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Uhren

Über-Uhr-Swatch: Sie war ein Gamechanger für die Industrie – und strahlt bis heute

Eben 40 Jahre alt geworden, ist die Swatch die wichtigste Schweizer Uhr der Neuzeit – technisch, wirtschaftlich und soziokulturell.

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Pierre-André Schmitt

Nicolas G. Hayek praesentiert am 2. Oktober 1997 in Genf die neueste Uhr von Swatch, die nur 3,9 Millimeter ultraduenne Swatch "Skin". (KEYSTONE/Fabrice Coffrini)

Zuvor war die Uhr ein Instrument. Nicolas G. Hayek liess sie neu als soziokulturelles Statement inszenieren.

Keystone

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Diese Uhr hat das Leben von Menschen verändert. Zum Beispiel das Leben von François-Henri Bennahmias, CEO der Erfolgsmarke Audemars Piguet und Starmanager der Branche. Die Swatch war für den ehemaligen Profigolfer so etwas wie das Eintrittsticket in die Uhrenwelt, sie entfachte seine Leidenschaft für die Uhr – zunächst als Sammler.

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Dabei startete er verhältnismässig spät, erst 1988, die Plastikuhr gab es damals schon seit fünf Jahren: «Also hatte ich fünf Jahre aufzuholen, denn ich wollte jede Swatch haben, und zwar im Neuzustand.» Das sei unmöglich, tönte es aus seinem Umfeld, und genau das machte für ihn den Reiz der Sache erst recht unwiderstehlich: «Ich war dann mit dem ganzen Planeten in Verbindung und kannte bald alle Referenzen auswendig.»

Swatch-Hunter nennt man diese Spezies Mensch. Er steht auch mal eine Nacht lang Schlange, um eine neue Swatch zu ergattern. Und viele Persönlichkeiten der Uhrenbranche gehörten dazu – vom Top-Brand bis zur Nischenmarke. Zum Beispiel Christian-Louis Col, der aktuell daran ist, der Marke Ikepod, einer Kultmarke der 1990er, neues Leben einzuhauchen: «Als Bub war ich ein Swatch-Hunter», sagt er. «Und ich habe mit dem Handeln dieser Uhren mehr gelernt als in allen Jahren später bei grossen Konzernen.»

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Dieses Jahr wird die Swatch 40 Jahre alt. Und sie erstrahlt in neuem Glanz. Vorab der Coup mit der MoonSwatch letztes Jahr diente als Turbo. Und zeigte, wie vital die erwachsene Uhr heute ist.

Innere Mechanik

Es lohnt sich, ein paar Sekunden bei der MoonSwatch zu bleiben. Denn die Art und Weise, wie sie kreiert und beworben wurde, verrät viel über den Geist der Marke und ihrer inneren Mechanik. Man stellte nicht etwa eine platte Kopie der Moonwatch von Omega in die Regale, sondern gab dem Klassiker einen zusätzlichen Dreh, indem man die Codes der Referenzuhr ein bisschen unterlief und sie eine andere Geschichte erzählen liess – mit neuen Materialien, neuen Farben, neuer Technik und neuen Geschichten. So schickte man sie symbolisch auf eine Reise zu Destinationen, welche Omegas Moonwatch noch nie berührt hat: «Mission to Venus», «Mission to Mars» und «Mission to the Sun» heissen die Modelle zum Beispiel.

«Ich wollte mehr Spass und Provokation in die Branche bringen», erklärte Swatch-Group-CEO Nick Hayek gegenüber BILANZ. Die Rechnung ging auch pekuniär auf: Über eine Million Stück wurde bis Ende 2022 verkauft.

Schwarze MoonSwatch

Die MoonSwatch war der Coup des Jahrzehnts. Über eine Million Stück wurden letztes Jahr verkauft.

ZVG
Schwarze MoonSwatch

Die MoonSwatch war der Coup des Jahrzehnts. Über eine Million Stück wurden letztes Jahr verkauft.

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Solche Geschichten schafft kein anderer Zeitmesser. Und gerade im Rückblick ist die Leistung der Schweizer Über-Uhr atemberaubend und der Katalog, im historischen Zeitraffer gesehen, gigantisch: Mehr als 10'000 Uhrenmodelle führte die Marke Swatch seit dem 1. März 1983 ein – alle 33 Stunden eine Neuheit.

Experimentierfreude

Jacques Muller und Elmar Mock, zwei junge Ingenieure, die in den frühen 1980er Jahren an einer völlig neuartigen Uhr herumpröbelten und erste Skizzen dafür auf einer Papierserviette festhielten, konnten damals nicht ahnen, was die Frucht ihrer Arbeit auslösen würde. Angefeuert von Ernst Thomke, dem Generaldirektor der ETA, arbeiteten sie am Projekt für eine präzise Schweizer Uhr, die «möglichst gar nichts kosten sollte», so Jacques Muller.

Die Verwendung von Plastik war der eine Teil der Lösung, viel wichtiger jedoch: Die Zahl der Bestandteile wurde um die Hälfte reduziert. Man schaffte dies zum Beispiel dank der Verschmelzung von Gehäuseboden und Platine zu einem einzigen Werkstück. Ein Vorbild dafür, dies nebenbei, gab es in den Schubladen des Unternehmens bereits, die Uhr hiess Delirium Tremens, was in diesem Fall eine Ableitung von «très mince» für sehr flach ist.

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Das war revolutionär, zumal das Ganze zur industriellen Serienreife für eine Produktion im grossen Massstab gebracht werden konnte. Das grosse Verdienst von Nicolas G. Hayek, damals Kapitän der Swatch Group, war es aber, die Uhr nicht nur im technischen Kontext verstanden zu haben, sondern weit darüber hinaus: Er machte die Swatch zum disruptiven Markstein, der den Übergang der Uhr vom Zeitmessinstrument zum fröhlichen Lifestyle-Produkt definierte. Zwar vermochte man die genaue Zeit neuerdings auch mit einer Quarz-Billiguhr aus Fernost erhalten, das gewisse neue Lebensgefühl indes vermittelte nur die Swatch.

Die Highlights von 40 Jahren Swatch

Blaue Pop-Art-Uhr von Swatch
Swatch Irony Chrono Elegantum
Drei Swatch-Uhren übereinander mit Sistem51
Swatch mit schwarzem Band
Swatch-Uhr mit Micky Mouse auf dem Zifferblatt und rot-weiss-gestreiftem Armband.
Swatch-Uhr zum «Fils de l’Homme» von René Magritte
Fünf Skin-Modelle der Swatch in braun, blau, schwarz, grau und weiss.
Modelle der Kulinarik: Speck, Paprika, Gurke
Blaues Swatch-Modell Flymagic
Orange-Schwarzes Modell der Modell Big Bold
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Hommage an den Pop-Art-Künstler Roy Lichtenstein: Aktuelle Swatch in Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art (MoMA).

PD

Und das gilt bis heute. Im März präsentierte das Swatch-Urgestein Carlo Giordanetti, unter anderem federführend für die Kreation, Neuheiten, die ihre Ideen aus Werken von drei weltweit führenden Galerien schöpfen: den Uffizien in Florenz (mit Sandro Botticelli), der Fondation Magritte in Brüssel (mit René Magritte) und dem Museum of Modern Art, kurz MoMA, in New York (mit Roy Lichtenstein).

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Auch das hat Tradition: 1985 hatte Kiki Picasso das Kunstkapitel eröffnet und eine auf 200 Stück limitierte Serie mit ihren Werken signiert. Sie stand damals im Epizentrum der Pariser Avantgardeszene und war Mitglied des Punk-Kollektivs Bazooka. Ein Jahr später folgte Keith Haring, die New Yorker Leitfigur der Street Art. Und so ging es weiter. Legendäre Sammlerlieblinge wurden zum Beispiel die Modelle «Gu(h)rke», «Bonju(h)r» und «Verdu(h)ra» des österreichisch-schweizerischen Grafikers, Bühnenbildners und Malers Alfred Hofkunst im Gemüse- und Speck-Design.

Ziel war es von Anfang an, Künstlern ein Medium zur Verfügung zu stellen, auf dem sie sich austoben durften: «Eine weisse Leinwand, das war der rote Faden», pflegt Carlo Giordanetti zu sagen. Im Gegensatz zu Designern, die präzise Briefings erhalten, haben Künstler freie Hand. «Das ist der Schlüssel, um grosse Künstler zu begeistern.»

Die Swatch hat, so gesehen, auch die Kunst verändert. Nie zuvor waren ernsthafte oder avantgardistische Künstler so stark präsent auf einem Alltagsgegenstand. Bezeichnend dabei: Alle Modelle erzählen eine Geschichte. Es gibt dahinter ein Konzept, eine Idee, eine unerwartete Wendung, ein Bonmot, einen Twist, ein kleines Stück Zeitgeist.

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Und ein Augenzwinkern: Eines der neuen Modelle – «La Trahison des Images» – zeigt das berühmte Pfeifensujet von René Magritte. «Ceci n’est pas une pipe», steht auf der einen Seite des Armbandes, das kennt man – «ceci est une Swatch» auf der anderen, das weniger. Das zweite Magritte-Sujet, das surrealistische Gemälde «Le Fils de l’Homme» von 1964, zeigt die berühmte Figur mit Bowler-Hut, Kragen, roter Krawatte und dem schwebenden Apfel vor dem Gesicht – es wird sozusagen zur Apple Watch von Swatch.

Auch technisch wurde regelmässig für Blutauffrischung gesorgt, vor zwei Jahren zum Beispiel mit dem nachhaltigen Werkstoff Biokeramik, einer Mischung aus biologisch produziertem Kunststoff auf Basis von Rizinusöl und Keramik. Weitere Innovationen im Schnelldurchlauf: 1994 kam mit der Irony die erste Swatch im Gehäuse aus Stahl, 1995 die Swatch Access mit integriertem Ski-Pass sowie die Swatch Solar mit Solarzellen auf dem Zifferblatt. 1997 wurde mit Swatch Skin eine ultraflache Version präsentiert, 1998 mit der Swatch Beat die Swatch-Digitaluhr mit Anzeige der Internetzeit, aufgeteilt in 1000 Beats pro Tag.

Es gab die grosse Pop Swatch, die Swatch mit Bezahlfunktion und, in Zusammenarbeit mit Microsoft, sogar eine Swatch, die auch Nachrichten, das Wetter, Horoskope und Börsenkurse anzeigte. Oder 2007 die Swatch Diaphane One Gold mit Tourbillon zu 7700 Franken. Ziemlich genau vor zehn Jahren wurde das Sistem51 vorgestellt – mit gerade noch 51 Komponenten, einer zentralen Schraube sowie 90 Stunden Gangreserve. Und im Frühling 2019 kündigte Swatch-Group-CEO Nick Hayek unter der Kuppel des neuen Swatch-Gebäudes des Stararchitekten Shigeru Ban einen weiteren Coup an: Man präsentierte das Modell Flymagic mit – unter anderem – einem neuen Herzstück im Werk: Die Spirale in der Hemmung ist aus einer Titanlegierung hergestellt, Nivachron genannt, was sie weitgehend paramagnetisch macht. Elektrische Felder, die heute omnipräsent sind, können ihr nichts anhaben.

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Elementaruhr

Zwar wurde immer wieder das Requiem auf die Swatch angestimmt und versucht, die Uhr totzureden. Doch kein Zeitmesser ist häufiger gebaut worden, mehrere 100 Millionen wurden seit ihrer Geburt verkauft. Sie tickt und tickt und tickt, ist man in Anspielung auf einen alten Werbespot der Autowelt zu sagen versucht – Swatch ist die erfolgreichste Uhr aller Zeiten.

Dabei ist sie ein Kind schwieriger Zeiten: 1983 – die Branche leckte nach wie vor ihre Wunden aus der Quarzkrise – legte Nicolas G. Hayek zwei schwerkranke Patienten, die hoch verschuldeten Uhrenkonglomerate SSIH und ASUAG, ins gleiche Bett, um sie zur Swatch Group kerngesund zu pflegen.

Hayeks für die Branche vielleicht wichtigster Entscheid war dann die Lancierung einer Swatch mit Mechanikwerk, das Modell Automatic, welches 1991 präsentierte wurde: «Wir hatten die Swatch mit Quarz, elektronisch, aber wir machten auch zehn Millionen Swatch-Uhren mit mechanischen Werken», erinnerte er sich 2006 in einem BILANZ-Interview. Das erlaubte es, die Swatch-Group-Tochter Nivarox-FAR auszulasten und vor dem Untergang zu retten.

Nun muss man wissen, dass Nivarox-FAR beinahe das einzige Unternehmen ist, das Uhrenspiralen baut. Die schwingende Spirale ist das Herz der Uhr. Ohne die Swatch gäbe es Nivarox nicht mehr, ohne Nivarox gäbe es die meisten Spiralen nicht mehr, und ohne Nivarox-Spiralen hätten sehr viele Marken zusammenpacken können – darunter renommierte Manufakturen. Auch das macht die Swatch zur wichtigsten Schweizer Uhr der Neuzeit.

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Mitarbeit: Stéphane Gachet

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