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Tourismus

Zermatt: Das mystische Dorf ist ein riesiger Familienbetrieb

Zermatt gehört endgültig in den Olymp der Wintersportorte. Dabei funktioniert das mystische Dorf ganz anders als St. Moritz, Gstaad oder Verbier. Noch.

Marc Kowalsky

Ausblick von der Tufternkumme aufs Matterhorn

BERGIDYLL Die Pisten bieten immer wieder faszinierende Ausblicke, wie hier von der Tuftkernkumme aufs Matterhorn und das Dorf.

Jasmin Scherrer

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An diesem lauen Montagabend ist die Terrasse des Fünfsternhotels Cervo gedrängt voll. Rund 100 Leute sind zusammengekommen, Hoteliers, Gastronomen, Lokalpolitiker, Alteingesessene: The inner circle of Zermatt trifft sich zum jährlichen Barbecue. Es gibt Luftgetrocknetes vom Wagyu, Ciabatta mit Hirschfleisch, frittierte Pouletschenkel, gesponsert von den Gastronomielieferanten. Gleich mehrere Weingrosshändler fahren ihre neuen Jahrgänge auf. Zwei Themen dominieren die Unterhaltungen: Die dank der vielen Sonnentage hervorragende Sommersaison. Und der Skiweltcup, der nach 55 Jahren diesen Winter erstmals nach Zermatt zurückkommt. «Das wird ein gewaltiges Happening und tolle Bilder liefern», sagt Gastgeber Daniel Lauber, Gründer des «Cervo»: «Der Marketingwert ist unbezahlbar.»

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Bisher war Zermatt ein eher stiller Star, interessant vor allem für Skifahrer. 360 Pistenkilometer auf 2000 bis 3900 Metern Höhe, das kann kein anderer Wintersportort bieten, mit immer wieder spektakulären Ausblicken. Das Ganze bei über 300 Sonnentagen im Jahr. 38 Gipfel mit über 4000 Metern Höhe sind vom Matterhorn aus zu sehen, die Hälfte aller Viertausender in den Alpen. Kein Wunder, verzeichnete das Dorf mit seinen 5400 Einwohnern stolze 2,3 Millionen Übernachtungen vor der Corona-Krise, 40 Prozent davon aus der Schweiz. Mehr Logiernächte verbuchen hierzulande nur die Flughafenstädte Zürich und Genf. Dennoch spielte Zermatt nie in der Liga von St. Moritz oder Gstaad.

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Bislang. Denn derzeit ändert sich so ziemlich alles am Fusse des Matterhorns.

Das Horu, wie es die Einheimischen nennen, prägt das Dorf, klar. Von quasi überall ist es sichtbar. Die markante Form freilich gibt es nur auf der Schweizer Seite, von der italienischen her bietet es kaum Wiedererkennungswert. Mindestens genauso wie sein Wahrzeichen aber prägt die enge Kessellage das Dorf: eine Zugstunde von der nächsten Stadt Visp, am Ende des langen Mattertals, ein Ort, von dem aus es nicht mehr weitergeht – das macht etwas mit der Mentalität der Leute. Die Zermatter waren immer verschlossen gegenüber fremden Einflüssen.

Das wahre Machtzentrum ist hier auch nicht die politische Gemeinde, das wahre Machtzentrum ist die Burgergemeinde – jene 1500 Einwohner, die den alteingesessenen Familien angehören. Im 700 Seiten starken Burgerbuch, das in der Gemeinde aufliegt, sind sie säuberlich aufgeführt, zurück bis 1691: die Biners (Hotels, Bäckereien), die Schallers (Bau, Entsorgung, Taxi), die Perrens (Metzgereien, Uhrenläden, Hotels, Air Zermatt), die Aufdenblattens (Hotels, Restaurants). Und natürlich die Julens, einst eine arme Schäferfamilie, streng katholisch, aber arbeitsam und mit progressiven Ideen und daher lange Zeit unbeliebt im Dorf.

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Sie errichteten 1956 eine eigene Skischule, in der sie amerikanischen Prominenten wie den Kennedys, den Gettys, den Pulitzers oder der Ketchup-Familie Heinz den damals neuen Parallelschwung beibrachten, und im gleichen Jahr – gegen den Willen der Bevölkerung – einen privaten Lift, der die beiden Skigebiete Gornergrat und Sunegga verband. Später konnten sie ihn für viel Geld in die Zermatter Bergbahnen einbringen. Heute sind die verschiedenen Julen-Zweige ein wichtiger Machtfaktor im Dorf.

Auch sonst zeigte Zermatt immer wieder Pioniergeist: mit der Gornergratbahn, schon 1898 in den Fels gehauen, mit dem ersten Skilift auf die Sunegga 1942, mit der Bahn aufs Klein Matterhorn 1979. Damals gab es Morddrohungen gegen den Präsidenten der Bergbahnbetriebe. «Heute hätten wir keine Zukunftsperspektive ohne sie», sagt Skilegende Pirmin Zurbriggen, der in Zermatt ein Hotel betreibt. Und die Rothornbahn setzte als eine der ersten Bergbahnen auf Schneekanonen.

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Intaktes Dorfleben 

Vor allem weigerten sich die Burger bei allen Projekten, Geld von aussen anzunehmen. So gehören der Burgergemeinde noch heute grosse Anteile an den für die Destination so wichtigen Bergbahnen und an Air Zermatt, sie besitzt Hotels wie das «Gornergrat» und den «Zermatterhof» oder viele, vor allem grössere Restaurationsbetriebe auf den Pisten – plus alle landwirtschaftlich nutzbaren Flächen rund ums Dorf. Auch sonst sind bis heute fast alle Hotels und Restaurants, Läden und Dienstleister in Zermatter Hand – während sich in Verbier, Crans-Montana oder Saas Fee die Investoren die Klinke in die Hand geben, mit teils verheerenden Folgen für das Dorf.

«Wir haben das Schicksal in unseren eigenen Händen, deshalb ist Zermatt so erfolgreich», sagt Franz Julen, Präsident der Zermatter Bergbahnen und des Organisationskomitees für den Weltcup. Und weil die Betriebe zum Teil seit Generationen in der Familie weitergegeben werden, ist auch das Dorfleben noch intakt. «Das macht Zermatt einzigartig», sagt Gemeindepräsidentin Romy Biner-Hauser: «Wir müssen dafür Sorge tragen, das zu erhalten.»

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Auch die strengen Bauvorschriften sorgen dafür, dass Zermatt, anders als Davos oder Verbier, seinen dörflichen Charakter behalten hat: Zwei Drittel der Fassade müssen aus Holz sein, es sind mit ganz wenigen Ausnahmen nur Giebeldächer erlaubt, sogar die Innennutzung muss genehmigt werden: «Ich muss sogar die Details der Lüftungskästen einreichen», schimpft ein Bauherr, «das löst enorme Vorkosten aus.» Ein anderer klagt: «Bis zur Vorbewilligung kann es gerne eineinhalb bis zwei Jahre dauern.»

Und dann ist das Dorf autofrei, bereits seit 1961, als Nachhaltigkeit noch kein Thema war. Nur normierte Elektrokarren dürfen die Strassen benutzen, 550 davon surren auf streng definierten Routen. Produziert werden sie von zwei Firmen vor Ort, zum Stückpreis von über 100 000 Franken ohne Extras – wer denkt, das sei teuer, hat noch nicht die Preise der Elektrobusse gesehen: Sie starten bei einer halben Million. Die Warteliste beträgt über ein Jahr, als Privatperson hat man kaum eine Chance auf so ein unförmiges Gefährt mit dem Komfort einer Postkutsche.

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«Eine USP von Zermatt», nennt es Gemeindepräsidentin Romy Biner-Hauser. Sonstige Autos müssen draussen bleiben: Einheimische mit entsprechender – kostenpflichtiger – Bewilligung dürfen ihr Fahrzeug im Parkhaus am Dorfeingang abstellen, alle anderen müssen es im Nachbardorf Täsch stehen lassen. «Es tut den Gästen gut, wenn ihr Statussymbol draussen bleibt», hat Lauber festgestellt. «So sind sie ungezwungener.»

Vielleicht auch, weil man nicht mit dem Bentley vorfahren kann, gibt es keine Luxusläden in Zermatt – Moncler ist das höchste der Gefühle. Vielleicht aber auch, weil das Matterhorn die Show stehlen würde: «Wir haben unseren Rockstar», nennt es Heinz Julen, Hotelier, Künstler, Co-Gründer des Musikfestivals Zermatt Unplugged und eine der treibenden Kräfte Zermatts. Zwar gibt es vier Fünfsternhäuser im Dorf und eines oben auf der Riffelalp. Aber keine ikonischen Hotels, wie es in St. Moritz das «Kulm», das «Suvretta House» und das «Badrutt’s Palace» oder in Gstaad das «Palace» und das «Grand Bellevue» sind.

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«Zermatter Hotels definieren sich über tolles Design, weniger über exzessiven Luxus», sagt Lauber. Und dieses Design ist dann eher geradliniger als österreichischer Alpenkitsch. 850 Franken kostet ein Fünfsternzimmer in der Hochsaison. «Die Preise von St. Moritz oder Gstaad können wir hier nicht aufrufen», sagt Markus Marti, General Manager des «Zermatterhofs». Besonders die grossen Suiten fehlen. Das Positive: Zermatt hat wenig kalte Betten, weil Ferienwohnungen nur 25 Prozent ausmachen.

Sympathieträger

Nach Zermatt kommt man nicht zum Après-Ski, nach Zermatt kommt man tatsächlich zum Skifahren. Okay, es gibt den «Hännustall» und das «Cervo» jeweils direkt am Ende der beiden Talabfahrten. Aber da lässt man es zum Ausklang des Pistentages eher mit Shots und Glühwein krachen als mit Champagner. Okay, es gibt den Golfclub Matterhorn Zermatt, doch der Neun-Loch-Platz liegt zwei Dörfer weiter in Randa, und gesellschaftlich spielt er keine Rolle. In St. Moritz feiern die Reichen und Schönen im «Dracula’s Club», in Gstaad wartet die Jeunesse dorée teils jahrelang darauf, um im sehr exklusiven und teuren «Yacht Club» aufgenommen zu werden. Im Zermatter «Yacht Club» ist jeder willkommen: Es ist ein Take-away-Restaurant, die Miso-Suppe gibts für zwölf Franken.

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«Zermatt ist keine Luxusdestination, sondern eine Erlebniswelt», sagt Zurbriggen. Kein Wunder, ist ein Casino-Projekt, wie es in St. Moritz, Crans-Montana und Davos funktioniert, hier krachend gescheitert. Nach zwölf Monaten hörte die Kugel auf zu rollen, heute ist dort, wo einst die Spieltische standen, ein Museum untergebracht. Und während die Hautevolee in Gstaad und St. Moritz mit dem Privatjet am nahe gelegenen Flugplatz Saanenland beziehungsweise Samedan landen kann, bleibt in Zermatt aus der Luft nur die Anreise mit dem Heli der Air Zermatt vom Flughafen Zürich (6100 Franken) oder Sion (1600) aus. Rund 1000 Personen leisten sich diese Taxiflüge pro Jahr, weitere 10 000 buchen einen Rundflug ums Matterhorn (220 Franken für 20 Minuten).

Überhaupt sind die roten Rettungshelis ein wichtiger Symphatieträger: Als Netflix die ursprünglich von Red Bull gedrehte Serie «The Horn» ins Programm aufnahm, löste das einen Boom aus. «Das hat die Nachfrage explodieren lassen bei Leuten, die noch nie hier waren», sagt Gerold Biner, CEO von Air Zermatt: «Seither buchen mehrere tausend Leute pro Jahr eine Führung durch den Heliport.»

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Die Wohnungspreise freilich explodieren auch in Zermatt. 2000 bis 4000 Franken kostet der Quadratmeter Bauland inzwischen, Wohnungen um die 15 000 Franken pro Quadratmeter. Teuerstes Objekt auf dem Markt ist derzeit ein 400-Quadratmeter-Chalet mit 7½ Zimmern für 18 Millionen Franken. Von solchen Objekten gibt es nur eine Handvoll. Das grösste, das Chalet Zermatt Peaks mit 17 Zimmern, kostet in der Hauptsaison bis 150 000 Franken pro Woche. Robbie Williams hat sich diesen Spass mal gegönnt.

Grafik Zermatt mit Hotels und Bars
ZVG
Grafik Zermatt mit Hotels und Bars
ZVG

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Auch sonst ist die Liste der prominenten Gäste lang: Tom Cruise und der Scheich von Dubai steigen gerne im «Zermatterhof» ab, Phil Collins kam immer wieder nach Zermatt, als er noch im Waadtland lebte, der ehemalige spanische König Juan Carlos in besseren Zeiten ebenfalls, Theresa May ist Stammgast seit vielen Jahren, Roger Moore war es bis zu seinem Tod. König Philippe von Belgien und seine Frau nervten sich, dass die beiden Bodyguards im «Mont Cervin Palace» mit ihnen am Tisch sitzen mussten statt am eigenen Zweiertisch.

Als Prinz William im Pistenrestaurant Zum See auftauchte und Walliser Ziegenkäse auf Nüsslisalat bestellte, versetzte das einzig die englische Küchenhilfe in Aufregung. Wenn Bill Gates mutterseelenallein durch die Bahnhofstrasse spaziert, kümmert das niemanden. Von Julia Roberts geht das Gerücht, dass sie nicht mal ihr Skilehrer erkannt habe. «Man macht hier kein Aufhebens um die Prominenz», sagt Burgerpräsident Andreas Biner.

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Mit prominenten Bewohnern hingegen kann Zermatt nicht glänzen. ABBA-Sängerin Anni-Frid Lyngstad ist vor drei Jahren weggezogen ins Waadtland, kommt aber noch immer regelmässig vorbei, Geigerin Vanessa Mae ebenfalls. Richard Branson versuchte jahrelang vergeblich, ein angemessenes Chalet zu finden, liess sich dann in Verbier nieder – und ist dennoch Stammgast unter dem Matterhorn. Statt Oligarchen, Schauspiellegenden und Milliardärserben trifft man hier noch Originale.

So wie Bergführer Thomas Zumtaugwald, der 300-mal auf dem Horu war (das kostet übrigens ab 1200 Franken). Oder wie Dan Daniell (im bürgerlichen Leben Urs Biner), der jeden Abend in seinem Restaurant Chez Heini vor kitschigen Matterhorn-Projektionen ABBA-Songs zum Besten gibt. Oder wie Giuseppe, der Wirt des gleichnamigen Pasta-Restaurants, wo noch Bilder von nackten Frauen an den Wänden hängen – eine Zeitmaschine zurück in die 1980er Jahre. Oder wie Adelino da Silva, der vor 30 Jahren in der Küche des Restaurants Zum See als Tellerwäscher anfing und seit 20 Jahren dort Küchenchef ist: Sein Reich von zwölf Quadratmetern teilt er sich mit fünf anderen Mitarbeitern, an Spitzentagen gehen bis zu 165 seiner berühmten Crèmeschnitten über den Tresen.

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Haute Cuisine

Aber gleichzeitig erneuert sich Zermatt eben auch, weil eine junge Generation an die Schalthebel kommt. Wie im «@Paradise», wo Pirmin Zurbriggens Sohn Elia ausschliesslich biologische Weine von Weinbäuerinnen serviert, ausserdem gluten- und laktosefreie, vegetarische und vegane Speisen. Oder wie im «Aroleid Kollektiv», wo die Teller grundsätzlich geteilt werden und der Bio-Kaffee fairtrade ist. Und natürlich im «After Seven», wo sich der junge Florian Neubauer mit sehr moderner Gourmetküche einen Stern erkocht hat. Überhaupt spielt Zermatt kulinarisch in der Champions League: 285 «Gault & Millau»-Punkte verteilen sich auf das Dorf und die Pisten drum herum, mehr als in St. Moritz, viel mehr als in Gstaad, Verbier oder Crans-Montana.

Doch nun klopfen erstmals ausländische Investoren an die Türen von Zermatt. Angefangen hat es mit Patrick Drahi. Der französisch-israelische Telekomunternehmer (Altice-Gruppe) kaufte erst die von Mario Julen entwickelte 7-Heavens-Überbauung und dann das Hotel Perren, ein eher unscheinbares Dreisternhaus an der Mattervispa, die durch den Ortskern fliesst. Nun befürchtet man im Dorf, dass Drahi, der inzwischen in Zermatt wohnt, das «Perren» in Ferienappartements umwandelt.

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Dann kam Christoph Hoffmann, der Gründer der deutschen 25hours-Kette: An dem Hang, wo noch das Hotel Antares steht, plant er ein «Bikini Island & Mountain», wie es bereits auf Mallorca steht. Vor drei Jahren ging der Deal über die Bühne. «Seither habe ich von der Bikini-Gruppe noch niemanden gesehen», sagt Andreas Biner: «Wenn man sich in so einem kleinen Dorf nicht zeigt und integriert, ist die Gegenliebe nicht wirklich gross.» Kein Wunder, blockieren Einsprachen das Projekt.

Wichtigster Hotelier freilich ist inzwischen Michel Reybier (siehe «Monsieur Le-bensfreude» auf Seite 62). Er hat das altehrwürdige Fünfsternhaus Mont Cervin Palace übernommen samt dessen Dependance Petit Cervin, ausserdem die Hotels Schweizerhof und Monte Rosa. Er wird von den Lokalmatadoren eher akzeptiert: «Ich erkenne in Reybier einen Menschen, Unternehmer und Patron, nicht nur einen Investor. Er führt seine Häuser mit ähnlichen Werten wie wir unsere Destination. Der passt sehr gut hierher», sagt Tourismusdirektor Paul-Marc Julen. «Reybier ist verliebt in Zermatt. Wenn er könnte, würde er das halbe Dorf kaufen», sagt ein alteingesessener Hotelier, und er meint das nicht nur negativ.

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Zu reden gibt aber vor allem das Projekt Ritz-Carlton: Über 18 Jahre hat Mario Julen 14 000 Quadratmeter Land am östlichen Ortsrand zusammengekauft. Ab 2023 soll hier bis 2026 für rund eine Viertelmilliarde Franken ein Ski-Resort entstehen mit 69 Zimmern und Suiten, zwei Restaurants und zwei Bars. Ritz-Carlton ist die erste Weltmarke der Hotellerie, die im Dorf Fuss fasst. «Davon ist Zermatt bisher verschont geblieben, jetzt fängts an zu kippen», warnt Heinz Julen: «Das ist ganz gefährlich!»

Denn die alteingesessenen Hoteliersfamilien und ihre engen Beziehungen zu den Gästen gelten hier als USP. «Ein Ritz-Carlton kann nie die gleiche Identität aufbauen wie ein Zermatter», sagt Andreas Biner: «Wir müssen aufpassen, dass wir die Hotels, wenn immer es geht, in Zermatter Händen behalten.» Dahinter steckt die Angst, dass am Fusse des Horu eines Tages das Gleiche passiert wie in Crans-Montana: Dort bestimmt inzwischen allein der grobschlächtige tschechische Milliardär Radovan Vitel, was läuft – und der stellt auch schon mal die Bergbahnen ab, wenn ihm was nicht passt.

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Jetzt ist Zermatt also auf der internationalen Landkarte. Und andererseits: Ähnlich grosse Flächen wie für das Ritz Carlton sind dort nicht mehr zu finden. Und die Häuser mit 30 bis 50 Betten, welche die überwiegende Mehrzahl darstellen, sind für die grossen Ketten wenig interessant. «Die Gefahr ist eher, dass sich reiche Ausländer ein Hotel als Hobby kaufen und die Attikawohnung in ihre Eigentumswohnung umwandeln», sagt ein Einheimischer.

Grafik mit Skilifts in Zermatt
ZVG
Grafik mit Skilifts in Zermatt
ZVG

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Ritterschlag 

Und jetzt also der Weltcup. Auch er wird Zermatt verändern. Fürs Marketing ist der Event Gold wert: «Die ganze Skiwelt schaut mit Argusaugen auf uns», sagt Franz Julen: «Und wir können der Welt Ende Oktober zeigen, dass wir bereit sind für den Winter – zu einem Zeitpunkt, da die Menschen ihren Winterurlaub zu buchen beginnen.» Die Story ist stark: Die je zwei Abfahrten für Männer und Frauen beginnen in der Schweiz und enden in Italien; Start (auf 3500 Metern) und Ziel (auf 2800 Metern) befinden sich extrem hoch; die Strecke geht über Gletscher, Natur- und technischen Schnee.

Kein Wunder, waren die 2000 Tickets auf Schweizer Seite und die 4000 auf italienischer innerhalb von Minuten ausverkauft. Und obwohl Franz Julen den Event mit Hilfe zahlreicher Freiwilliger, Berater und Experten aus anderen Skigebieten in nur sieben Monaten aus dem Boden stampfte (ursprünglich war der Start erst für 2023 geplant), wird die Veranstaltung bei einem Budget von 6,6 Millionen Franken schon im ersten Jahr break-even machen.

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Die Weltcuprennen sind nicht nur der Ritterschlag der FIS für Zermatt als Wintersportort. Sie verlängern auch die Saison. Bisher machen viele Hotels Ende September bis Anfang Dezember zu. Nun lohnt es sich für sie, offen zu bleiben. «Das ist spannend in Sachen Mitarbeiterrekrutierung: Jetzt kann man den Leuten Jahresverträge bieten», sagt Lauber. Eine Ganzjahresdestination zu werden, ist sowieso das grosse Ziel der Verantwortlichen in Zermatt. Denn der Wintertourismus ist ein Verdrängungs-, der Sommertourismus jedoch ein Wachstumsmarkt. Also baut man die Bikingtrails aus, bestückt die Gondeln mit Fahrradhaltern, eröffnet neue Veloshops. Auch ein Sommerskigebiet für Anfänger soll kommen. Vor allem investieren die Bergbahnen massiv in neue Anlagen – im Schnitt 30 Millionen jedes Jahr. Leisten können sie es sich, denn die Tageskarte kommt dank Dynamic Pricing auf bis über 100 Franken zu stehen. «Der Gast ist bereit, für Topqualität und Topservice auch Premiumpreise zu zahlen», sagt Franz Julen. Eben erst haben die Bergbahnen neue Rekordergebnisse präsentiert.

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Also investierte man 65 Millionen in die neue 3S-Bahn vom Trockenen Steg aufs Klein Matterhorn. Weitere 45 Millionen fliessen in eine Gondelbahn vom Testa Grigia aufs Klein Matterhorn, noch mal 50 für den Übergang von Cervinia nach Zermatt, mit Aussichtsplattform, Restaurant im Berg etc. Dann ist man an 365 Tagen im Jahr mit Italien verbunden – Alpine Crossing auf 3900 Metern Höhe. Das Ziel: Asiatische Touristen, die bisher von Mailand direkt nach Paris reisen, über die Alpen und Zermatt umzuleiten.

«Das wird Zermatt im Sommertourismus auf ein komplett neues Level heben. Das ist für den ganzen Ort sehr wichtig», sagt Franz Julen. Ob die Zermatter Stammgäste, die gerne für eine ganze Woche kommen, sehr erfreut sein werden über die Flut an Tagestouristen, steht auf einem anderen Blatt. Auch die italienische Seite lässt sich nicht lumpen: Zwei neue Bahnen bis tief ins Piemont und ins Aostatal sollen noch mal 180 Kilometer Piste erschliessen. Zermatt–Cervinia–Valtournenche ist dann eines der grössten Skigebiete der Welt.

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Besucherrekorde

Das wird das Dorf vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Denn schon bis zur Pandemie haben die Übernachtungszahlen beständig zugelegt. Dann kam auch noch der Nachholbedarf: «Letzten Winter ist das Dorf fast explodiert», sagt Andreas Biner: «Auch der Sommer war hervorragend – die fehlenden Chinesen und Japaner wurden durch Amerikaner kompensiert.» So platzt Zermatt jetzt schon aus allen Nähten – 47 000 Gäste ist der Tagesrekord.

Und selbst wenn sich noch irgendwo Platz für ein weiteres Hotel findet: Es fehlt an Unterkünften für die Mitarbeiter. Nun hat auch noch das Nachbardorf Täsch, wohin grosse Teile des Servicepersonals nach Dienstschluss gekarrt werden und das deshalb einen Ausländeranteil von 60 Prozent ausweist, einen Baustopp für Personalhäuser verhängt. «Wir müssen bei der Quantität sehr viel vorsichtiger sein. Es macht keinen Sinn, noch mehr Hotelbetten zu schaffen», hat Andreas Biner realisiert. «Stattdessen muss Zermatt für die Mitarbeiter investieren. Dafür müssen wir halt auf Rentabilität verzichten.»

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Und Zermatt muss auch in die Lebensqualität seiner Einwohner investieren. Denn wenn die Mitarbeiter nun mit Ganzjahresverträgen an den Ort gebunden statt jede Saison ausgetauscht werden, ändern sich auch ihre Ansprüche. Ein öffentliches Schwimmbad – seit Jahren ein politisches Traktandum – gibt es immer noch nicht; wenn die Berliner Philharmoniker im Rahmen des Klassikfestivals kommen, müssen sie mangels Konzertsaal in der Kirche und in Hotels spielen; selbst an öffentlichen Räumlichkeiten für Yoga oder Vereinsversammlungen mangelt es. Die Gemeinde allein kann es nicht stemmen: 30 Millionen Franken Steuereinnahmen verzeichnet sie pro Jahr, doch allein das neue Schulhaus schlägt mit 40 Millionen zu Buche.

Der Weltcup, neue Bahnen, neue Gäste, neue Investoren – es ist derzeit viel im Umbruch am Fusse des Horu. «Die nächsten zehn Jahre werden spannend», ahnt Hotelier Lauber. Gemeindepräsidentin Romy Biner-Hauser wünscht sich nur eines: «Dass Zermatt ein Dorf bleibt.»

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