Guten Tag,
Christian Wenger über den analogen Mindset der Schweiz, die Folgen des Tech-Crashs und einen Bundesrat für Digitales.
Marc Kowalsky
Christian Wenger: «Wenn man in der Vergangenheit systematisch in jedes ETH-Spin-off investiert hätte, hätte man sein Geld 3,2fach zurückbekommen. Aber Pensionskassen nehmen lieber eine Immobilienrente von einem mickrigen Prozent!»
Gian Marco Castelberg für Digital ShapersWerbung
Ukraine-Krieg, Corona-Folgen, Fachkräftemangel, Lieferkettenprobleme, Inflation, Crash der Tech-Aktien: Sie sind seit 1996 in der Start-up-Szene engagiert – waren die Bedingungen für Schweizer Technologie-Start-ups jemals so schwierig wie jetzt?
Ja, sicher! Die Rahmenbedingungen waren schon viel schwieriger. Die genannten Probleme führen dazu, dass die Leute heute vorsichtiger geworden sind. Deshalb wurde die Finanzierung schwieriger, und die bestimmt das spätere Wachstum. Aber das hatten wir bei Ausbruch der Pandemie auch – für drei Monate. Der Einbruch der Tech-Aktien ist erfolgt, weil die Bewertungen zuvor sehr hoch waren. Aber die werden sich wieder erholen. Alles zusammen ist ein etwas anstrengender Cocktail, aber das werden wir überwinden. Das sind kurzfristige Themen. Nein, unsere Probleme liegen woanders – sie sind hausgemacht.
Ohne ihn wäre die Schweizer Start-up-Szene nicht, was sie ist: In den letzten 26 Jahren hat Christian «Chrigel» Wenger (58) über 300 Finanzierungsrunden betreut, ungezählten Jungfirmen beim Markteintritt in die USA unterstützt und Dutzenden Start-ups als VR geholfen. 2019 wurde er zum «Business Angel of the Year» ernannt. Vor allem aber war und ist er treibende Kraft hinter zahlreichen Institutionen der Schweizer Start-up-Szene. So als Gründer von Innosuisse, Startup Invest, den Startup Days, der Swiss Entrepreneurs Foundation und dem Inkubator Bluelion. Beim Swiss Entrepreneurs Fund sitzt er im Stiftungsrat. Und das alles nebenher: Hauptberuflich ist Wenger Partner bei der Anwaltskanzlei Wenger Vieli.
Und die wären?
Wir sonnen uns im Gefühl, Innovationsweltmeister zu sein. Wir haben tatsächlich wahnsinnig viele Patente von den Hochschulen. Wir sind aber nicht wirklich stark darin, sie zu kommerzialisieren. Da hat die Schweiz noch grosses Potenzial. Auch der Technologietransfer muss noch professionalisiert und effizienter werden. Der heikelste Punkt aber ist der Ausschluss der Schweiz aus dem Forschungsprogramm «Horizon Europe». Das unterschätzen viele völlig. Denn die Schweiz verliert wissenschaftlich den Anschluss. Wir werden in viele grosse, multinationale Forschungsprojekte nicht mehr integriert. Das führt dazu, dass die besten Forscher aus der Schweiz abwandern werden. Nicht von heute auf morgen. Aber man kann das vergleichen mit Termiten, die am Fundament fressen. Man sieht es nicht, es tut niemandem weh, und in 15 Jahren kracht plötzlich die Hütte zusammen. Das ist brandgefährlich! In der Politik denkt man, man könne das mit Geld kurieren – aber das ist nicht der Fall.
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Der Bundesrat will den Ausschluss kompensieren durch bilaterale Forschungsabkommen mit Grossbritannien oder Japan. Kann das ein Ersatz sein?
Wir sind mitten in Europa, wir haben wissenschaftlich mit Abstand am meisten zu tun mit europäischen Universitäten. Also müssen wir eine Lösung finden mit Europa – und nicht nur für «Horizon». Das ist ein Geben und Nehmen, da kann man nicht nur fordern. Der bilaterale Weg ist an sich super, aber er ist vermutlich jetzt an seine Grenzen gekommen. Dass der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der EU abschiesst, ohne einen Plan B zu haben, ist unsäglich.
«Unsere Probleme sind hausgemacht»: Christian Wenger.
Gian Marco Castelberg für Digital Shapers«Unsere Probleme sind hausgemacht»: Christian Wenger.
Gian Marco Castelberg für Digital ShapersGlaubt man verschiedenen Untersuchungen, hat die Schweiz ein Problem mit dem Mindset, wenn es um Digitalisierung geht. Sind wir alle Analog-Fans?
Das kommt drauf an, wen man fragt. In der Start-up-Kultur haben wir grosse Fortschritte gemacht. Als ich vor einem Vierteljahrhundert mit dem Thema angefangen habe, wurde ich belächelt, niemand hat mich ernst genommen. Heute ist es an den Universitäten ein grosses Thema, ein eigenes Start-up zu gründen. Die Grosskonzerne tun sich noch etwas schwer mit Startups und deren Kultur, aber immerhin befassen sie sich damit. Das Hauptproblem liegt beim Staat, bei der Verwaltung. Wir müssen digitaler werden in der Administration, in den Prozessen. Man muss eine Firma innerhalb eines Tages gründen können, das geht bei uns noch viel zu lang. Und warum muss man dazu heute noch physische Dokumente erstellen? Das könnte man doch alles online machen. Aber Verwaltung und Administration sind einfach nicht bereit, mal einen Quantensprung zu machen und die Schweiz auf Vordermann zu bringen. Uns bremst der Föderalismus. Die nordischen Länder sind da viel weiter als wir. Da verspielen wir unsere Zukunft, das ist sehr gefährlich! Und diese Geisteshaltung zieht sich durch bis ganz oben: Es fehlt der politische Wille, wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen.
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Nanu, die Schweiz gilt doch eigentlich als kompetitiv?
Wir könnten die gesamte europäische Private-Equity- und Venture-Capital-Industrie in der Schweiz haben. Aber nein, die sind alle in Luxemburg, auch die Schweizer Player. Denn Luxemburg hat ein viel dynamischeres und agileres Rechtssystem. Wir hingegen haben überall unsere Eigenheiten, Stichwort Swiss Finish – mit dem Effekt, dass sich die Produkte nicht durchsetzen. Da kommen nur Totgeburten raus, siehe Swiss Limited Partnership. Auch die Verrechnungssteuer gehört abgeschafft. Das ist eine ganz unsägliche Steuer, die sehr viel Innovation behindert. Wir müssen uns anstrengen! Wir müssen Gas geben!
Braucht es einen Digitalminister oder ein digitales Departement im Bundesrat?
Ja. Und der muss auch ein Budget haben. Damit wir wegkommen vom Silodenken in den Departementen, damit wir Grossprojekte in der Verwaltung umsetzen können, siehe E-ID, elektronisches Patientendossier etc. Das waren auch nur Totgeburten.
«Da kommen nur Totgeburten raus!»: Wengers Kritik am Swiss Finish und an staatlichen IT-Grossprojekten.
Gian Marco Castelberg für Digital Shapers«Da kommen nur Totgeburten raus!»: Wengers Kritik am Swiss Finish und an staatlichen IT-Grossprojekten.
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Im ersten Halbjahr 2022 wurden 3,5 Prozent weniger Jungfirmen gegründet als letztes Jahr, und das war ein Corona-Jahr. Ist das die typische Schweizer Angst vor dem Scheitern?
Ja, das Stigma besteht immer noch: Die Freude am Scheitern hält sich in Grenzen. Man hat dann einen Flecken …
… anders als in den USA.
Definitiv. Und der Schweizer ist halt vom Charakter her ein sehr präziser Mensch. Der will erst mal die Technologie perfektionieren, bevor er sie am Markt ausprobiert. Zudem ist der Heimmarkt klein. Eigentlich müsste man ja sofort die grossen Märkte erobern. Diese Leute gibts, On ist schnell in die USA gegangen, die Drohnenfirma Auterion oder Aktiia mit ihren Blutdruckmessern.
Im IT-Sektor waren im zweiten Quartal dieses Jahres über 11 600 Stellen ausgeschrieben. Bis ins Jahr 2030 werden in der Schweiz 80 000 Ingenieure im digitalen Bereich fehlen. Wie kann man diese Lücke füllen?
Man muss die Ausbildung ausbauen, das Angebot an den Hochschulen. Aber die strategische Ausbildungsplanung leidet unter dem Föderalismus – jeder Kanton und jede Hochschule schaut für sich selber. Es gibt kaum mehr gesamtheitliche Planung. Deshalb kommt man langfristig um ein Outsourcing und ein Offshoring der IT nicht herum.
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Wie bekommt man mehr Frauen in IT-Berufe?
Ich war als liberaler Mensch lange ein strikter Quotengegner, auch wegen der Reverse Discrimination. Aber inzwischen sage ich: Es braucht Quoten, sonst kann man die Strukturen nicht aufbrechen.
Wie soll das etwa beim Informatikstudium gehen?
Indem man etwa 50 Prozent Professorinnen vorschreibt und 50 Prozent Assistentinnen. Die ETH ist eine wahnsinnige Männerdomäne.
Und wo sollen die Frauen herkommen?
Das ist genau das Problem. Dann verliert die Hochschule an Qualität, denn es gibt – noch – nicht genug qualitativ hochstehende Frauen in diesem Bereich. Deshalb muss man schon an den Mittelschulen die MINT-Themen pushen und die Mädchen dort gezielt fördern, um ihnen die Ängste zu nehmen und Perspektiven aufzuzeigen. Aber den goldenen Schlüssel habe ich auch nicht.
Die Bewertungen von Technologiefirmen sind weltweit im Sturzflug, Klarna, bis eben wertvollstes Start-up Europas, hat 85 Prozent ihres Wertes verloren, beim US-Konkurrenten Stripe sind es 30 Prozent. Was bedeutet das für die Bewertungen der Schweizer Start-ups?
85 Prozent sind signifikant, aber in der Schweiz sind wir weit weg davon. Die Schweizer Start-ups sind nicht teuer, sondern sehr vernünftig gepreist im internationalen Vergleich. Klar, die Bewertungen kommen jetzt unter Druck. Aber der Markt wird sich wieder erholen. Das sind alles interessante Opportunitäten. Denn auch die Übertreibungen werden sich wiederholen.
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Grosse internationale Player wie Tiger Global oder Insight halten sich zurück mit Investitionen im Ausland. Was bedeutet das für die Finanzierungsrunden hierzulande?
Der Markt ist in der Krise, das stimmt, das heisst, die Investoren werden vorsichtiger, warten ab. Die Finanzierungsrunden brauchen deshalb länger, und die Bewertungen kommen runter. Kapitalintensive Firmen wie Hardwarehersteller leiden besonders – wir haben es bei Ava gesehen, die nun den Verkauf gesucht hat. Das Medtech-Start-up Xeltis schaffte seine Finanzierung mit sehr viel Aufwand. Die Lage erholt sich aber erfahrungsgemäss relativ schnell, weil sich Technologie immer unabhängig von den Börsen durchsetzen wird. Der Technologie ist der Finanzmarkt egal. Entweder der Product-Market Fit ist da oder eben nicht. Und der Deal Flow hat nicht abgenommen. Es kommen neue Investoren.
Woher?
Derzeit steigen viele Chinesen ein. Ich habe das jetzt gerade bei mehreren Schweizer Start-ups gesehen.
Und die stopfen die Lücken?
Nein. Die sind sehr anspruchsvoll und anstrengend. Aber sie sind da.
Letztes Jahr wurden in der Schweiz drei Milliarden Franken an Venture Capital investiert, in Israel waren es 25 Milliarden Dollar. In Sachen Bevölkerung sind die beiden Länder annähernd gleich gross, in Sachen Wirtschaftskraft ist die Schweiz fast doppelt so stark. Was läuft da falsch?
Israel hat eine ganz andere geopolitische Lage, ist im Dauerstress und -krieg, das Land muss sich wehren gegen die Nachbarstaaten. Deshalb investiert der Staat seit Jahrzehnten ganz massiv, etwa im Megathema Cybersecurity, wo Israel absolut führend ist. Und das Land hat traditionell enge Beziehungen zu den USA, daher sind die US-Investmentbanken und -Investoren dort sehr viel präsenter als in Europa. Zudem ist das Wirtschaftssystem sehr dynamisch und unternehmerfreundlich. Die haben das gut gemacht – was können wir machen? 25 Milliarden wären wohl zu viel für die Schweiz, aber 10 Milliarden müssen wir hinbekommen. Und danach müssen wir rauf auf 15 Milliarden.
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Die Schweiz ist ein reiches Land. Warum kommt das Geld nicht ins System?
Damit beschäftige ich mich seit 25 Jahren. Die Schweiz ist traditionell ein Land der Grosskonzerne. Die Corporates haben alles gerichtet, Arbeitsplätze geschaffen, Innovationen getätigt, man hat gar keine Start-up-Industrie gebraucht. Aber die Grossunternehmen sind viel internationaler geworden, die Innovation findet nicht mehr in der Schweiz statt: Die UBS etwa hat ihr Innovationszentrum in London im Level 39. Es ist vieles nicht mehr hier, das muss man kompensieren. Und dazu braucht es eben ein Start-up-Ökosystem. Nur dann kann man auch grössere Finanzierungsrunden stemmen. Wenn man immer nur Firmen mit zwei, drei Millionen finanziert, dann muss man viel machen, um auf Touren zu kommen. Wir müssen grössere Finanzierungsrunden auf die Beine stellen, wie Climeworks mit ihren 600 Millionen oder GetYourGuide mit 484 Millionen, dann wird es langsam relevant. Und wenn ein wichtiger Teil davon aus der Schweiz finanziert wird, dann bleibt auch das Headquarter hier und das Entwicklungszentrum. Das gibt wieder Wertschöpfung.
«Derzeit steigen viele Chinesen ein. Ich habe das jetzt gerade bei mehreren Schweizer Start-ups gesehen.»
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Schweizer Pensionskassen dürften seit Anfang Jahr bis zu fünf Prozent des Anlagevermögens in Start-ups investieren, tun es aber kaum. Warum?
Die Pensionskassenverwalter sagen, es sei nicht im Interesse ihrer Kunden, Start-ups zu finanzieren, weil zu riskant. Und wenn doch, dann finanzieren sie in die grossen amerikanischen Fonds, damit die uns dann die Technologiefirmen wegkaufen. Das ist ein grosses Problem. Dabei wäre die Idee richtig, dass man einen Teil der 1000 Milliarden an Vorsorgegeldern jedes Jahr ins Schweizer Start-up-Ökosystem steckt, statt zu Mondpreisen Immobilien zu kaufen. Jetzt muss man die Verantwortlichen ausbilden in Venture Capital, das ist ein Prozess, da muss man Aufklärungsarbeit leisten. Denn mit Schweizer Venture-Investments verdient man gutes Geld: Wenn man systematisch in jedes ETH-Spin-off investiert hätte, hätte man sein Geld 3,2fach zurückbekommen. Aber die nehmen lieber eine Immobilienrente von einem mickrigen Prozent!
Was kann man tun, dass sich das ändert?
Der Markt wird es nicht richten. Es braucht jetzt Guidance vom Staat. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.
Also sollen staatliche Pensionskassen investieren?
Der Staatsfonds, den Wirtschaftsminister Guy Parmelin soeben lanciert hat, könnte eine Antwort sein. Wie der genau aussehen soll, ist noch nicht klar, aber immerhin ist ein Richtungsentscheid getroffen. Bis die Details geregelt sind, geht es sicher fünf Jahre. Wie vorher schon gesagt: Die Gesetzgebungsprozesse sind hierzulande viel zu träge.
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Aber die anvisierte Grössenordnung von einer Milliarde Franken macht den Kohl auch nicht fett.
Aber die Milliarde braucht es. Sie ist ein Anfang, und sie generiert Public Awareness. Der Staatsfonds ist der Leitstern, später ziehen die privaten Investoren nach. Auch das Silicon Valley ist anfangs ausschliesslich mit staatlichen Geldern hochgefahren worden, das Ökosystem in Israel ebenfalls. Und das private Geld muss dann, wenn möglich, von Schweizer Investoren kommen, nicht aus dem Ausland.
Wieso das? Geld ist Geld.
Ein Schweizer Investor kümmert sich wirklich um seine Firma. Er kämpft für das System und das Land, hat Passion, sorgt dafür, dass der Hauptsitz und das Entwicklungszentrum hier bleiben und nicht nach Berlin oder New York ziehen. Ich habe mit vielen ausländischen Investoren gearbeitet, sei es aus den USA, Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, den Niederlanden, you name them: Die haben keine Emotionen. Da blinken nur die Euro- oder Dollarzeichen in den Augen. Das wird unterschätzt.
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