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Ausblick 2024

Vorsicht vor Börsenoptimismus

Kräftig fallende Zinsen und ein Soft Landing der US-Wirtschaft? No way!

Erich Gerbl

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Happy New Year?: Thomas Jordan (l.), Jerome Powell und Christine Lagarde bestimmen die Richtung an den Börsen. 2024 pumpen sie wohl wieder mehr Geld in das System.

Symptom

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Bis 1986 war im Postal Square Building die Hauptpost von Washington, D.C., untergebracht. Nachrichten aus der Machtzentrale gingen von dort in alle Welt. Seither residiert in dem weissen Prachtbau unweit des Kapitols das U.S. Bureau of Labor Statistics (BLS). Heute werden von dort Meldungen verbreitet, die den gesamten Finanzmarkt bewegen. Am 14. November gab das BLS für Oktober einen etwas stärkeren Rückgang der Teuerung in den USA bekannt, als erwartet worden war: von 3,7 auf 3,2 Prozent. Broker, Vermögensverwalter und private Anleger atmeten auf – Ökonomen und Analysten fingen an zu rechnen. Die Stimmung an den Märkten begann zu drehen.

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«Der 14. November war ein besonders wichtiger Tag. Seither wissen wir, dass die langfristigen Zinsen sinken», sagt Frédéric Leroux, Chef des Cross-Asset-Teams von Carmignac. Für die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) sind die Verbraucherpreise gemeinsam mit dem Arbeitsmarkt die Richtschnur für die Zinspolitik – und die Zinsen bestimmen auch 2024 massgeblich, wohin die Reise an den Finanzmärkten geht. «Die Geopolitik steht im Mittelpunkt, aber für die Märkte ist entscheidend, was mit den Zinssätzen geschieht», weiss Samy Chaar, Chefökonom von Lombard Odier.

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Mit den ermutigenden Inflationsdaten wurden die Karten an den Finanzmärkten neu gemischt. Keine vier Wochen zuvor war die Rendite bei zehnjährigen US-Treasuries, dem ultimativen sicheren Hafen der Welt, erstmals seit 2007 auf mehr als fünf Prozent gestiegen. «Im Oktober hatte man noch Angst, dass die Inflation durch den harten Arbeitsmarkt nicht weggeht und die Zinsen zu niedrig sind. Ein paar Wochen später reden alle nur noch darüber, wann die erste Zinssenkung kommt», so Björn Jesch, Chefanleger bei DWS.

An den Bondmärkten floss die Aussicht auf sinkende Zinsen unmittelbar in die Kurse ein. Die Rendite der zehnjährigen US-Anleihen schrumpfte auf 4,2 Prozent. Eine Zinssenkung im März ist zum Teil, eine im Juni gänzlich eingepreist. Insgesamt gehen die Bondmärkte 2024 von vier Zinsschritten aus.

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Die neue Story am Markt

«Die Finanzmärkte werden von Narrativen beherrscht», weiss Shamik Dhar, Chefökonom von BNY Mellon Investment Management. Die neue Geschichte lautet: Die Notenbanken haben die Teuerung besiegt, und die Zinsen werden sinken. Gleichzeitig bleibt die Konjunktur weitgehend verschont. Statt der in strengen Straffungszyklen üblichen Rezession ist ein sogenanntes Soft Landing mit tiefen, womöglich gar leicht negativen Wachstumsraten möglich. Sogar ein No-Landing, also eine Fortsetzung des Wachstums, zieht der Markt in Betracht. Alles kommt gut, die Goldlöckchen lassen grüssen. Shamik Dhar gibt diesem Szenario eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent.

DC: Federal Reserve Chair Powell Press Conference Federal Reserve Chair Jerome Powell speaks to media during a press conference after a Federal Open Market Committee meeting, in Washington, D.C., on Wednesday, November 1, 2023. Graeme Sloan/Sipa USA Washington DC USA NOxUSExINxGERMANY PUBLICATIONxINxALGxARGxAUTxBRNxBRAxCANxCHIxCHNxCOLxECUxEGYxGRExINDxIRIxIRQxISRxJORxKUWxLIBxLBAxMLTxMEXxMARxOMAxPERxQATxKSAxSUIxSYRxTUNxTURxUAExUKxVENxYEMxONLY Copyright: xSipaxUSAx Editorial use only sipausa_49333732

Jerome Powell, Fed
Der Kapitän der weltgrössten Volkswirtschaft traut sich ein Soft Landing zu. Die Erfolgsquote der amerikanischen Notenbank ist bei Rezessionsprognosen jedoch bescheiden.

imago/Sipa USA
DC: Federal Reserve Chair Powell Press Conference Federal Reserve Chair Jerome Powell speaks to media during a press conference after a Federal Open Market Committee meeting, in Washington, D.C., on Wednesday, November 1, 2023. Graeme Sloan/Sipa USA Washington DC USA NOxUSExINxGERMANY PUBLICATIONxINxALGxARGxAUTxBRNxBRAxCANxCHIxCHNxCOLxECUxEGYxGRExINDxIRIxIRQxISRxJORxKUWxLIBxLBAxMLTxMEXxMARxOMAxPERxQATxKSAxSUIxSYRxTUNxTURxUAExUKxVENxYEMxONLY Copyright: xSipaxUSAx Editorial use only sipausa_49333732

Jerome Powell, Fed
Der Kapitän der weltgrössten Volkswirtschaft traut sich ein Soft Landing zu. Die Erfolgsquote der amerikanischen Notenbank ist bei Rezessionsprognosen jedoch bescheiden.

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Gelingen soll das Kunststück US-Notenbankchef Jerome Powell, dem Kapitän der weltgrössten Volkswirtschaft. Die Ausgangslage für das komplexe Manöver ist schwer. Ab März 2022 trat er mit einem Staccato an Zinsschritten mit voller Kraft auf die geldpolitische Bremse. Die Folge ist die stärkste Kontraktion der Geldmenge seit den 1930er Jahren. Die Rezession schien so sicher wie das Amen im Gebet. Von den meisten Ökonomen wurde sie für 2023 prognostiziert. Doch die US-Wirtschaft hält sich überraschend gut, und die Expertenschar wird eines Besseren belehrt.

«2023 lag ich daneben. Ob wir 2024 in den USA eine Rezession bekommen, weiss ich nicht. Es sieht nach einer leichten aus», sagt Kim Catechis, Stratege mit 35-jähriger Erfahrung beim Franklin Templeton Institute. An sich reagiere die US-Wirtschaft schnell auf die geldpolitischen Massnahmen der Fed. Doch dieses Mal scheine es anders zu sein. «Wenn das einzige Werkzeug ein Hammer ist, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Die Notenbank hat den Nagel immer stärker in die Wand geschlagen. Die amerikanische Wirtschaft wurde mehrfach von aufeinanderfolgenden Zinserhöhungen getroffen, es ist schon erstaunlich, dass sie noch nicht umgekippt ist», sagt Catechis.

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Vor allem die Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarkts wurde lange unterschätzt. Ist die Arbeitslosigkeit tief, bleibt der Optimismus erhalten, und es wird fleissig konsumiert. Auch die wiederum vom BLS für November gemeldeten 199 000 neu geschaffenen Stellen haben erneut positiv überrascht.Daniel Hartmann arbeitet seit 19 Jahren beim Vermögensverwalter Bantleon, seit 2018 als Chefökonom. Weil seine Frühindikatoren häufig richtig lagen, wurde er von Bloomberg schon mehrfach als «Top Forecaster» ausgezeichnet. Doch heute zeigen auch diese kein eindeutiges Bild. «Seit ich das mache, gab es noch nie eine so grosse Unsicherheit, wie es in den USA weitergeht.» Was Hartmann sieht, sind zwei Kräfte, die gegeneinander kämpfen. Auf der einen Seite die geldpolitische Straffung, in erster Linie sichtbar in Form der höheren Zinsen. Anderseits sind die Auswirkungen der ultraexpansiven Geld- und Fiskalpolitik noch spürbar, es ist noch viel Geld im System.

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Aktien
Solange nicht klar ist, wie stark die wirtschaftliche Schwächephase ausfällt, sollten Anleger mit einer neutralen Aktienquote und defensiver Ausrichtung auf Sicht fahren. Titel mit hohen Margen und konjunkturunabhängigeren Geschäftsmodellen dürften gefragter sein. Insgesamt sind die Gewinnschätzungen angesichts des Gegenwinds noch zu hoch. Es besteht Korrekturbedarf. Ist die Bahn frei, starten Zykliker durch.

Obligationen
Für 2024 sagen viele Experten ein gutes Anleihenjahr voraus. Jedoch sind derzeit zu viele Zinssenkungen eingepreist. Wird diese Einschätzung korrigiert, bieten sich Einstiegsmöglichkeiten. Weil die Zahlungsausfälle im Rezessionsszenerio steigen, sollte man auf den Investment-Grade-Bereich setzen. Wenn sich die Zinskurve normalisiert, ist die Performance von Obligationen am kurzen Ende zu über 85 Prozent positiv.

Cash
Der Negativzins knabbert zwar nicht mehr am Vermögen. So wirklich glücklich machen die Zinsen auf den Sparkonten aber auch nicht. Eine Reserve auf dem Sparkonto könnte für Zukäufe nach Korrekturen nützlich sein.

Es waren nicht zuletzt die Cash-Reserven der Unternehmen und die Ersparnisse der Konsumenten, welche die Konjunktur durch 2023 trugen. Zwar ist klar, dass der Liquiditätseffekt ab- und die Bremswirkung zunimmt. «Aber wann die Auswirkungen der geldpolitischen Straffung in diesem hochkomplexen System dann wirklich die Oberhand gewinnen, ist unklar», so Hartmann. Die Auswirkungen der höheren Zinsen fressen sich erst nach und nach durch das System. Unternehmen haben sich noch vor dem Zinsanstieg günstig finanziert. Die höheren Zinsen werden erst bei den Umschuldungen zum Problem. Bei Emittenten von Junk Bonds würden sich die Kosten bei einer Refinanzierung glatt verdoppeln. Laut dem mittelständischen Branchenverband National Federation of Independent Business zahlen KMUs in den USA für Kredite im Durchschnitt saftige neun Prozent.

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Auf Sicht fahren

In seinem Basisszenario hält Hartmann zumindest eine milde Rezession in den USA für wahrscheinlich. Trete diese ein, sei an den globalen Aktienmärkten mit einem Kursrücksetzer zu rechnen. Wann der Einbruch komme und wie gross er werde, sei aus heutiger Sicht jedoch schwer abzuschätzen. Es mache Sinn, die Konjunkturdaten Anfang des Jahres zu beobachten und die Aktienquoten entsprechend anzupassen. «Es bleibt einem nichts anderes übrig, als auf den Aktienmärkten auf Sicht zu fahren», sagt Hartmann.

Die meisten Experten trauen Jerome Powell das Soft Landing zu. Es besteht ein Risiko, dass sie dieses Mal zu positiv sind: «Die Wahrscheinlichkeit, dass der für 2023 befürchtete Abschwung lediglich um ein Jahr verschoben wurde, ist hoch», sagt Shamik Dhar. Auch James Ashley von Goldman Sachs Asset Management ist der Markt zu optimistisch: «Wir haben da Zweifel. Das Wachstum in den USA dürfte signifikant schwächer ausfallen. Die Zinsen beginnen zu wirken, die Ersparnisse lösen sich auf. Die Teuerung könnte klebriger sein, als der Markt hofft.»

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Starinvestor Jeremy Grantham hält die Prognosekompetenz der Fed besonders nach Übertreibungsphasen wie der Covid-Blase für sehr bescheiden. «Die haben so gut wie nie eine Rezession richtig vorhergesagt. Es ist fast garantiert, dass sie mit einer Soft-Landing-Prognose danebenliegen», sagte er zu Bloomberg. Ariel Bezalel, Bondmanager beim Vermögensverwalter Jupiter, befürchtet, dass Grantham recht hat. «Soft Landings gibt es eigentlich nicht. Sobald die Fed eine Inflation von mehr als fünf Prozent einzudämmen versuchte, gab es harte Landungen», sagt er.

Er glaubt, dass die Notenbanken zu stark auf die Bremsen gestiegen sind. Dass die Realzinsen vorübergehend bei minus acht Prozent lagen, verdeutliche das Ausmass der Bremsaktion. Die Geldmenge sei kollabiert und verringere sich aufs Jahr gerechnet um drei bis vier Prozent. Ein Wert, der zuletzt in den 1930er Jahren erreicht wurde. Die Bremswirkung tritt mit Verzögerung ein. «Die Geldpolitik hat lange Beine. Wir beginnen jetzt die Kraft der Zinsanstiege zu spüren», sagt Bezalel.

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Das Risiko ist, dass die Notenbanken zu lange auf der Bremse stehen bleiben. Für Bezalel sind Arbeitsmarkt und Inflation die am meisten verzögerten Indikatoren, die man betrachten kann. «Je länger die Notenbanken in den Rückspiegel schauen und sich mit den Zinssenkungen Zeit lassen, desto wahrscheinlicher wird eine Rezession», sagt Bezalel. Die Unsicherheit hinsichtlich der Konjunktur verschärft die Lage. Weil die Angst vor Zahlungsausfällen wächst, halten sich die Banken bei der Kreditvergabe zurück. Verzögert, aber verlässlich schlägt ein Rückgang bei der Kreditvergabe auf die Wirtschaftsleistung durch. Die in der Covid-Krise aufgebauten Ersparnisse sind mittlerweile ausgegeben. Weil der Anteil der Hypothek am Gehalt deutlich anstieg, ist die Haushaltskasse ohnehin schneller leer.

Der Einbruch bei den Immobilienpreisen im ersten Halbjahr trägt ebenfalls nicht gerade zum Wohlbefinden bei. «Die Anzeichen, dass die USA vor einer Rezession stehen, verdichten sich», sagt Marc Brütsch, Chefökonom von Swiss Life Asset Managers.

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Europa schwächelt

Schon in einer leichten Rezession befinden sich einige europäische Länder. «Die EZB muss mehr tun als die Fed. Die wirtschaftliche Lage ist in Europa akuter als in den USA», sagt Samy Chaar von Lombard Odier. Er prognostiziert, dass die EZB die geldpolitischen Zügel schneller lockerlässt. Sinkende Bauinvestitionen und schwächelnde Exporte drücken die Wachstumsraten. Deutschland, die grösste Volkswirtschaft des Kontinents, kämpft gegen heftigen Gegenwind. «Das deutsche Geschäftsmodell, billige Energie, gute Fachkräfte und ein starker Exportmarkt, bleibt stark unter Druck», heisst es bei DJE.

European Central Bank president Christine Lagarde gestures as she addresses a press conference with the President of the Greek Central Bank after the Governing Council meeting in Athens on October 26, 2023. (Photo by Aris Oikonomou / AFP)

Christine Lagarde, EZB
Im Rat der Europäischen Zentralbank hat man bisher noch überhaupt nicht über Zinssenkungen gesprochen. Dabei hängt die europäische Wirtschaft schon jetzt in den Seilen.

AFP
European Central Bank president Christine Lagarde gestures as she addresses a press conference with the President of the Greek Central Bank after the Governing Council meeting in Athens on October 26, 2023. (Photo by Aris Oikonomou / AFP)

Christine Lagarde, EZB
Im Rat der Europäischen Zentralbank hat man bisher noch überhaupt nicht über Zinssenkungen gesprochen. Dabei hängt die europäische Wirtschaft schon jetzt in den Seilen.

AFP

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Auch Schweizer KMUs leiden. «Die Industriefirmen sind von der weltweiten Konjunkturschwäche stark betroffen. Vor allem China hat enttäuscht», so Marc Brütsch. Zumindest die Energiekrise scheint vorerst gebannt. Lichtblicke liefert der private Verbrauch. Experten erhoffen sich von der Steigerung der Reallöhne Zuwächse beim Konsum. «Was den Unternehmen helfen sollte, ist eine Normalisierung der Zinsstrukturkurve», sagt Brütsch. Bisher war es so, dass die kurzfristigen Zinsen höher waren als die länger laufenden. Das hat vor allem die schwächeren Glieder der Wirtschaft getroffen, die nur auf den kurzfristigen Bereich zugreifen konnten. Einen richtigen Aufschwung in Europa kann sich Bantleon-Experte Hartmann dennoch schwer vorstellen: «Der konjunkturelle Gegenwind ist zu mannigfaltig und zu stark.»

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China hat eigene Probleme

In der Vergangenheit hat China die Weltwirtschaft mit gigantischen Infrastrukturprojekten aus der Lethargie geholt. Wie nach der Finanzkrise 2009 und 2010, als die Zentralregierung umgerechnet 586 Milliarden Dollar Stimulus in Infrastruktur und Soziales investierte. Heute würde ein solch massiver Stimulus die Krisenherde der zweitgrössten Volkswirtschaft verschärfen. Der Immobiliensektor ist nach wie vor schwach, das Verschuldungsrisiko immer noch ein Problem. «Mit einem Anteil von 20 bis 25 Prozent am BIP ist der schlingernde Immobilienbereich der Elefant im Raum», sagt Nicholas Yeo, der in Hongkong stationierte Head of China Equities bei Abrdn.

60 bis 70 Prozent des Vermögens der Chinesen stecken in ihren vier Wänden. 50 Immobilienentwickler wurden als systemrelevant definiert. Die könnten von den neuen Projekten zur Entwicklung von vernachlässigten chinesischen Stadtteilen profitieren. «Die neuen Projekte könnten in der Immobilienkrise ein Gamechanger sein», sagt Yeo. Auch in der Schuldenkrise der Lokalregierungen hat Präsident Xi Jinping im Juli den Ton geändert und Unterstützung durch die Zentralregierung zugesagt. Trotz der Verbesserungen gehören zweistellige Wachstumsraten der Vergangenheit an. Nicholas Yeo rechnet mit 4,5 bis 4,7 Prozent im Jahr.

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Selbst wenn den USA das Soft Landing gelingt, ist der Markt bezüglich der Gewinne wohl deutlich zu optimistisch. «Bisher haben die Unternehmen weitgehend das geliefert, was man von ihnen erwartete, aber 2024 kann es auch zu Enttäuschungen kommen», sagt Marc Brütsch. Die Latte liegt hoch. Für 2024 und 2025 ist ein Gewinnanstieg von zwölf Prozent eingepreist. «Für dieses schwierige Umfeld ist das zu viel.

Bei dem Gegenwind werden es wohl eher sechs Prozent. Das wird noch korrigiert», so Samy Chaar. So eine Korrektur der Erwartungen könnte mit der Earning Season für das vierte Quartal oder mit den Ergebnissen für das Erstquartal einsetzen. Gehen die Gewinnschätzungen zurück, wird das die Kurse drücken. «Das nächste Jahr wird volatil. Anleger können die Korrekturen zum Einstieg nutzen», sagt Chaar. Das gilt zumindest für all jene, die durch eine Schwächephase hindurchsehen. Auch Shamik Dhar von BNY Mellon Investment Management ist für die Aktienmärkte «kurzfristig skeptisch, nach einem Repricing wieder optimistisch».

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Gold
Sichere Häfen dürften 2024 gefragt bleiben. Bereits 2023 profitierte Gold von der Aussicht auf sinkende Zinsen. Je tiefer der Zins, desto geringer die Opportunitätskosten, desto besser für Gold. Rückenwind gibt die Abschwächung des Dollars. Auch die Teuerung trug ihren Teil bei. Sinken die Zinsen weniger als erhofft, kommt für Gold wieder Gegenwind auf.

Kryptos
Die Aussicht auf einen in den USA zugelassenen Bitcoin-ETF machte die führende Kryptowährung zu einer der besten Anlagen des Jahres. 2024 soll das Halving ein Treiber sein: Im April wird die Belohnung für die Miner halbiert. In der Vergangenheit führte das zu neuen Hochständen. Vorsicht ist angebracht, sobald die Euphorie wieder zu gross wird.

Der US-Markt gilt mit seinen vielen Technologieaktien als zinssensitiv. In Bereichen wie Medtech oder Biotech und ihren sehr langfristigen Innovationen spielen Zinsen eine zentrale Rolle. Zukünftige Gewinne werden mit dem aktuellen Zins abdiskontiert. Je niedriger der Zins, desto mehr sind die zukünftigen Gewinne in der Gegenwart wert.

Enger Bullenmarkt

Auf den ersten Blick sind die US-Aktien teuer. Die Shiller PE Ratio für den S&P 500 liegt mit 30 deutlich über dem Durchschnitt. «Der breite US-Markt ist aber vernünftig bewertet», weiss James Ashley von Goldman Sachs Asset Mangement. Denn die gesamte positive Indexperformance des S&P 500 im Jahr 2023 entfällt auf die potenziellen Profiteure der künstlichen Intelligenz. Mittlerweile macht der Marktwert der «Magnificent Seven», darunter Amazon, Microsoft und Nvidia, ein Viertel des gesamten S&P 500 aus. «Wir hatten einen sehr engen Bullenmarkt, nun holt der schwächere Teil der Aktien auf», sagt Frédéric Leroux von Carmignac. Der Russell 2000 Index wäre in diesem Szenario «the place to be».

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«Die Wirtschaftsaussichten in den USA sind weniger trüb, Europa ist attraktiver bewertet – die beiden Regionen halten sich die Waage», sagt LFDE-CIO Olivier de Berranger. Die industrielastige europäische Wirtschaft gilt weniger als zins-denn als konjunktursensitiv. Björn Jesch von DWS findet im Erholungsszenario europäische KMUs interessant. Auch wenn sich Europa von der wirtschaftlichen Schwäche nicht entkoppeln kann, sei der Bewertungsunterschied zu den USA «erheblich».

Der Schweizer Markt entwickelte sich zum Leidwesen der einheimischen Investoren 2023 vergleichsweise schwach. Vor allem die Schwergewichte Nestlé und Roche hielten den Markt zurück. Laut Thomas Rühl, CIO der Schwyzer Kantonalbank (SZKB), sind die Aussichten für die Schweizer Börse in einem Soft-Landing-Szenario eher schwach: «Ich sehe den Schweizer Markt vor allem als Absicherung.» Rechnen würde sich diese im Falle einer Rezession. Dann wäre der defensive Markt mit seinem Übergewicht in Pharma und Konsum und Versicherungen als Hafen gefragt.

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Thomas Jordan, president of the Swiss National Bank (SNB), during a public panel discussion at the University of Zurich in Zurich, Switzerland, on Thursday, Nov. 2, 2023. The Swiss National Bank will launch the pilot phase of its planned digital wholesale franc in December. Photographer: Arnd Wiegmann/Bloomberg

Thomas Jordan, SNB
Die Schweizer Notenbank hat die Teuerung und den Franken im Griff. Das Potenzial für Zinssenkungen ist jedoch gering. Der Schweizer Markt ist eine Absicherung gegen die Rezession.

Bloomberg
Thomas Jordan, president of the Swiss National Bank (SNB), during a public panel discussion at the University of Zurich in Zurich, Switzerland, on Thursday, Nov. 2, 2023. The Swiss National Bank will launch the pilot phase of its planned digital wholesale franc in December. Photographer: Arnd Wiegmann/Bloomberg

Thomas Jordan, SNB
Die Schweizer Notenbank hat die Teuerung und den Franken im Griff. Das Potenzial für Zinssenkungen ist jedoch gering. Der Schweizer Markt ist eine Absicherung gegen die Rezession.

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Die Schwankungen an den Aktienmärkten werden im neuen Jahr durch Wahlen verstärkt. «2024 wird ein äusserst politisches Jahr. Die Hälfte der Weltbevölkerung wird an die Wahlurnen gerufen, ein noch nie da gewesenes Ereignis in der Geschichte», sagt de Berranger. Länder wie Indien, Grossbritannien oder die USA sind darunter. Durch die Teuerung sind Protestwahlen häufig. Wie sich an Argentinien zeigte, kommen zunehmend Extremisten an die Macht, was die Unsicherheit verstärkt. Weltpolitisch brisant ist der Urnengang in Taiwan. Im Fokus dürfte die Wahl des künftigen US-Präsidenten stehen. Eine Rückkehr von Donald Trump würde die ohnehin schon grossen geopolitischen Spannungen zusätzlich verstärken.

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Für Stabilität im Depot sorgen traditionell Obligationen. Die sind seit der Zinswende wieder eine Option. «2024 wird ein Obligationenjahr. Wenn Zinsen und Zinserwartungen sinken, profitieren Obligationen», so Thomas Rühl. Kurzfristig sind jedoch zu viele Zinssenkungen eingepreist.

Auch hier könnten sich wie für Aktien Einstiegsgelegenheiten ergeben. Wie sich an kürzer laufenden Obligationen ablesen lässt, geht der Markt für die USA von viereinhalb Zinsschritten aus. Starten soll der Reigen bereits im Mai. «Die Notenbanken müssen die Zinsen an die wirtschaftliche Realität anpassen. Aber wenn wir keine deutliche Schwächephase verzeichnen, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Fed die Zinsen 2024 vier bis fünf Mal senkt», sagt Samy Chaar. So schnell und stark gingen die Zinsen nach unten, wenn die Wirtschaft in eine Rezession fallen und die Fed in den Rettungsmodus umschwenken würde. An den Aktienbörsen ist ein Soft-Landing-Szenario eingepreist, bei Anleihen eine Rezession. Es wird sich zeigen, wer recht behält.

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«An den Finanzmärkten geht es immer darum, recht zu haben. Aber egal, wie viel man weiss und wie sehr man sich auch bemüht, man kann nicht wissen, was die Zukunft bringt. Ich fokussiere mich auf Anlagen, die einen guten Return bringen, ohne dass ich recht haben muss», sagt Tatjana Greil Castro. Für Muzinich & Co managt sie 13 Milliarden Dollar in Bonds. Die Grundversorgung liefere der sogenannte Carry. Bei fallenden Zinsen steige der Kurs. Tun sie das nicht, bleibe der durchschnittliche Coupon höher. Bei den kurzfristigen Strategien aus ihrem Haus liege der in US-Dollar bei rund sieben Prozent.

Starten die Notenbanken mit Zinssenkungen, bedeutet das keine Rückkehr in den ultratiefen oder gar negativen Bereich. Samy Chaar von Lombard Odier rechnet mit einer Anpassung vom restriktiven auf den neutralen Bereich. Wo der neutrale Zinssatz, der die Konjunktur weder belaste noch anheize, genau liege, werde sich zeigen. «Den neutralen Zins herauszufinden, ist eine delikate Wissenschaft», so Chaar. Selbst wenn die grosse Krise ausbleibt, können die Notenbanken die Zinsen wieder auf ein neutrales Niveau senken. Laut Bantleon-Experte Hartmann liege dieses in den USA bei etwa 3,5, in der Eurozone bei rund 3 Prozent. Sollte es zu einer US-Rezession kommen, sind laut Hartmann aber stärkere Zinssenkungen, hinunter auf ein Niveau von 1,5 bis 2 Prozent, wahrscheinlich.

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Der Spielraum für Zinsenkungen in der Schweiz ist beschränkt. SNB-Chef Thomas Jordan dürfte es ruhig angehen. «Wir erwarten den ersten Zinsschritt von 25 Basispunkten im Sommer und einen weiteren in der zweiten Jahreshälfte», sagt SZKB-CIO Rühl.

Angst vor zweiter Welle

Ein Risiko ist, dass die Notenbanken die Zinsen deutlich langsamer nach unten schrauben, als der Markt sich das erhofft. Die Inflation von drei auf die gewünschten zwei Prozent einzubremsen, gilt als deutlich schwieriger als eine Reduzierung von zehn auf drei Prozent. Nicht zuletzt da sich viele Arbeitnehmer über erfolgreiche Tarifverhandlungen freuen. Genau solche Zweitrundeneffekte dürften bei den Notenbankern die Horrorszenarien der frühen 1980er in Erinnerung rufen. Damals liess Fed-Chef Arthur Burns die geldpolitischen Zügel nach einem Inflationsschub in den 1970ern zu schnell locker. Eine zweite Inflationswelle baute sich auf. Die war mit Inflationsraten von 12,5 Prozent noch viel grösser als die erste. Nur eine Vollbremsung der Konjunktur mit einer Erhöhung der Zinsen auf 19 Prozent 1981 brachte die Teuerung wieder unter Kontrolle. Burns gilt als schlechtester Fed-Chef aller Zeiten. Ein Superlativ, den Jerome Powell mit Sicherheit nicht anstrebt.

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Über die Autoren
Erich Gerbl

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