Guten Tag,
Die Preise für gehypte Turnschuhe kennen kaum eine Grenze. Eingefleischte Sammler zeigen, worauf es ankommt.
Bastian Heiniger
SAMMLERIN: Frauen sind in der Sneakerszene noch immer deutlich in der Minderheit. Eine von ihnen ist Jess Huber aus Zürich.
Ella Mettler für BILANZWerbung
Ein dekoratives Buch auf dem Coffeetable? Nicht bei Simon Graf. Auf dem Salontisch in seiner Wohnung in Zürich stehen Dunks, Air Forces oder Jordans, Sneakers der US-Marke Nike. Auch sonst stapeln sich im Wohnzimmer Schachteln mit dem ikonischen Swoosh, an den Wänden, auf Regalen, auf dem Pult.
Für das Foto macht der 33-Jährige etwas, das er nur ungern tut: Er geht in die Hocke. «Davon könnten die Schuhe unschöne Knicke erhalten», erklärt er. Echte Sneakerheads, wie sich die Sammler bezeichnen, ziehen deshalb selbst beim Heiratsantrag den Schuh aus; zumindest am Bein, mit dem sie niederknien.
Diverse Aufnahmen, die im Internet kursieren, belegen das Phänomen. Es ist Ausdruck einer Manie um Turnschuhe, die jüngst in irrsinnigen Preisentwicklungen gipfelte. Für Aufregung sorgt aktuell ein Sneaker, der vom kürzlich verstorbenen Designer Virgil Abloh kreiert wurde und als Kollaboration zwischen Nike und Louis Vuitton in diesen Tagen bei Sotheby’s versteigert wird. Geboten werden für die auf 200 Stück limitierten Treter mehrere tausend Franken. Es dürfte eine gute Investition sein.
Werbung
In den 1990er und frühen 2000er Jahren waren Turnschuhe vor allem ein Distinktionsmerkmal. Welche Schuhe man trug, signalisierte, zu welcher Subkultur man gehört: Hip-Hopper trugen Nikes, Skater Vans, Kiffer Airwalks und Punks Dr. Martens. So war das. Heute werden rare Sneakers wie seltene Uhren, Kunst oder Autos gehandelt.
Im Oktober 2021 versteigerte Sotheby’s für 1,47 Millionen Dollar ein getragenes Paar «Nike Air Ships» der Basketballlegende Michael Jordan – schlichte weissrote Schuhe, die Jordan in seiner ersten Saison als NBA-Profi trug.
Den Preisrekord hatte jedoch wenige Monate zuvor ein anderer Schuh aufgestellt: Der «Nike Air Yeezy 1» wurde nicht nur von US-Rapper Kanye West entworfen, er trug das für 1,8 Millionen Dollar versteigerte Modell 2008 auch an der Grammy-Verleihung und sorgte damals für Aufsehen, weil Nike erstmals einen Schuh nicht nach einem Sportler benannte.
Werbung
Damit ein Sneaker für Fans wie Simon Graf interessant wird, muss er nicht unbedingt von einem Star getragen worden sein. «Entscheidend sind eher die Geschichte und die Stückzahl eines Modells.» Aktuell besitzt er rund 100 Paar. «Als ich mal 150 hatte, verkaufte ich die Hälfte.»
Inzwischen wächst seine Sammlung wieder. Graf, der heute seinen Lebensunterhalt als Reseller mit eigenem Shop bestreitet, sucht privat nicht unbedingt Modelle in der obersten Preisklasse. Oder anders gesagt: Er kommt dank Wissen und Kontakte an Schuhe heran, bevor sie teuer werden. Sein wertvollster ist aktuell ein «Nike Air Force One», der 2018 in Kollaboration mit dem Modelabel Off-White erschien und damals 170 Dollar kostete. Heute wird er auf StockX – der Sneakerbörse – für 1000 Dollar gehandelt.
Für andere Modelle müssen Liebhaber teils mehrere zehntausend Franken hinlegen. Es sind vor allem Nikes, die solche Sphären erreichen. Für Graf jedenfalls kommt kaum etwas anderes ins Haus. «Ich war immer ein Nike-Boy und werde es auch immer bleiben.»
Werbung
Foto: Ella Mettler für BILANZ
Wieso eigentlich? Es ist, als würde man einen Uhrenliebhaber fragen, wieso er Rolex mag. Es gibt teurere, qualitativ hochwertigere Uhren, aber letztlich löst keine andere ein ähnliches Begehren aus. Und so ist das mit den Schuhen. Wie Unternehmen in der Luxusindustrie sorgt auch Nike für eine künstliche Verknappung. Die gefragten Modelle erscheinen nicht als Massenware, sondern als limitierte Kollektionen, Sondereditionen und Kollaborationen mit Sportlern, Künstlern und angesagten Modemarken. «Für die meisten Sammler kommt an erster Stelle Nike, irgendwann Adidas und dann lange nichts.» Im Aufwind sei derzeit New Balance.
Werbung
Eine Leidenschaft für Nike hat auch Sergio Muster. Der 40-jährige Berner lebt heute in Zürich und gilt als eine der zentralen Figuren in der europäischen Sneakerszene. Er hat die «Sneakerness» gegründet, eine Messe, zu der jeweils Tausende Turnschuhfans etwa nach Zürich, Amsterdam, Berlin, Paris oder London pilgern. Gestartet hat einst alles mit einem kleinen Treffen in Bern. Aber dazu später.
In Musters Wohnung stehen im Eingang zwei bis fast zur Decke gefüllte Schuhregale. An manchen Exemplaren sind leichte Gebrauchsspuren sichtbar. «Ich will die Sneakers nicht nur im Regal bewundern.» Seine Lieblingsmodelle für den Alltag kauft er meist in mehrfacher Ausführung. So etwa den «Airmax 90 Infrared», einen Klassiker mit weiss-schwarz-grau-leuchtroter Farbgebung, von dem er vier Paar besitzt. «Wenn eines nicht mehr frisch genug aussieht, schenke ich es weiter.»
Werbung
Die eigentliche Schatzkammer jedoch befindet sich im Arbeitszimmer, wo er die raren Modelle in Plastikboxen aufbewahrt. Aus einer zieht er behutsam einen grauen Treter mit grünroten Streifen und eingefärbten Blutspritzern. Für den Laien sieht es nach einem Schuhwerk aus, bei dem der Designer wenig Geschmack bewiesen hat.
DIE KOSTBAREN: Die rotgrün gestreiften Nikes wurden der Horrorfilmfigur Freddy Krueger nachempfunden und werden für 50'000 Franken gehandelt.
Ella Mettler für BILANZDIE KOSTBAREN: Die rotgrün gestreiften Nikes wurden der Horrorfilmfigur Freddy Krueger nachempfunden und werden für 50'000 Franken gehandelt.
Ella Mettler für BILANZEingeweihte erkennen indes, dass es sich um einen «Dunk Low SB Freddy Krueger» von Nike handelt, welcher der Horrorfilmfigur nachempfunden wurde und von dem weltweit nur 30 Paar existieren sollen. Ein extrem begehrtes Stück. Neuwertig wird das Modell für rund 50'000 Dollar gehandelt. Muster könnte es für um die 15'000 Franken verkaufen. Man sehe es dem Schuh zwar nicht an, sagt er. «Ich habe ihn jedoch zwei, drei Mal getragen.» Das führe sofort zu einem massiven Abschlag.
Werbung
Zum Gesamtwert seiner Sammlung von ungefähr 700 Paar Schuhen, die auf Wohnung, Keller, Büro und Elternhaus verteilt sind, sagt Muster nur so viel: Sie sei für einen ziemlich hohen Betrag versichert. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass er so viele Schuhe besitzt und inzwischen an drei Unternehmen im Sneakerbusiness beteiligt ist, muss man weit zurückgehen.
Dass die ersten Schuhe mit Gummisohlen von Ende des 19. Jahrhunderts stammen, hat für die heutigen Sammler jedoch keine Relevanz. Auch die ersten Massenproduktionen der amerikanischen Firmen Keds (1916) und Converse (1917) spielen kaum eine Rolle. Ebenso wenig die Tatsache, dass sich in den 1950er und 1960er Jahren Stars wie James Dean oder David Bowie gerne mit Sneakers zeigten.
Entscheidender für den heutigen Hype sind die Anfänge der Hip-Hop-Kultur in den 1980er Jahren. Wer in den ärmeren Vierteln von New York aufwuchs und nahezu mittellos war, sorgte zumindest dafür, dass er sich mit den neusten und stets blitzsauberen Sneakers zeigte. Der Freshste zu sein, sei ein Teil der Kunst geworden, erzählt Sneakerlegende Bobbito Garcia im Dokumentarfilm «Just for Kicks». Gefragt war damals besonders der «Adidas Superstar». Die Liebe zu dem Schuh verewigte die Rapgruppe Run DMC im Song «My Adidas», und als am Konzert im Madison Square Garden ein Manager von Adidas sah, wie Tausende Kids ihre Adidas-Schuhe in die Luft hielten und den Song zelebrierten, fädelte er für eine Million Dollar die erste Kooperation mit Hip-Hop-Künstlern ein.
Werbung
Der wirkliche Startschuss für den heutigen Hype fiel jedoch 1985 mit dem ersten Jordan-Schuh. Nike hatte zuvor als biederer Sportschuhhersteller gegolten. Doch der «Air Jordan 1» veränderte alles: Er verband Funktionalität mit Coolness und Fashion und wurde rasch zum Kultschuh unter Rappern.
Fan von US-Rappern und dem Basketballstar Jordan war auch Sergio Muster. Als Jugendlicher bekam er zwar die teuren Jordans nicht, dafür aber einen Nike-Schuh des Basketballers Penny Hardaway. «Ich wollte sie selbst beim Schlafen nicht mehr ausziehen – aus Angst, jemand könnte sie klauen.» Als Gymnasiast musste er seine ersten Paar Sneakers noch vor der Mutter verstecken. Verstanden hätte sie die Passion damals nicht.
Werbung
Sein Geld, das er neben der Schule und später im Jura-Studium in einem Kleidergeschäft verdiente, floss stets in neue Sneakers. Er reiste nach Paris oder New York, um spezielle Modelle zu ergattern. Und so wuchs die Kollektion, sodass irgendwann kein Platz mehr da war, um sie zu verstecken. Musters Obsession ging so weit, dass er eifersüchtig wurde, wenn jemand in Bern mit Sneakers herumlief, die er nicht selbst besass. «Da bekam ich richtig schlechte Laune.» Heute lacht er darüber.
Ebenfalls schon früh vom Sneakerfieber gepackt wurde Jess Huber. Sie gehört zu den wenigen Frauen in der Szene. «Ich trage meine Sneakers auch ein bisschen als Protest», sagt sie in ihrem Ankleidezimmer. Hier stapeln sich ihre liebsten Schuhe, Kleider hängen akkurat nach Farben sortiert, in allen Ecken stehen Dekoartikel von Brands wie Supreme, Moschino oder Figuren von Bearbrick und Künstlern wie Kaws. Früher hörte die inzwischen 30-jährige Hair- und Make-up-Artistin oft, sie solle sich doch damenhafter kleiden und «Frauenschuhe» tragen – etwa vom Türsteher eines Clubs, in der Coiffeurlehre, ja selbst bei einem Date. «Inzwischen höre ich das weniger.» Sneakers haben sich längst von den Subkulturen gelöst.
Werbung
Tatsächlich sind sie heute auch in gehobenen Kreisen akzeptiert. Immer mehr Manager tauschen ihre rahmengenähten Lederschuhe gegen dezente Sneakers und demonstrieren damit, dass sie sich trotz schickem Anzug ein Stück Unangepasstheit bewahren möchten. Selbst die abgetretene Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde kurz vor Weihnachten in einem Nike-Laden beim Sneakershopping gesichtet.
Zwar besitzt Jess Huber inzwischen auch zwei Paar hohe Schuhe, an ihre Füsse kommen aber primär Treter von Nike oder New Balance. «Es gibt mir Kraft, wenn ich coole Sneakers trage.» Auch zu eleganten Kleidern finde sie in ihrer Sammlung von 350 Schuhen immer ein passendes Paar. Etwa ein mit Swarovski-Steinen besetzter «Nike Air Max 97».
Ihren liebsten Schuh besitzt sie allerdings nicht mehr. Mit 16 bekam sie von einer Freundin im Tausch einen weiss-grau-rosafarbenen «Nike Dunk Low». Sie zog ihn kaum aus, und als er allmählich auseinanderfiel, klebte sie ihn, so gut es ging, zusammen. Ihr Stiefvater schenkte ihr irgendwann ein neues Paar – unter der Bedingung, dass er den Schuh entsorgen darf. «Leider habe ich bis heute diese Farbkombination nie mehr gefunden.» Und Jess Huber ist viel herumgereist. Mit ihrem Freund – freilich ebenfalls ein Sneakerhead mit einer Sammlung von rund 2000 Paar – besucht sie europaweit jeden Event der «Sneakerness». In Zürich betreiben sie dann meistens einen eigenen Verkaufsstand.
Werbung
Einen der authentischsten Stände habe oft Simon Graf, sagt Organisator Sergio Muster. Während die Messe einmal im Jahr zum internationalen Treffpunkt wird, finden sich in Grafs Laden namens Recon ZH rund ums Jahr die lokalen Sneakerfans ein. «Ich komme jede Woche, um zu schauen, was es Neues gibt», sagt ein Kunde, der Graf gerade für 200 Franken einen neuen «Air Jordan» verkaufte, der später ins Regal kommt. Graf legt für den Wiederverkauf ein paar Prozent obendrauf. Dass er heute Sneakers verkauft, hat seinen Ursprung in Hip-Hop-Kleidern.
««Es gibt mir Kraft, coole Sneakers zu tragen. Sie passen auch zu eleganten Kleidern.» »
Jess Huber
Schon als Jugendlicher im Thurgau bestellte er Shirts, Baggypants und Hoodies aus den USA, erst für sich und bald auch für seine Kollegen. Da sein Vater ein Fachgeschäft für Eishockeybedarf betrieb, hatte Graf schon früh Einblicke in den Handel und eröffnete 2009 seinen eigenen Laden in Zürich. «Ich bin inzwischen etwas abgestumpft, was Sneakers betrifft.» Früher musste man die raren Modelle richtig jagen, heute kaufen die jungen Sammler alles im Internet. Entscheidend sei dann vor allem, wer am meisten Geld ausgeben will oder kann. Am meisten Freude bereiten ihm heute noch immer die Dunk-Modelle: ein flacher Schuh mit eher schlichter Silhouette, der aber auch dank der vielen Sondereditionen extrem gefragt ist.
Werbung
Es war denn auch ein Dunk, der 2005 erstmals dafür sorgte, dass sich die Fans für einen Schuh die Köpfe einschlugen. Die Rede ist vom «Nike Dunk SB Low Staple NYC Pigeon», der von einem angesagten New Yorker Designer farblich einer Taube nachempfunden wurde – weil sie die Stadt perfekt repräsentiere.
Als schliesslich in der Lower East Side der Verkauf des auf 150 Stück limitierten Schuhs anstand, pilgerten Hunderte Fans zu dem Laden und sorgten davor für Tumulte. Spezialeinheiten der Polizei mussten ausrücken. Es gilt heute als jenes Ereignis, das den Sneakerhype endgültig in den Mainstream katapultierte. Wer heute einen Nike Pigeon von damals kaufen will, muss dafür 50'000 Dollar hinlegen, in bestimmten Grössen wird auch das Doppelte verlangt.
Acht Flugstunden östlich überlegte sich Sergio Muster in dieser Zeit, wie er einen kleinen Event für Enthusiasten auf die Beine stellen könnte. Beim bekannten Berner Sneakerladen Titolo organisierte er 2007 einen kleinen Apéro für ein paar Freunde. Zum zweiten Apéro reisten ein Jahr später bereits Fans aus Genf an, weil sie gehört hatten, dass sich in Bern Sneakerheads treffen. Schliesslich fanden sich 100 Leute im Laden ein.
Werbung
SNEAKERFIEBER: Sergio Muster wurde schon als Jugendlicher zum leidenschaftlichen Sammler. Heute besitzt er rund 700 Paar Schuhe.
Ella Mettler für BILANZSNEAKERFIEBER: Sergio Muster wurde schon als Jugendlicher zum leidenschaftlichen Sammler. Heute besitzt er rund 700 Paar Schuhe.
Ella Mettler für BILANZPlötzlich kam dann jemand von Nike auf Muster zu: Er solle doch Bescheid geben, falls er wieder etwas organisiere. Und so mietete er ein Jahr darauf das Berner Eventlokal National – aus dem kleinen Basar wurde nun eine Messe. «Wir verdienten sogar etwas Geld damit. Dass aber ein Geschäft daraus wird, hätte ich nie gedacht», sagt Muster. Inzwischen betreibt er neben der in neun Städten stattfindenden «Sneakerness» auch eine Agentur, die Ausstellern und Brands wie Swatch oder Zalando beim Messe-Marketing hilft.
Werbung
Und kürzlich ist er beim 2018 gegründeten Start-up CollectID als Co-Founder und Marketingchef eingestiegen. Die Idee: Sneakers für den Wiederverkauf sicherer zu machen. Dazu haben die Jungunternehmer einen kleinen Chip entwickelt, den man mittels Plastikbändchen am Schuh anbringen kann – quasi ein Gütesiegel, dass es sich um ein Original handelt. Und womit Hersteller oder vertrauliche Reseller die Schuhe markieren können, bevor diese in den Verkauf gehen.
Dank NFT-Technologie kann vom Schuh zugleich ein digitaler Zwilling erstellt werden, sodass der Besitzer ihn auch online bewundern und im Metaversum verwenden kann. Das Interesse auf Investorenseite sei enorm, sagt Muster. Es klopfen mittlerweile aber auch grosse internationale Clubs als Kunden an, nachdem CollectID bereits erfolgreich für den FC Zürich oder die ZSC Lions NFC-Chips in bestimmte Fanshirts integriert haben. Hierbei geht es jedoch eher um die Digitalisierung der Fanutensilien als um Fälschungen.
Werbung
Muster kaufte vor einem Jahr seinen ersten digitalen Schuh: Der limitierte «Jeff Staple × RTFKT Meta-Pigeon» kostete ihn 500 Franken. Es hat sich gelohnt. Der Wert stieg bereits um das Hundertfache.
Werbung