalten werden. Ich war erstaunt, zu erfahren, dass ein Grossteil der Sammlung seit Jahrzehnten nicht mehr neu präsentiert worden war. Ich initiierte eine Umhängung, in der wir neue Akzente setzen. Zum Beispiel haben wir ein kleines, aber unglaublich bedeutendes Werk aus einer vergessenen Ecke ins Spotlight geholt. Es ist das Selbstporträt der Malerin Catherina van Hemessen aus dem Jahr 

1548 und gilt als eines der frühesten bekannten Selbstporträts der westlichen Kunstgeschichte einer Künstlerin – und das erste eines Kunstschaffenden bei der Arbeit überhaupt. Dieses Selbstbewusstsein van Hemessens, sich sichtbar zu machen, beruflich wie intellektuell, ist bis heute radikal. 

Ich nehme an, Sie wollen noch mehr Frauen ins Rampenlicht rücken?

Das ist eines meiner Ziele, aber nur eines von vielen. Wir haben kürzlich «Bloomsday» (1962) von der Minimal-Art-Künstlerin Anne Truitt erworben. Obwohl es auf den ersten Blick schlicht wirkt, trägt es doch die Spuren ihrer Hand – im Kontrast zum industriellen Glanz und Perfektionismus des Minimalismus. Dadurch fordert es eine intimere, reflektiertere Aufmerksamkeit ein. Ausserdem haben wir Werke von Louise Lawler und Julie Mehretu in die Sammlung aufgenommen. Es gibt noch viele Lücken. 

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Gibt es Werke aus der Sammlung, die Ihnen besonders am Herzen liegen? 

Absolut. Natürlich bin ich, wie die meisten Menschen, jedes Mal zutiefst beeindruckt von «Der tote Christus im Grab» (1521–1522) von Hans Holbein dem Jüngeren, einem ikonischen Werk. Es ist die Mona Lisa in Sachen Tod und Vergänglichkeit. Dieses 500 Jahre alte Gemälde wirkt heute noch genauso unheimlich wie bei seiner Entstehung. Es spricht über Sterblichkeit, Leben und Tod, Glauben und Körperlichkeit. Dostojewski reiste dafür extra nach Basel, erlitt einen Anfall, nachdem er von dem Werk völlig verstört war, und schrieb dann eindrucksvoll darüber in «Der Idiot». Und Kunstschaffende von Gerhard Richter bis Marlene Dumas haben es studiert, um ihre eigenen malerischen Darstellungen des Todes zu schaffen. Ganz am anderen Ende des Spektrums steht Helen Frankenthalers «Riverhead» (1963), eine neuere Schenkung an die Sammlung. Es ist ein Gemälde mit grosser emotionaler Tiefe und einer Art von Weite, die zum langsamen Sehen einlädt. Frankenthalers Beitrag zur Erweiterung der Sprache der Abstraktion ist enorm. Dieses Werk ergänzt die männlich geprägten amerikanischen abstrakten Expressionisten in unserer Sammlung um eine bedeutende weibliche Stimme. Generell fühle ich mich zu Werken hingezogen, die Fragen von Identität, Macht und Sichtbarkeit verhandeln – Themen, die momentan von grosser Dringlichkeit sind.

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Wie beeinflusst der Umstand, dass Sie lange nur von zeitgenössischer Kunst umgeben waren, Ihr Sehen von älterer Kunst?

Ich denke, die Betrachtung zeitgenössischer Werke kann tatsächlich helfen, ein historisches Werk neu zu verstehen. Ein gutes Beispiel ist unsere Ausstellung des fast vergessenen italienisch-französischen Bildhauers Medardo Rosso. Viele Künstler – darunter Constantin Brancusi und Louise Bourgeois – haben ihn als enorm einflussreich bezeichnet. Ich stiess erstmals auf Rosso in Mailand, als ich mit einem Künstler die Kunstakademie besuchte, und war sofort fasziniert. Er revolutionierte die Bildhauerei! Doch erstaunlich ist auch, wie dieser bedeutende Künstler von der breiten Öffentlichkeit und der Kunstgeschichte übersehen wurde.

«Los Angeles hat mir beigebracht, wie man auf die Welt schaut.»

Sie sind in Los Angeles aufgewachsen und leben seit fast drei Jahrzehnten in Europa, seit über zehn Jahren in Basel. Welche Kultur oder Stadt hat Sie am tiefsten geprägt?

Das ist schwer zu beantworten, weil ich das Gefühl habe, mein ganzes Leben zwischen Kulturen gelebt zu haben. In Los Angeles aufzuwachsen, mit Eltern aus so unterschiedlichen Herkunftsländern, bedeutete, dass ich selbst zu Hause immer zwischen verschiedenen Weltanschauungen navigierte. Das hat mir eine gewisse kulturelle Beweglichkeit verliehen – aber auch das Gefühl, nie ganz dazuzugehören. Wenn ich eine Stadt wählen müsste, die mich am tiefsten geprägt hat, wäre es wohl tatsächlich Basel. Basel ist der erste Ort, an dem ich mich wirklich mit der Frage auseinandersetzen musste, was es bedeutet, gemeinsam mit einer Institution – und mit einem Publikum – Geschichte zu schreiben. Es ist eine Stadt, in der Tradition und Experimentierfreude in besonderer Weise koexistieren. Das hat mich herausgefordert und geformt. Gleichzeitig war es Los Angeles, das mir beigebracht hat, wie man auf die Welt schaut – und wie man Fragen an sie stellt. Es hat mir einen Blick von aussen gegeben, den ich bis heute in mir trage.

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<p>«Bambino malato» von Medardo Rosso (1895).</p>

«Bambino malato» von Medardo Rosso (1895).

Max Ehrengruber
<p>«Bambino malato» von Medardo Rosso (1895).</p>

«Bambino malato» von Medardo Rosso (1895).

Max Ehrengruber

Wie erleben Sie als weitgereiste Kuratorin Basel? 

Die Stadt ist zugleich zutiefst lokal und leise international. In Basel gibt es eine besondere Intimität, Ernsthaftigkeit und Tiefe, mit der sich die Menschen mit Kultur auseinandersetzen – ganz anders als in grossen Städten, in denen alles schnell geschieht und Sichtbarkeit über allem steht. Während der Art Basel wird die Stadt zu einer globalen Bühne. Das bringt eine unglaubliche Energie mit sich.

51 Wochen lang ist die Stadt aber dann wieder relativ ruhig, klagen viele Basler.

Ja, das Interessante ist für mich tatsächlich dieser Kontrast: wie schnell die Stadt wieder zur Ruhe kommt. In den Monaten dazwischen geschieht die eigentliche Arbeit. Das Nachdenken, die Gespräche, das langsame Aufbauen von etwas Bedeutungsvollem. Diesen Rhythmus habe ich besonders schätzen gelernt. 

Gibt es Bereiche ausserhalb der bildenden Kunst, die Ihr Denken prägen? 

Literatur war immer ein grosser Einfluss – vor allem Autorinnen und Autoren, die über Grenzen und Identitäten hinweg denken. Ich komme immer wieder zurück zu Leuten wie James Baldwin, Susan Sontag oder James Joyce. Sie haben mir viel über Struktur, Intimität und die Bedeutung von Mehrdeutigkeit beigebracht. Auch Film spielt eine Rolle – in Bezug auf Atmosphäre, Gestik und Stimmung. Ich liebe die Präzision einer Claire Denis oder die stille Autorität in der Bildsprache von Chantal Akerman. 

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Jede Ausstellungseröffnung ist eine Art Performance. Wie präsentieren Sie sich gern?

Vernissagen sind für mich eher Rituale: Momente des Zusammenkommens, des Gastgebens, nicht des Rampenlichts. Ich habe nichts gegen Sichtbarkeit, aber ich möchte sie nutzen, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen – damit sich Menschen in der Kunst zu Hause fühlen. Ich trage dabei gern Kleidungsstücke mit Präsenz, aber ohne zu laut zu sein. Viel Vintage, etwas Tailoring, etwas, das zeigt, dass ich mir Gedanken gemacht habe – aber nicht zu viele. Oft ist es ein bisschen neben der Spur.

<p>«Eleven» von Kaari Upson (2020).</p>

«Eleven» von Kaari Upson (2020).

Max Ehrengruber
<p>«Eleven» von Kaari Upson (2020).</p>

«Eleven» von Kaari Upson (2020).

Max Ehrengruber

Haben Sie Designerfavoriten?

In der Mode ziehen mich Designer an, die eine eigene Welt erschaffen, statt einer hinterherzulaufen – Rei Kawakubo, der frühe Azzedine Alaïa, Jonathan Anderson – und eigentlich so ziemlich alles aus den 1980er-Jahren. 

Wenn Sie mit ein paar Künstlerinnen und Künstlern – lebend oder verstorben – ein Picknick machen könnten, wen würden Sie auf die Decke einladen? Ich wette, Duchamp wäre dabei. 

Duchamp auf jeden Fall! Ich würde ihn gern in seinem smarten Anzug sehen, wie er so tut, als langweilte er sich, während er in Wahrheit alles genau registriert. Ich glaube, ich würde ihn neben Cameron Rowland setzen, der zu Themen wie Macht und Ausbeutung arbeitet – einfach, um die Funken sprühen zu sehen. Beide verstehen sich auf Systeme und Subversion, aber kommen aus ganz unterschiedlichen Welten. Dazu Louise Bourgeois. Sie würde Intensität mitbringen, die Psychologie, die Kindheitsgeschichten. Sie würde eine unerwartete Seelenverwandtschaft mit Medardo Rosso entdecken, dessen Werk von Vergänglichkeit und Verletzlichkeit handelt. Sie würden emotional dieselbe Sprache sprechen, über alle Zeiten hinweg. Und Kaari Upson. Nicht nur, weil ich glaube, dass sie das beste Essen mitbringen würde, sondern weil sie verstanden hat, wie man Trauma, Lachen, Erinnerung und materiellen Exzess mit unglaublicher Grosszügigkeit kombiniert. Kaari würde alle auf der Picknickdecke erden. Wahrscheinlich würden wir über das Scheitern sprechen. Darüber, was erinnert wird – und was nicht. Über Schönheit und Wut. Über Mütter. Ich würde einfach hoffen, dass ein Lüftchen weht – und dass wir genug Zeit zum Zuhören haben.

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