Guten Tag,
Das Thema Metaverse hält die Wirtschaft in Atem. Die Schweiz ist an vorderster Front dabei. Doch die virtuelle Realität bleibt noch lange Fiktion.
Marc Kowalsky
ENDLOSE WEITEN Avatare, Brillen und Pastellfarben sind typisch fürs Metaverse.
Mario Wagner / 2Agenten für BILANZWerbung
Die Aussicht aus dem Sitzungszimmer ist spektakulär: idyllische grüne Wiesen und einzelne majestätische Tannen, weit unten ein See, überspannt von einer elegant geschwungenen Brücke, im Hintergrund mächtige Berge. Rasmus Dahl (55) hat gegenüber am Konferenztisch Platz genommen. Der Chef der Zürcher Niederlassung von Meta, jener Firma, die bis vor Kurzem noch Facebook hiess, hat die dunkelbraunen Haare akkurat geschnitten, auch im Februar trägt er ein kurzes blaues Poloshirt.
Dahl hat sich die Mühe gemacht, das BILANZ-Logo aufs Whiteboard zu beamen, nun beantwortet er freundlich meine Fragen. Doch bereits nach kurzer Zeit überkommt mich ein leichtes Übelkeitsgefühl, bald fange ich an zu schwitzen. Dass Dahls Körper an der Gürtellinie zu enden scheint, irritiert mich ebenso wie sein Stuhl, der offensichtlich über dem Boden schwebt. Und was zum Teufel soll dieser seltsame rosa Hirschkopf an der Wand mit der gewaltigen Brille?
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Willkommen im Metaverse. Das ist sie also, jene virtuelle Realität, welche die physische und die digitale Welt vereinen soll. Dreidimensional statt auf dem Flachbildschirm, verkörpert statt abgebildet, mittendrin statt nur dabei. 30 Jahre nach dem Durchbruch des Internets, 15 Jahre nach der Smartphone-Revolution scheint die Tech-Welt endlich ihr Next Big Thing gefunden zu haben.
Zwar existiert das Thema seit Jahrzehnten. Doch erst seitdem sich Facebook im Oktober öffentlichkeitswirksam umbenannt hat in Meta, verbunden mit der Ankündigung von Firmengründer Mark Zuckerberg, zehn Milliarden Dollar in das Metaverse zu investieren, ist das Thema im Mainstream angekommen. Wie sehr, zeigt ein Blick in die Mediendatenbank: 2328 Artikel sind im letzten halben Jahr in der Schweizer Presse zum Metaverse erschienen. In den sechs Monaten davor waren es genau 87.
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Und so überschlagen sich die Prognosen, welche Bedeutung dieses «nächste Internet» (Microsoft-CEO Satya Nadella) haben wird. Zuckerberg spricht von einer Milliarde Nutzern, Hunderten Milliarden Umsatz an E-Commerce und Millionen neuer Jobs. «Das Metaverse könnte grösser werden als Buchdruck und Internet zusammen», sagt der deutsche Tech-Vordenker Richard Gutjahr. 800 Milliarden Dollar soll das Geschäft schon übernächstes Jahr umfassen, prognostiziert der Finanzdienst Bloomberg Intelligence.
Matthew Ball, CEO der Venture-Capital-Firma Epyllion und einer der anerkanntesten Experten auf dem Gebiet, erwartet, dass die Metaverse-Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt zwischen 10 und 30 Milliarden Dollar an Wert generieren wird. Jensen Huang, CEO des Chipherstellers Nvidia, setzt noch einen drauf: Für ihn könnte die Ökonomie im Metaverse eines Tages sogar die reale in den Schatten stellen. Hype ohne Grenzen.
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«Wir sind erst ganz am Anfang», rückt Dahl die Dimensionen zurecht, «keiner weiss, wie sich das Metaverse wirklich entwickeln wird.» Momentan gehe es darum, das Ökosystem für die Entwickler aufzubauen. Und mit den ersten Anwendungen dem Nutzer einen Vorgeschmack zu geben, was da auf ihn zukommen könnte. Horizon Workrooms, jener virtuelle Konferenzraum mit der tollen Aussicht, in dem das Interview mit Dahl Corona-bedingt stattfindet, ist so ein Vorgeschmack.
Foto: Meta
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Tatsächlich sitzen Dahl und ich zu Hause an unseren Schreibtischen, auf dem Kopf jeweils eine Virtual-Reality-(VR-)Brille. Und dennoch haben wir den Eindruck, nebeneinander am Tisch zu sitzen, sehen jede Bewegung unserer Avatare in 3-D, können beide auf das virtuelle Whiteboard an der virtuellen Wand schreiben: «In den nächsten zwei oder drei Jahren werden die meisten 2-D-Videokonferenzen ins Metaverse mit digitalen 3-D-Avataren gehen», sagt Bill Gates voraus.
Dahls Team mit Büro am Fuss des Zürcher Uetlibergs entwickelt dafür die Basistechnologie, unter anderem die Algorithmen, mit der die Kameras in der Brille die Bewegungen registrieren und auswerten. Hervorgegangen ist es aus dem achtköpfigen Start-up Zurich Eye, das 2016 von Facebook übernommen wurde.
Heute umfasst der Standort mehr als 220 Mitarbeiter, Ende des Jahres sollen es 350 bis 400 sein. Europaweit will Meta geb. Facebook nicht weniger als 10 000 neue Stellen schaffen mit Bezug zum Metaverse – in der Hoffnung, bessere und attraktivere Parallelwelten zu bauen als die Konkurrenz.
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Was heute bereits in Sachen Metaverse existiert, ist dürftig. Am ehesten müssen Spiele als Vorreiter herhalten: virtuelle Pixelwelten wie Fortnite oder Roblox, die zwar noch nicht das dreidimensionale Eintauchen mittels VRBrillen ermöglichen, die sonst aber bereits wichtige Aspekte bieten von dem, was eines Tages das Metaverse ausmachen soll. Jeden Monat kommen Millionen von Gamern auf diesen Plattformen zusammen (siehe Grafik unten). Primär, um einander niederzumetzeln. Aber zunehmend, um gemeinsam die virtuelle Welt weiterzuentwickeln durch neue Bauwerke, Gegenstände, virtuelle Klamotten (Skins) oder Spiele-im-Spiel.
Oder um gemeinsam Konzerte zu erleben von Stars wie Ariana Grande oder Travis Scott. Keine lange Anreise, keine Einlasskontrollen, keine Wetterrisiken, unbegrenzte Platzzahl: Nicht weniger als vier Millionen vorwiegend junge Menschen folgten mit ihren Avataren letzten Mai der Show von Zara Larsson in der Game-Welt von Roblox. Auch wegen dieses Potenzials hat Microsoft gerade 75 Milliarden Dollar ausgegeben für den Gamehersteller Activision Blizzard, die grösste Übernahme der nicht gerade kurzen Firmengeschichte. «Ein sehr sinnvoller Deal», sagt Marc Pollefeys: «Die haben viele Assets und Fähigkeiten auf diesem Gebiet.» Dass Microsoft mit dem Spiel Minecraft bereits ein weiteres Quasi-Metaverse – oder soll man sagen: ein Betaverse? – besitzt, kann da nicht schaden.
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Pollefeys sitzt in einem Konferenzraum – einem echten, dieses Mal – an bester Lage in der Zürcher Innenstadt. Seit 2018 führt der ETH-Professor hier für Microsoft ein Lab: 25 Entwickler, mehr als die Hälfte davon mit Doktortitel, arbeiten an der Raumdeutung durch die Kameras der Microsoft-eigenen Brille HoloLens. «Wir sind der Klebstoff, um die digitale mit der physischen Welt zu verbinden», sagt Pollefeys.
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Microsoft will nicht nur viele Brillen verkaufen, sondern gleich das ganze Ökosystem aufbauen: Cloud-Dienste, Künstliche Intelligenz, B2B-Anwendungen, Produktivitätswerkzeuge – wer sich als Firma mit dem Metaverse befasst, soll an den Produkten des weltgrössten Softwareherstellers ebenso wenig vorbeikommen wie jahrzehntelang nicht an Windows und Office. «Wir sehen viel Potenzial im Metaverse, aber wir wetten nicht gleich die ganze Firma darauf», sagt Pollefeys mit einem Seitenhieb auf Meta.
Dass gleich zwei Tech-Giganten ihre weltweiten Metaverse-Aktivitäten von Zürich aus steuern, ist kein Zufall. Es ist ein Cluster entstanden rund um die ETH, die sowohl Virtual und Augmented Reality (AR) als auch Künstliche Intelligenz (KI) als Schwerpunkte definiert hat. «Das Ökosystem hier macht es sehr viel einfacher, Leute anzuziehen», sagt Pollefeys: «Denn sie wissen, sie finden hier wenn nötig auch einen anderen Job im gleichen Gebiet.»
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So hat Apple vor einigen Jahren das ETH-Spinoff Faceshift gekauft, das sich auf die Entwicklung animierter Avatare spezialisiert hat. Auch das Start-up Dacuda wurde übernommen, 2017 durch Magic Leap. Der amerikanische Tech-Spezialist durchlief damals einen Hype, schrammte dann hart am Konkurs vorbei und hat sich seither neu ausgerichtet auf AR-Brillen, die computergenerierte Informationen in das reale Sichtfeld einblenden. Und auch Disney Research, die Entwicklungsabteilung des Filmkonzerns, arbeitet in Zürich an der Digitalisierung des Menschen zur Erstellung von Avataren.
Hinzu kommen zahlreiche Start-ups: Animatico etwa programmiert auf KI basierende Avatare, Almer Technologies entwickelt für industrielle Anwendungen AR-Brillen, die sich in Gewicht und Grösse kaum von normalen Brillen unterscheiden. Auch die Romandie ist dank EPFL-Umfeld stark: Imverse erlaubt es, in Echtzeit den eigenen Körper in 3-D für Avatare zu scannen, Dreamscape automatisiert die Bewegungserfassung, Creal entwickelt augenfreundliche VR-Brillen.
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ALL IN Facebook-Gründer Mark Zuckerberg (r., mit seinem Avatar links) setzt alles aufs Metaverse: Letztes Jahr hat er zehn Milliarden investiert und die Firma in Meta umbenannt.
Mark Zuckerberg / MetaALL IN Facebook-Gründer Mark Zuckerberg (r., mit seinem Avatar links) setzt alles aufs Metaverse: Letztes Jahr hat er zehn Milliarden investiert und die Firma in Meta umbenannt.
Mark Zuckerberg / MetaAlle hoffen sie, das grosse Geld zu machen. Auch viele Glücksritter. Für 501 Millionen Dollar wurden letztes Jahr auf den vier grössten Metaverse-Plattformen digitale Landrechte verkauft. Diesen Januar waren es schon 85 Millionen, für das ganze Jahr rechnet der Marktforscher MetaMetric Solutions mit fast einer Milliarde Dollar. Die Parzellenpreise hängen von den gleichen Faktoren ab wie im realen Leben: Grösse, Lage, Aussicht, Nachbarn. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass echtes Land limitiert ist, das Metaverse aber nicht – und dass beliebig viele Metaversen erschaffen werden können, von denen man nicht weiss, welche davon in ein paar Jahren noch eine Rolle spielen.
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Dennoch explodieren die Preise. Für manche Parzellen auf Decentraland, die 2017 für 20 Dollar den Besitzer wechselten, werden nun 100'000 Dollar aufgerufen. Auch Daniel Diemers hat mit seiner Technologieberatungsfirma SNGLR Group auf Decentraland, Sandbox und Cryptovoxels Land gekauft. «Wir sind strategisch in der Phase, die Claims abzustecken», sagt der Zuger Blockchain-Experte.
Es steckt sehr viel heisse Luft hinter dieser virtuellen Landnahme. Der Rapper Snoop Dogg hat auf Sandbox seine eigene kleine Welt eingerichtet, das Snoopverse. Im November lud er dort – für schlappe 4000 Dollar pro Ticket – zu einer VIP-Party in die Simulation seiner Villa ein, wo Gäste seine Kryptokunstsammlung bestaunen konnten. Das schuf so viel Aufmerksamkeit, dass er ein anderes virtuelles Haus auf seiner Parzelle weiterverkaufen konnte. Der Preis: 450'000 Dollar.
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«Für ein digitales Nichts bekommt er fast eine halbe Million», ätzte der «Spiegel». Fabian Schär, Professor für Finanztechnologie an der Universität Basel, sagt: «Wir sind in einem extremen Hype.» Er warnt vor Totalverlust: «Das Risiko ist enorm, dessen muss man sich bewusst sein.» Sein Kollege Edward Castronova von der Indiana University bezeichnet die Landverkäufe gar als Schneeballsystem.
Befeuert wird der Goldrausch von jenen Firmen, die aufgeregt erste Niederlassungen im Metaverse eröffnen. Modelabels wie Gucci, Prada und Ralph Lauren haben ihre eigenen virtuellen Boutiquen gebaut, Nike gleich ganze Sportstätten nach dem Vorbild des realen Firmensitzes. Walmart will Shoppingmalls lancieren: Was man sich in den virtuellen Einkaufswagen legt, liefert wenig später der Kurier nach Hause.
TOUR OHNE HALLEN Millionen Fans – bzw. deren Avatare – waren mit dabei, als letzten Sommer Ariana Grande Konzerte auf Fortnite gab. Während dreier Tage stand die Grammy-Gewinnerin fünfmal auf der virtuellen Bühne.
PDPIXEL STATT PRODUKTIONSSTRASSEN Digitale Zwillinge wie hier die Metaverse-Kopie eines BMW-Werks sparen der Industrie bei der Planung von Produktionsänderungen viel Geld.
BMWALWAYS IN FASHION Balenciaga hat eine virtuelle Bekleidungslinie für Fortnite lanciert: Schliesslich will auch der Avatar gut gekleidet sein.
Fortnite × Balenciaga / Epic GamesMODERNE KUNST Das Auktionshaus Sotheby’s versteigert NFT-Kunst in seiner Filiale auf Decentraland.
Sotheby’s via InstagramGUTES GESCHÄFT Der Rapper Snoop Dogg hat auf Decentraland das Snoopverse eingerichtet mit dem Nachbau seiner Villa. Eine virtuelle Nachbar parzelle konnte er für 450 000 Dollar verkaufen.
Snoop Dogg Snoopverse / The SandboxPARIS BEI TAG UND NACHT Paris Hilton hat auf Roblox die Paris World eröffnet, inklusive Nachbau ihres Anwesens in Beverly Hills. Bisweilen tritt sie auch als DJ auf.
Paris Hilton on Roblox, Courtesy of Paris Hilton / DASHSPORTSWELT In Nikeland auf Roblox kann man seinen Avatar mit Sneakers und Klamotten ausstatten und in verschiedenen Sportdisziplinen gegen andere Spieler antreten.
Nikeland on Roblox / Nike IncWerbung
Wer sich für digitale Kunst, basierend auf NFTs (Non-Fungible Tokens), interessiert, kann sie in der Decentraland-Filiale des Auktionshauses Sotheby’s ersteigern. Und das Aussenministerium von Barbados will dieser Tage in Decentraland gar eine Botschaft eröffnen. «Es geht den grossen Firmen darum, Flagge zu zeigen. Im Boardroom ist die Metaverse-Strategie ebenfalls ein gutes Thema», sagt Diemers.
Gerade Mode- und Luxuslabels wittern einen neuen Milliardenmarkt. Denn wer im realen Leben Wert legt auf cooles Outfit und Statussymbole, der will auch seinen Avatar im Metaverse hübsch aufbrezeln. Tommy Hilfiger etwa hat eine digitale Modelinie für Roblox-Avatare lanciert, Balenciaga eine für Fortnite. Auch für virtuelle Sneaker der Kultmarke Vans sind die User bereit, gutes Geld hinzulegen.
Da kann Nike nicht hintanstehen: Kürzlich hat der Konzern den virtuellen Schuhmacher RTFKT Studios (spricht sich «Artefakt») übernommen, der letzten Februar in sieben Minuten 600 virtuelle Paar Turnschuhe verkaufen konnte: Im Preis von über 5000 Dollar ist auch das Anrecht auf ein physisches Paar enthalten. Morgan Stanley erwartet, dass allein Luxusmarken im Jahr 2030 einen Zusatzumsatz von 60 Milliarden Dollar im Metaverse machen könnten. Die Profite würden dadurch um 25 Prozent wachsen, so die Vorhersage.
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Positiver Nebeneffekt: Im Paralleluniversum können die Designer ihre Entwürfe ohne Produktionskosten lancieren. In die realen Boutiquen kommt dann nur noch, was sich zuvor virtuell gut verkauft hat. Gar von neuen Berufen ist die Rede, mit denen man reales Geld verdienen kann, virtuelle Hausmeister etwa, Metaverse-Stylisten, Immobilienmakler oder Reiseführer.
Klar, dass das Metaverse auch als Werbebühne lockt. Als im Oktober in Decentraland die DJs Paris Hilton, Flume, Deadmau5 und rund 80 andere Künstler auftraten, sollen die Sponsoren wie «Playboy» oder Heineken siebenstellige Beträge für ihre Werbeplakate bezahlt haben. «In ein paar Jahren wird sich eine Marketingkampagne nicht nur in der physischen Welt bewegen, sondern auch in der virtuellen», sagt Tom Hanan, Gründer der schweizweit grössten Digitalagentur Webrepublic. Der digitale Showroom mit dem neusten Sportwagenmodell als Ergänzung zur klassischen Probefahrt etwa.
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Schweizer Firmen sind aber noch nicht so weit. «Die Kunden sind interessiert und stellen Fragen, aber bis jetzt geben die wenigsten Geld im Metaverse aus», so Hanan. Der Grund? «Heute sind die nötigen Investitionen noch sehr gross für eine sehr überschaubare Zielgruppe.»
Vielversprechender sind da schon B2B-Anwendungen. Nvidia etwa arbeitet an digitalen Zwillingen von Maschinen und Fabriken. Für BMW hat der Chipfabrikant eine exakte virtuelle Kopie eines Werks erstellt, um Änderungen an der Produktion simulieren zu können, bevor sie umgesetzt werden. «Omniverse» nennt CEO Jensen Huang diese digitalen Pendants, und er spricht von Kosteneinsparungen in der Höhe von 30 Prozent. Der Bierkonzern InBev wiederum kooperiert mit Microsoft, um mittels virtueller Zwillinge die Fermentation in 200 ihrer Brauereien zu optimieren.
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Für den Konsumenten hingegen stellen sich auf dem Weg ins Metaverse noch einige Hürden. Zum einen verfügen nur wenige über VR-Brillen, die für das Eintauchen in die Virtualität unabdingbar sind. Weltweit sind erst ein paar Millionen dieser Headsets im Umlauf – im Vergleich zu 6,4 Milliarden Smartphones. Klar, man kann das Metaverse auch mit einem Billig-Handy besuchen. Nur ist es dann so begeisternd wie eine Symphonie auf der Smartwatch statt im Konzertsaal.
«Es gibt erst wenige Hersteller. Entsprechend klein ist die Auswahl an relevanten Produkten», beschreibt VR-Spezialistin Tosca Testorelli von Digitec Galaxus das Problem. Immerhin konnte sie in den letzten Jahren durchwegs ein Umsatzwachstum von 20 Prozent verzeichnen: «Die Pandemie hat den Trend noch mal verstärkt.»
Zum anderen ist da das Problem der Reisekrankheit: Rund einem Drittel der User wird speiübel unter der Brille, weil die computergenerierten Grafiken der Kopfbewegung immer einen Sekundenbruchteil hinterherhinken. Ganz abgesehen davon, dass die Geräte unbequem auf der Nase zu tragen sind (das meistverkaufte Modell Oculus Quest 2 wiegt ein halbes Kilo) und man wegen der Abwärme der Elektronik schnell zu schwitzen beginnt. Der Tastsinn wird im Metaverse noch gar nicht bedient.
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Und was bisher möglich ist, ist kompliziert: Für das Interview mit Rasmus Dahl war ein knapp einstündiger Probelauf nötig. Klar, das sind alles Probleme, die der technische Fortschritt eines Tages lösen wird. Aber eben: eines Tages.
Auch auf die IT-Infrastruktur kommen völlig neue Herausforderungen zu. Hochauflösende 3-D-Grafik, Raumklang, Protokolle auf der Blockchain: Das Metaverse wird rund 1000-mal mehr Rechenpower benötigen als heutige Webapplikationen, hat der Chipproduzent Intel errechnet. Auch wenn ein Teil davon durch Spezialchips erbracht werden kann, wie sie etwa Microsoft in ihre AR-Brille HoloLens einbaut: Mit den heutigen Rechenzentren ist das nicht zu stemmen.
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Auch deshalb baut Meta gerade an einem gigantischen Supercomputer. Wenn er im Sommer in Betrieb geht, soll er fünf Trillionen Rechenoperationen pro Sekunde schaffen, mehr als heute die 500 grössten Rechner der Welt zusammen. Andere Metaverse-Bauer dürften folgen. Was das in Sachen Energiebedarf und CO2-Ausstoss bedeutet, steht auf einem anderen Blatt. An der Software hapert es ebenso: Für ein halbwegs realistisches Erlebnis muss auch die KI noch um Dimensionen besser werden, um beispielsweise Fehler in der Simulation automatisch zu beheben.
Der entscheidende Faktor freilich wird ein anderer sein: der Mensch. Will man tatsächlich Stunden und Tage in einem pastellfarbenen Paralleluniversum verbringen, umgeben von unzähligen, ständig zuckenden Avataren, aber abgekapselt vom wirklichen Leben? Gerade nach jahrelanger Pandemie, während deren man der echten sozialen Kontaktmöglichkeiten beraubt wurde und zu stunden-langen Onlinesessions gezwungen war? Und die Analysten von Morgan Stanley stellen die berechtigte Frage, «welches Problem das Metaverse für Hunderte Millionen Menschen eigentlich lösen soll». Denn shoppen, Konzerte streamen, Leute treffen oder gemeinsam an Projekten arbeiten kann man ja auch heute schon im Internet.
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Tesla- und SpaceX-Chef Elon Musk, sonst ja nie um kühne Visionen verlegen, sieht schlicht «keine zwingende Metaverse-Situation» und demzufolge auch keine Existenzberechtigung: Er wolle zwar nicht klingen wie einer «der Typen, die in den neunziger Jahren das Internet abgetan haben», sagt er: «Aber das Metaverse ist mehr Marketing als Realität.»
Zumal es das Ganze ja schon einmal gegeben hat. «Second Life», so der Name des Phänomens, wurde 2003 lanciert und hatte zu Spitzenzeiten vier Jahre später rund eine Million monatliche Nutzer. Man kann virtuelles Land oder Autos kaufen, Avatare mit Adidas- oder Reebok-Schuhen einkleiden, digitale Kunstwerke herstellen, das Rotlichtviertel besuchen, mit einer Kunstwährung namens Linden Dollars (benannt nach der Herstellerfirma Linden Labs) handeln und diese auch in echtes Geld umtauschen. Zeitweilig fanden Modeschauen, Pressekonferenzen und Konzerte – etwa von Duran Duran – in der Simulation statt: eine Frühform des Metaverse, ihrer Zeit wohl voraus, aber im Kern nichts anderes. Nach kurzer Zeit war der Hype vorbei, seither fristet die Plattform ein Zombiedasein. Erst die Pandemie brachte wieder ein bisschen Leben in die grobpixeligen Landschaften.
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DÉJÀ VU In den 2000er Jahren machte Second Life Furore, eine Frühform des Metaverse: Bis zu einer Million User pro Monat vergnügten sich in den Parallelwelten. Nach kurzer Zeit war der Hype vorbei.
Second LifeDÉJÀ VU In den 2000er Jahren machte Second Life Furore, eine Frühform des Metaverse: Bis zu einer Million User pro Monat vergnügten sich in den Parallelwelten. Nach kurzer Zeit war der Hype vorbei.
Second LifeBefragt nach den Gründen für das schnelle Verglühen von Second Life, antwortet Firmengründer Philip Rosedale, er habe sich verschätzt bei der Frage, wie viel Zeit Menschen wirklich in der Parallelwelt verbringen würden. Und es habe ein zunehmendes Unbehagen gegeben, nur noch als Avatar mit anderen zu interagieren. Das sei mit den neuen Ideen vom Metaverse nicht anders.
Laut Rosedale «stellt sich immer noch die gewichtige Frage, was normale Menschen dazu bringt, sich in diese Onlineräume zu begeben». Eine befriedigende Antwort gebe es auf diese Frage nicht. Dass die Technik inzwischen deutlich weiter ist als vor knapp 20 Jahren, die Grafiken feiner aufgelöst sind und die Internetleitungen schneller, ändert an diesem Grundproblem nichts.
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Zumal inzwischen neue Fragen dazugekommen sind. Jene nach Datenschutz und Privatsphäre etwa. Heute sorgen sich bereits viele wegen der Datenspur, die sie beim Klicken auf Websites hinterlassen. Diese Spur wird noch viel dicker – und damit für Firmen attraktiver – sein, wenn man mit einer Kamera auf dem Kopf ins Metaverse eintaucht, sich dort bewegt und interagiert.
Gerade Meta hat nach ihren Datenskandalen hier ein Glaubwürdigkeitsproblem: Eine Umfrage in den USA ergab, dass 77 Prozent der User kein Metaverse wollen, das von Zuckerbergs Firma betrieben wird. «Privatsphäre und Datenschutz sind ein Schlüsselelement von allem, was wir entwickeln», sagt Dahl deshalb – was soll er auch anderes sagen?
Und der Mensch wird nicht besser, wenn er sich hinter Pseudonym und fantasievoller Kunstfigur versteckt, sondern eher schlechter, das zeigen die Erfahrungen mit Second Life ebenso wie mit Social Media. Wie aber geht man um mit Jugendschutz im Metaverse, mit Mobbing, sexueller Belästigung, Betrug? Was passiert, wenn Avatare gehackt werden? Wer setzt die Regeln, und vor allem: Wer setzt sie durch?
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Die Fragen stellen sich besonders bei Metaversen, hinter denen nicht – wie etwa bei Sandbox – eine einzelne Firma steht, sondern die – wie etwa Decentraland – von der Community entwickelt werden. Wird es ein Darkverse geben, ebenso wie es im Internet ein Darknet gibt, frequentiert vornehmlich von jenen Gestalten, die mit der Justiz ein Problem haben?
««Wir sind mindestens noch zehn Jahre vom Metaverse entfernt»»
Rasmus Dahl, Chef der Zürcher Niederlassung von Meta
Von den Grosskonzernen am ehesten zugetraut wird noch Apple, ein vertrauenswürdiges Paralleluniversum zu bauen. Der Konzern schweigt wie immer zu seinen Plänen, aber auffällig ist, dass er eigentlich alle Bauteile dazu hätte: leistungsfähige Chips für die VR-Brille, Läden, in denen man diese ausprobieren kann, mit Apple Pay ein funktionierendes Bezahlsystem, ein eigenes TV-Studio für visuelle Inhalte, Musikrechte – kurz, ein ganzes Ökosystem. Und vor allem: eine intakte Reputation, auch was den Datenschutz angeht.
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Bereits jetzt zeichnet sich ab: Es wird am Schluss nicht ein Metaverse geben, so wie es ein Internet gibt. Es wird verschiedene, jeweils für sich abgeschlossene Metaversen geben, so wie es verschiedene soziale Medien gibt – «walled garden» nennt man diese Konstellation. Wer den grössten dieser Gärten anlegen und betreiben kann, wird kommerziell am meisten profitieren, vom Landverkauf, vom E-Commerce und von der Datenauswertung.
Ob es über die Gartenmauern hinweg nicht vielleicht doch noch einen Austausch geben kann, etwa auf Blockchain-Basis, steht noch in den Sternen. Stand heute muss man jeden Avatar, jeden Gegenstand, jedes Gebäude für jedes einzelne Metaverse neu bauen.
So ist vieles beim Metaverse noch Fiktion, vieles nicht durchdacht, geschweige denn umgesetzt. «Wir sind noch ganz am Anfang und weit davon entfernt, alle Versprechungen zu erfüllen», sagt Microsoft-Mann Pollefeys. «Für Firmen ausserhalb der Tech-Industrie gibt es momentan keinen Grund zur Eile, sich dem Metaverse zuzuwenden», sagt Meta-Mann Dahl, es gebe noch nichts zu ernten: «Wir sind mindestens noch zehn Jahre entfernt.»
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Es gibt eine alte Weisheit in der Technologiebranche, die sich bei fast jeder Umwälzung bewahrheitet, sei es dem World Wide Web, Smartphones, Social Media, Künstlicher Intelligenz oder auch selbstfahrenden Autos: Die kurzfristigen Auswirkungen solcher Technologiesprünge werden in der Regel massiv überschätzt. Dafür werden die langfristigen Folgen massiv unterschätzt.
Mindestens der erste Teil dieser Wahrheit bestätigt sich beim Metaverse gerade wieder einmal.
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